oder La marge et la manoeuvre (([A.d.Ü.: Der Untertitel bleibt hier unübersetzt, da er auf die Wendung marge de manoeuvre in einem späteren Zitat Jacques Chiracs verweist. Dieser Bezug ginge in einer Übersetzung verloren; zudem könnte sie, als Untertitel an herausgehobener Position, der Polysemie beider Substantive nicht Rechnung tragen: der Rand / das Zeit- oder Raum-Intervall / Marge im Sinne der Gewinnspanne und das Manöver (militärisch, beim Segeln oder als listige – auch manipulative – Operation, um ein Ziel zu erreichen). Leider musste der Text massiv gekürzt werden.] )) Von Pierre Lantz. Erschienen in DISS-Journal 11 (2003) (= Gemeinsames Sonderheft des DISS-Journals und der kultuRRevolution zum Irak-Krieg)
Fall der Berliner Mauer 1989 und zwei Jahre später Zusammenbruch der Sowjetunion: mit dem Triumph der USA schien die Geschichte an ihr Ende gekommen zu sein. […] Wie sollte Frankreich in dieser neuen Weltlage seinen ständigen Sitz im Sicherheitsrat legitimieren, der das Land trotz der Niederlage von 1940 in den Rang der Sieger des Zweiten Weltkriegs erhob? Nach dem Fall der UdSSR gab es keinen Bedarf mehr für ein zusätzliches Gewicht, das die Waage zugunsten der USA ausschlagen ließ.
Das frühere Gleichgewicht des Schreckens gehorchte einer anderen Logik. Es eröffnete der französischen Diplomatie einen Raum: als Mitglied des Nord-Atlantik-Paktes verstärkte Frankreich die »freie Welt«, doch Frankreich konnte auch mit der Nichtübereinstimmung zwischen seinem wirklichen Gewicht und seinem Status in der UNO spielen. Frankreich wog nicht allzu viel! Sonst hätte es überhaupt kein Gleichgewicht mehr gegeben. Aber diese Schwäche war auch ein Vorteil. Die französische Diplomatie konnte sich bei Gelegenheit nach Osten wenden, die französische Regierung auf Distanz zu ihren Verbündeten gehen.
Nachdem die algerische Hypothek mit der Übereinkunft von Evian (1962) beglichen war, bemühte sich die gaullistische Politik, ihren Handlungsspielraum auszuweiten, indem sie ihre Position nahe dem Gravitationszentrum der weltweiten Machtbeziehungen ausspielte, um sie in das Zentrum des Einflusses in der Dritten Welt zu verwandeln. So konnte sie die alten Mechanismen der Korruption einsetzen und sich gleichzeitig als Vorkämpfer der Freiheit der Völker gegen die Unterdrückung durch die UdSSR und den US-Imperialismus aufspielen (Rede von Phnom-Penh 1966). Das gaullistische und postgaullistische Frankreich berief sich auf die Geschichte und appellierte an die Souveränität des Nationalstaats als Garanten der nationalen Unabhängigkeit. Den unterdrückten Völkern präsentierte sich der Gaullismus als Beispiel – zumindest da, wo Frankreich nie eine Vormachtstellung gehabt hatte, und sogar in Regionen, wo Frankreich sich erst kürzlich zurückgezogen hatte, wie in Kambodscha.
Da die alte kämpferische Komplizenschaft mit Großbritannien, dem ältesten Feind, der in der Entente Cordiale und dann in der NATO zum Verbündeten geworden war, mit dem Scheitern der Suez-Expedition (die die beiden alten Kolonialmächte 1956 durchführten und die die britische Außenpolitik dazu brachte, sich fortan der US-amerikanischen anzuschließen), unfruchtbar geworden war, war Frankreich nun in der Lage, als Vorkämpfer der »um ihre Befreiung kämpfenden Völker« aufzutreten.
Diese Haltung erlaubte es Frankreich, unter Hinweis auf die Sorge um die eigene Souveränität Herstellung und Besitz der Schreckenswaffe par excellence zu legitimieren, der Atombombe, verkleidet als Garantie nationaler Unabhängigkeit. Mit dem Slogan »Abschreckung des Starken durch den Schwachen« versuchte man, den Aufbau der force de frappe zu rechtfertigen.
Doch konnte die Atombombe weder moralisch noch nach einem rationalen politischen Kalkül verteidigt werden: sie war nur glaubwürdig, wenn die französische Regierung das Risiko der völligen Zerstörung Frankreichs in Kauf nahm […].
Das Gleichgewicht des Schreckens beruhte auf einer Kooperation zwischen den Supermächten. Da sie die Fähigkeit hatten, den gesamten Erdball zu zerstören, implizierte die »gegenseitige Unverwundbarkeit ihrer militärischen Kräfte« die »gegenseitige Verwundbarkeit ihrer Gesellschaften« […]. Demgegenüber behauptete die Abschreckung des Schwachen gegenüber dem Starken die Souveränität des Nationalstaates: die Entscheidung über den Einsatz der force de frappe musste unvorhersehbar bleiben; um abzuschrecken, musste der Schwache sich mit einem Mysterium umgeben: wäre er verrückt genug, sein Wesen und seine Ehre zum Preis der totalen Zerstörung zu verteidigen? ((Pierre Hassner: La violence et la paix. Paris: Esprit 1994, S. 127f.))
Die (heimliche) Einvernehmen der beiden Supermächte versuchte, die Wahrscheinlichkeit von Unfällen, die zur gegenseitigen Zerstörung geführt hätten, zu vermindern. Sie setzte voraus, dass man Informationen austauschte, um Irrtümer bei der Einschätzung militärischer Bewegungen auszuschließen: das Risiko musste auf ein Minimum reduziert werden. David hingegen musste einiges rätselhaft belassen; Goliath musste in der Ungewissheit über die Absichten seines Gegners gehalten werden; er sollte zu dem Schluss kommen, dass es die Mühe nicht lohne, ein gegenüber dem Ziel (enjeu; Spieleinsatz) übermäßiges Risiko einzugehen: in diesem Fall ist man um so vorsichtiger, als man nichts von der Psychologie seines Gegners weiß.
Der gaullistische atomare Bluff war ein Unruhestifter in der internationalen Politik, dessen Auswirkungen erst nach und nach deutlich wurden. Anfang der 60er Jahre war die französische Politik eng umgrenzt: sie gehorchte einer weltweiten Strategie, die es europäischen Staaten, die die möglichen Schlachtfelder geworden wären, unmöglich machte, dem Druck der USA und der UdSSR zu entkommen […]. Europa blieb der sichtbare zentrale Schauplatz politischer Konfrontationen, deren Charakter umso spektakulärer war, da sie an den Status quo rührten.
Im folgenden Jahrzehnt änderte sich die internationale Situation. Die USA zogen sich aus Vietnam zurück, der Verfall ihrer Demokratie wurde drastisch deutlich (Watergate), die UdSSR verhärtete sich in der Eiszeit unter Breschnew. Die führenden französischen Politiker, Georges Pompidou, vor allem Giscard d’Estaing und damals schon Chirac, die engstens mit Wirtschaftskreisen verbunden waren, unterschätzen anfangs die sich bietende Handlungsfreiheit. Sie versuchten lediglich, die ökonomische und wirtschaftliche Position Frankreich und Frankreichs Rolle als sekundärer Imperialismus (ungebremste Ausbeutung des frankophonen Afrikas südlich der Sahara) zu verbessern. Gleichzeitig beteiligte sich das Land am Kampf gegen den Einfluss der UdSSR, die als »Vaterland des Sozialismus« galt (ihre militärische Aktivität übertünchte den sich beschleunigenden Verfall). Trotz der offensichtlichen Schwäche der UdSSR (ab 1979/80 Ende des Anstiegs des Bruttosozialprodukts und Niedergang der innenpolitischen Legitimität Breschnews) war es möglich, das Bild Moskaus als »mächtig, gefährlich und aggressiv« über seine tatsächliche Dauer hinaus zu wahren. ((Alain Joxe: Le cycle de la dissuasion. Paris: La découverte/Fondation pour les études de la défense nationale 1990, S. 278.))
Indem er die Zugehörigkeit zur »freien Welt« betonte, Mitglied der Nordatlantischen Allianz blieb (bei fortdauerndem Rückzug aus ihrer militärischen Struktur), Zug um Zug den staatlichen Zugriff auf die Wirtschaft minderte, fortschreitend den Einfluss der KPF reduzierte sowie durch die Repression gegen die maoistische und trotzkistische Linke schien sich Giscard d’Estaing zu Beginn seiner Amtszeit (mit Chirac als Premierminister von 1974-1976) als treuer und sogar eifriger Verbündeter der USA zu verhalten – bis hin zu dem Versuch, die militärische Zusammenarbeit zu verstärken durch die Einführung von Pluton- und später Hades-Kurzstreckenraketen, die in Deutschland stationiert werden sollten, um an der nuklearen Eskalation teilzunehmen.
Giscards Diplomatie spielte unter dem Deckmantel des antikommunistischen und antisowjetischen Kampfes […] ihr eigenes Spiel. Der Irak war dabei ein bevorzugtes Spielfeld. Im Unterschied zu Großbritannien […] hatte Frankreich nie koloniale Herrschaft in diesem Land ausgeübt. Die US-amerikanische und britische Unterstützung Israels weckte die Feindschaft der irakischen Bevölkerung, während de Gaulle seit dem Sechstagekrieg 1967 auf Distanz zu Israel gegangen war. (Diese neue Haltung konnte die frühere Rolle Frankreichs bei der Herstellung der israelischen Atomwaffe vergessen machen.)
So konnte Frankreich seine Offenheit gegenüber den Bestrebungen der »arabisch-muslimischen« Welt, wo es die weltweit wichtigsten Erdölproduzenten gab, demonstrieren. Zudem schien, vor allem, wenn man ihn aus der Ferne betrachtete, der Arabismus ((A.d.Ü.: Im Original arabisme. In Deutsch mag »Arabismus« zunächst ungewöhnlich klingen, doch auch in deutschsprachiger Literatur zur arabischen Welt findet sich der Begriff (neben »Panarabismus« und »arabischer Nationalismus«), und zwar als Übersetzung von al-’uruba.] )) der Baath-Partei, die 1958 im Irak (und 1966 in Syrien) die Macht erlangt hatte, einige Verwandschaft mit dem Gaullismus aufzuweisen.
Maxime Rodinson betonte dies 1968:
»Einer der ersten Theoretiker des Arabismus, Edmond Rabbath, ein Christ […], schrieb sein Buch 1937 in französischer Sprache. […] Von den europäischen Theorien über die Nation übernahm der arabische Nationalismus die Verteidigung und Hervorhebung der gemeinsamen Sprache und Kultur gegenüber der Betonung der territorialen Bindung. « ((Maxime Rodinson: Arabisme. In: Encyclopedia Universalis. Band 2. Paris 1974, S. 236.))
Mit dieser Darstellung vermählt Maxime Rodinson implizit den arabischen Nationalismus mit Ernest Renans Ausführungen zur Nation. (([A.D.Ü.: Lantz bezieht sich auf den im französischen Diskurs zur Nation kanonischen Vortrag Renans »Was ist eine Nation?« von 1882; dt. in: Michael Jeismann/Henning Ritter (Hg.): Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Leipzig: Reclam 1993, S. 290-311.]))
Französische Intellektuelle und Politiker waren insbesondere aufgeschlossen für den laizistischen Charakter der Verteidigung der Nation. Wurde die Baath-Partei nicht 1943 durch den syrischen Katholiken Michel Aflak gegründet? Im Unterschied zum wahabitischen Islam, der in Saudi-Arabien herrschte, verstand es der arabische Nationalismus offenbar, die muslimische Mehrheit und die christliche Minderheit zu einen. So sah ein anerkannter Spezialist für die muslimische Welt, Maxime Rodinson […] im Nationalismus die »herrschende Ideologie der arabischen Eliten und der Massen«. Rodinson offenbarte ein gewisses Verständnis für den arabischen Nationalismus, indem er darauf hinwies, dass die westlichen Mächte die archaischen arabischen Regime unterstützen, während die vom Arabismus geprägten Staaten (Syrien, Ägypten, Algerien, die Republik Yemen) sich gegen die reaktionären Staaten richteten. […]
Eine progressistische Interpretation der Emanzipation der Völker erlaubte es so, zwei entgegengesetzte Konzeptionen anzunähern: diejenige, in der der Kampf der unterdrückten Völker eine Etappe auf dem Weg zum Sozialismus ist (das leninistische Schema), und die des Gaullismus, derzufolge die Verwirklichung des Nationalstaates der oberste politische Wert ist. […] Orthodoxe Kommunisten und Gaullisten teilten die Grundüberzeugung, derzufolge die Existenz eines Staates, der sich mindestens das Recht, die großen Einheiten von Produktionsmitteln und der Banken zu kontrollieren, wenn nicht zu sozialisieren nahm, und zugleich zur Entwicklung einer eigenständigen Kultur ermutigte, dem Sinn des Geschichtslaufes (sens de l’Histoire) entsprach. Unter diesen Rahmenbedingungen zählten lokale Besonderheiten kaum. So sah man beispielsweise in der Verdammung des atheistischen Kommunismus durch die Baath-Partei oder in dem Blutbad, das ihre Machtübernahme im Irak 1963 begleitete, nur bedauerliche Episoden.
In der Zeit vom Ende des Algerien-Krieges bis zu Beginn der 80er Jahre neigten die meisten Intellektuellen und Politiker dazu die Bedeutung religiöser Eigenheiten herabzuspielen, als handle es sich um bloße historische Überbleibsel; auch neigte man dazu, den Blick von besonders brutalen politischen ›Sitten‹ abzuwenden, die man als – gewiss beklagenswerte – lokale Gewohnheiten betrachtete. Da die Gesamtrichtung stimmte […], betrachtete man die Militarisierung der Baath-Regime und ihre Entwicklung zu Diktaturen, die Massaker begingen, als Peripetie. […] Die französische Republik hatte zwar enge Beziehungen zu verschiedenen erdölproduzierenden Staaten, deren politische Konzeptionen um so besser toleriert wurden, wenn die Republik ihnen Rüstungsgüter, Atomkraftwerke und ihr know how auf diesen Gebieten verkaufen konnte […]. Aber das Herz hing nicht an diesen rein materiellen Beziehungen. Im Mittleren Osten war es allein Saddam Hussein, dem die Freundschaftsbeteuerungen Chiracs, Premierminister von 1974- 76, galten.
Der Irak-Spezialist Philippe Rondot […] formulierte in einem 1980 erschienenen Artikel eine positive Bilanz der Baath-Partei. Die Partei sei dabei, einen zivilen Weg zu beschreiten. Die »vorherrschende militärische Strömung« weiche Schritt für Schritt einer »zivilen Linie«: »Auch wenn er von politischen und militärischen Erwägungen diktiert sein mag, beweist ihr Wille, sich die Atomtechnologie anzueignen, dass die Führer bereits an die Zeit nach dem Erdöl denken.« Diese beschwichtigende Interpretation wird im folgenden verfeinert: »Dank des politischen Erbes des Generals de Gaulles ist Frankreich eine relativ privilegierten Lage. Der Irak als zweitwichtigster Öllieferant […] kauft schlüsselfertige Waffensysteme wie die Mirage und Atomtechnologie.« Unter dieser Voraussetzung versteht man seine Behauptung: »So kann die Bilanz von 10 Jahren Baath-Partei an der Macht befriedigend erscheinen.« Der Zweck heiligt die Mittel, und die französisch-irakische »Freundschaft « erklärt die Diskretion:
»Um die ökonomische Umgestaltung durchzuführen, musste die Baath-Partei von Beginn ihrer Machtübernahme an allen anderen fortschrittlichen Kräften, die aus der Revolution von 1968 hervorgingen, ihre Vormachtstellung aufzwingen.« ((Encyclopedia Universalis. Suplément. Paris 1980, S. 809-810.))
Mit der iranischen »Revolution« 1979 fanden abwiegelnde Beschreibungen und beredtes Schweigen über den arabischen Nationalismus ein Ende. Der iranischen »Revolution« stand die Gesamtheit der (sog. freien oder westlichen) kapitalistischen Welt feindlich gegenüber. Der Erfolg der Friedfertigen – der Kampf gegen den Vietnam-Krieg, die Hippie-Bewegung – wird nur einige Jahre gedauert haben. In der UdSSR (Afghanistan), in den USA (Reagan) und in Großbritannien (Margret Thatcher) bereiten die Regierungen Krieg vor und wollen ihn.
In Frankreich ist die Verwandlung ehemaliger »revolutionärer« Publizisten in Bellizisten atemberaubend; es fehlt ihnen nicht an Zielscheiben: Der sowjetische »Totalitarismus«, dem man den Willen und die Fähigkeit zutraut, die Welt zu erobern, und der schiitische Islamismus, der gefährlich revolutionär, doch in seinen Sitten rückwärts gewandt ist: schlimmer als bei Tartuffe, wird der gesamte Körper der Frauen verhüllt. Die islamische Gefahr ist überall. Oberst Gaddafi, der den Tschad, eine frühere französische Kolonie, angreift, ist Gegenstand einer Petition von Intellektuellen (André Glucksmann, Yves Montand u.a.), die in Libération veröffentlicht wird. Gaddafi ist um so verhasster, da er als überdeterminiert wahrgenommen wird, nämlich als Instrument sowohl der Sowjets als auch der Mullahs. Die neuen Konvertiten des »Antitotalitarismus« treffen sich mit früheren Kommunisten; sie unterstützen Reagan und bald auch Mitterand […]. Eine heterogene Koalition zeigt gegenüber dem Irak zumindest eine gewisse Nachsicht: linke Gaullisten, die sich nach der früheren Arabien-Politik Frankreichs zurücksehnten, Antiklerikale und Gegner des Gemeinschafts-Kultes (anticommunautaristes), die das Sektierertum (des Islamismus und des Likud) ablehnten.
In der breiten Koalition, die den Irak mehr oder minder offen unterstützte, versuchte Frankreich einen besonderen Platz einzunehmen. Mitterand, der während seines Wahlkampfes 1981die Politik Giscard d’Estaings gegenüber der UdSSR als zu höflich bekämpft und sich zu Beginn seiner Regierungszeit den USA angenähert hatte, konnte sich dennoch nicht die Zweiteilung der Welt in ein »Reich des Bösen« und die »Demokratie des Marktes« zu Eigen machen. Während die proamerikanische Rechte und die maoistische extreme Linke, die die Tageszeitung Libération bestimmte, die Mujahedin aller Richtungen feierten und die USA sie mit Stinger- Raketen belieferten, musste Mitterand auch seine Verbündeten vom PCF und fortschrittliche Tiersmondisten (([A.d.Ü.: Von Tiers Monde, Dritte Welt.])) wie Cheysson (zu Anfang der ersten Amtszeit Mitterands Außenminister) und, nachdem Chirac wieder Premierminister geworden war, den Neogaullismus beschwichtigen; sie alle waren beunruhigt über die US amerikanische Unterstützung des (vor allem wahabitischen) Islamismus, der für Afghanistan Kämpfer ausbildete, die auch anderswo eingesetzt werden konnten.
Mitterands Zickzack-Kurs und das doppelte Spiel Reagans und Israels (Irangate) verbargen, was die französische von der US-amerikanischen Politik trennte, ein Muster, das im Moment der Krise leicht erkennbar wird: Frankreich und die USA konnten als Alliierte gegen konkurrierende Staaten antreten, gegen den Nazismus und gegen den Stalinismus; sie konnten sich gemeinsam gegen eine expansionistische Theokratie wenden und ebenso gemeinsam korrupte Diktaturen wie die Mobutus unterstützen. Aber die französische Republik konnte einen gewissen Einfluss nur wahren oder gewinnen, indem sie auf die Besonderheit ihrer Geschichte verwies, wo (in der republikanischen Parole) Freiheit und Gleichheit voneinander untrennbar sind […].
Das Paradox der französischen Politik seit Ende des Zweiten Weltkrieges besteht darin, dass es ein Teil der französischen Rechten weit besser als die sozialdemokratische Linke verstand, diese historische Erinnerung zu reaktivieren und sie der Kommunistischen Partei […] zu entreißen. […]
Während Giscard d’Estaing die Stationierung der Pershing-Raketen in den NATO-Ländern ablehnte, beschimpfte François Mitterand die »pazifistische« Bewegung und unterstützte die Christdemokraten bei der Durchsetzung des Stationierungsbeschlusses in Deutschland. So wundert es nicht, dass der ehemalige US-Außenminister Kissinger urteilte, Mitterand sei »ein sehr guter Verbündeter, der beste unter allen französischen Präsidenten« gewesen. ((Jacques Dalloz: La France et le monde depuis 1945. Paris: Armand Collin 2. Aufl. 2002, S. 182.))
So konnte das überaus legitime Bemühen, alles abzuweisen, was bei der Betonung französischer Besonderheit (Sprache, Kultur, Antiklerikalismus, Erinnerung an den Klassenkampf) in Richtung Nationalismus und Chauvinismus abrutschen könnte, in einer Haltung enden, in der man diejenigen, die sich der Weltmacht USA entgegenstellen, als archaisch verdammt. Die Sozialisten fürchten eine unabhängigere Außenpolitik dermaßen, dass sie den Grad (marge) politischer Freiheit, der geblieben war, unterschätzten. Trotz der von ihm aufgestellten Regel »verbündet, aber nicht in einer Linie (allliés, pas alignés)«, tat Mitterand das Gegenteil, wie man beim Golfkrieg von 1991 sah: »Für Mitterand ist ein Engagement in der Angelegenheit notwendig, wenn Frankreich seinen Rang wahren wolle« ((Ebd., S. 213.)) auch war davon die Rede, »am Verhandlungstisch anwesend zu sein«. Aber es gab keine Verhandlungen.
Die Linke lehnt ausdrücklich die hegelianisch-marxistische Geschichtsphilosophie ab, die die Bedeutung eines Ereignisses verstand, als handle es sich um ein Glied in einer Kette. […] Der Sinn eines Ereignisses wurde postuliert, über den Sinn des Gegenwart brauchte man nicht zu reflektieren, denn er war im Vorhinein bekannt; […] die Gegenwart wurde unsichtbar.
Nachdem sie ihre Illusionen verloren hatte und nichts mehr erwartete, ließ sich die Linke im Wasser treiben und schwamm mit dem Strom, den sie Trend nannte, ohne zu wissen, wohin er führte. Die respektable und vorzeigbare Linke ist der Gegenwart gegenüber ebenso unaufgeschlossen wie die orthodoxen Kommunisten; sie verkennt sie, weil sie das Werden mit der Mode verwechselt. […] So hat der Trend die Linke neutralisiert: die Vergangenheit, auf die sich immerzu beruft, verkommt zur harmlosen Folklore. Die Linke verhielt sich so, als glaubte sie an das »Ende der Geschichte« in Francis Fukuyamas Version – eine Illusion, die sie der aktuellen Geschichte gegenüber hilflos machte.
In der früheren bipolaren Welt teilten die Akteure beider Blöcke eine Überzeugung: der Bruch des Gleichgewichts und der Sieg des einen über den anderen wäre das Ende der Geschichte bzw., in der marxistischen Version, das Ende der Vorgeschichte […]. In formaler Hinsicht ist die Überlegung einwandfrei: von einer bipolaren Welt sind wir zu einer sogenannten »unipolaren« übergegangen. »Die USA, Westeuropa und Japan sind in einem gewissen Sinne aus Mangel (par défaut) die Herren der Welt.« ((Pierre Hassner: La violence et la paix (Anm. 2), S. 349.)) Wie sollte es auch anders sein, da der Gegner in diesem langen Duell namens Kalter Krieg kampflos das Feld verlassen hat? Dennoch könnten Skeptiker Zweifel äußern: häufiger in der Geschichte geschah es, dass eine Koalition kurz nach ihrem Triumph zerfiel. Doch Pierre Hassner erklärt zum Glück vorsorglich schon, dass eine unauflösliche Verbindung die Herren der Welt zusammenhält: »Nachdem sie den Krieg untereinander abgeschafft haben, sind sie vereint durch die Bande der kapitalistischen Wirtschaft und der liberalen Ideologie.« ((Ebd.)) Bande, so stark wie das katholische Sakrament der Ehe: wenn die Bande garantiert ist, ist der Krieg untereinander so undenkbar wie die Scheidung.
Dennoch, die Anspielung auf die Ehe zeigt es: der strengste Glaube und das strikte Befolgen der Riten reichen nicht aus für eine wirkliche Ehe. Man muss zur Tat übergehen – auch, damit die Herrschaft über die Welt real wird. […]
Um was für eine Ehe handelt es sich überhaupt? Ist es ein Zusammenschluss von Gleichberechtigten oder verbirgt sich dahinter eine Unterwerfung, und sei sie auch freiwillig? Gemäß liberaler politischer Philosophie ist ein Vertrag nichtig, wenn er eine der Vertragsparteien unwiderruflich unterwirft. Und im Falle tatsächlicher Ungleichheit kann der Vertragspartner in der unterlegenen Position sich jedenfalls nicht als Teilhaber der Weltherrschaft verstehen, außer in Folge von Konzessionen (im rhetorischen und juristischen Sinne), die der überlegene zugesteht.
Daher resultiert das Bemühen, die Fiktion der Gleichheit der NATO-Mitglieder zu wahren. Jean-Marie Comobani steigerte sie am Ende des Kosovo-Krieges in Le Monde bis ins Lächerliche, als er die führende Rolle der USA bei den Militäroperationen leugnete und so tat, als hätten die USA ihre Luftwaffe in den Dienst Europas gestellt wie einst Schweizer Söldner dem französischen König dienten (François I, 1515). Damit die Fiktion zumindest einen Moment glaubwürdig ist, muss man sie auf einige Tatschen stützen: So betonte Chirac, er habe Clinton davon überzeugt, die Bombardierungen durch die US-Luftwaffe, soweit sie unter NATO-Kommando agierte, zu begrenzen und so einige, zur Bombardierung vorgesehene, zivile Ziele auszusparen. Doch diese Luftwaffe bombardierte auch unter der alleinigen Verantwortung ihrer Regierung…
Solange man trotz früherer Warnungen glaubte, das eigene Territorium sei unverwundbar, konnten die USA die Fiktion von der Gleichheit der NATO-Mitglieder handhaben: die zivile Macht des Präsidenten zügelte den militärischen Furor. Untereinander respektierten die Herren der Welt die Anstandsregeln: wenn man derselben Welt angehört, spielt sich der Stärkste nicht damit auf, die Schwächeren […] zu erdrücken. Man kann die Differenzen vernachlässigen, wenn man durch ein gemeinsames Ideal vereint ist: der »sanfte Handel« und die »Menschenrechte«, in deren Namen man die Welt beherrscht. So schien man, wenn da nicht noch einige archaische Staaten gewesen wären, auf dem Weg zur Verwirklichung des Kant’schen Traums vom Ewigen Frieden.
Doch man täuschte sich. Der Sieg war nur der eines Imperiums, einer der Waffengewalt und des Geldes, also nur temporär. Der 11. September 2001 hat das Antlitz der Erde nicht verändert. Die Anschläge offenbarten einen der unbestreitbaren, bis dahin aber verkannten Aspekte dessen, was man mit einem zu allgemeinen Begriff »Globalisierung« nennt: keine Zivilbevölkerung […] kann den Angriffen durch Feinde ihrer Regierung entgehen. Für die Regierungen ist es also um so leichter, an die nationale Einheit gegen einen Feind, der überall zuschlagen kann, zu appellieren. […]
Im gegenwärtigen internationalen System, das dauerhaft militarisiert ist, koexistieren zwei Modelle. Das jüngere eines Netzes, in dem der Feind, entstanden in den Finanznetzen, aus denen er seine Ressourcen bezieht, allgegenwärtig und ohne präzise anzugebenden Status existiert […] und es nicht absehbar ist, wann er zuschlägt, und das klassische des Staates, den man im Zentrum treffen kann […]. Auf diese Weise kann der Planet wieder in binärer Weise aufgeteilt werden: von Neuem der Westen gegen den Orient. Symbolisch und für die Propaganda wahrt der Westen seine Identität als erfinderisch, offen, pluralistisch und fortschrittlich; der Orient hingegen wird mit alten, wiederaufbereiteten Stereotypen versehen: heimtückisch, fanatisch, geheimnisvoll – in jeder Hinsicht erschreckend (terrifiant). […]
Unter all diesen Umständen, die mit einer weit reichenden Entpolitisierung und Privatisierung (insbesondere auch der »Sicherheit «) einhergehen (([A.d.Ü.: der Relativsatz ist eine Einfügung von mir, um die vorhergehende umfangreiche Kürzung in den Argumentationsgang einzubringen.] )), liegt der Krieg, nicht der Frieden, in der Ordnung der Dinge. Entsprechend bedeutet politisch zu handeln, gegen den Strom zu schwimmen, für den Frieden einzutreten, gegen die Zerstörung der Gesellschaft (Cité) durch die nackte Gewalt zu opponieren. […]
Das vorherrschende Spiel mit Krieg und Frieden entstammt der üblichen, uralten Politik. Weder die betäubten Bevölkerungen, noch die kurzsichtigen Politiker scheinen die Folgen der Entpolitisierung am Ende des 20. Jahrhunderts begriffen zu haben: die Gefahr einer endlosen Serie von Kriegen. Nur die Verbindung aus einem Aufwachen der Öffentlichkeit und das Vertrauen der gewöhnlichen Staaten in ihre Handlungsfähigkeit war fähig, diese Gefahr einzuschränken. Gegen den Strom verkündete Jacques Chirac 1998 vor den versammelten Botschaftern Frankreichs die Möglichkeit einer politischen Autonomie: »Manche denken, Frankreich habe mit dem Wegfall der bipolaren Ordnung einen Handlungsspielraum (marge de manoeuvre) verloren. Das ist falsch.« ((Jacques Dalloz: La France et le monde depuis 1945 (Anm. 9), S. 207.))
Doch gilt es auch zu definieren, wie man diesen Spielraum (marge) füllen soll. Heute ist jegliches weltweites Gleichgewicht gebrochen: je mehr die Supermacht versucht, ihre Kriegsvorwände durchzudrücken und dabei uneingestandene, platt utilitaristische und hochgradig spirituelle Ziele verfolgt, um so mehr muss man die angegebenen Ziele listig beim Wort nehmen, um sie zu entschleiern: Die Supermacht sucht sich Gegner, die nicht allzu gefährlich sind; sie behauptet, sie seien eine schreckliche Bedrohung, und bedroht jeden, der sich weigert, ihr dies zu glauben. Der Sieg nach dem Krieg, den man sich als kurz erhofft, wird dies nur augenscheinlicher machen: »Wenn man ohne Gefahr siegt, triumphiert man ohne Ehre.«
Der Widerstand dagegen kann nicht frontal operieren. Den Glauben an Gott verliert man nicht, weil man seine Existenz nicht beweisen kann. Man wird niemals beweisen können, dass der Irak nicht irgendwo noch über einige Massenvernichtungswaffen verfügt. Die Taktik besteht seitens der Inspekteure darin, nach ihnen so lange wie möglich zu suchen, und seitens des Irak, sie nach und nach zu zeigen. Wenn sie dabei zu schnell gewesen wären, hätten die USA selbstverständlich erwidert, dass es wohl noch mehr Massenvernichtungswaffen gäbe. Wenn die französischen Diplomaten sich diesem Spiel verweigert und jegliche Möglichkeit eines Krieges ausgeschlossen hätten, wären sie aus dem Spiel gewesen. Sie konnten diejenigen Staaten, die aus Vertrauen oder aus Unterwürfigkeit mit den pseudotechnischen Forderungen der USA einverstanden waren, nur mit sich ziehen, wenn sie zu glauben vorgaben, dass es möglich wäre zu beweisen, was logisch gerade unbeweisbar ist: dass der Irak seine Massenvernichtungswaffen komplett zerstört hat.
Im Laufe der Entwicklung mussten Chirac und Villepin dieses doppelte Spiel spielen: die USA davon überzeugen, dass sie, um Zögernde für den Krieg zu gewinnen, die UNO einschalten müsse; um glaubwürdig zu wirken, mussten die USA so tun, als verlangten sie die Rückkehr der Inspekteure in den Irak. Selbstverständlich hätten sie es bevorzugt, dass den UNO-Technikern der Zugang in den Irak verweigert worden wäre, um die Unaufrichtigkeit Saddam Husseins vorführen zu können und um ihren Zeitplan weiter zu beherrschen. Auf der anderen Seite, der Deutschlands, das sich klar gegen den Krieg ausgesprochen hatte, und Frankreichs, das seine Möglichkeit, aber nur als letztes Mittel, akzeptierte, musste man verlauten lassen, dass die Inspektionen Erfolg haben könnten und länger dauern würden: so gewann man Zeit, die dazu dienen konnte, den von den USA gewünschten Krieg in die Ferne zu rücken. Diese zögerten nicht, stampfend wie ein wild gewordenes Pferd, ihr Kriegsziel offen zu legen, nämlich die Neuordnung des Mittleren Ostens gemäß ihrer Interessen und ihrer Vorstellung von Demokratie. So wurde die allgemeine Strategie der USA offenbar, und auch die Gefahren, die aus ihr folgten, traten ans Tageslicht.
Diese Taktik entsprach einem Projekt, das Villepin gelegentlich formulierte: gegen das Gefühl von Fatalität, das jede politische Wahl verbietet, angehen, mit anderen Worten: der Politik mit ihren machiavellistischen Listen, die in den Dienst der Überzeugungen und Ziele gestellt werden können, wieder einen Platz zu geben. Um dahin zu gelangen, musste man in der Ambiguität verbleiben und seine Karten so spät wie irgend möglich ausspielen; eine mittlere Position zwischen »Pazifismus« und »Bellizismus« konnte so diejenigen Staaten anziehen, die aus verschiedenen, gar entgegengesetzten Gründen den Moment hinausschieben wollten, an dem sie ihre Wahl erklären würden.
Um diese schwierige Partie zu spielen, musste die französische Diplomatie die alte Sympathie für die ursprünglich laizistische Ideologie der Baath-Partei […] vergessen machen. So vermied man es, auf die Zeit vor dem Krieg gegen den Iran und auf die Hilfe beim Aufbau einer Nuklearindustrie zu sprechen zu kommen. Die Politik ist vergesslich, wenn sie sein muss: man kann auf die Lieferung chemischer und biologischer Waffen anspielen, denn dies ist eine von anderen geteilte Sünde und zur Hälfte vergessen. Doch man vergisst geflissentlich die bilaterale Beziehung.
Gleichzeitig musste die französische Diplomatie, und sei es nur, um Aufmerksamkeit zu schaffen, sich subtil mal zur einen, mal zur anderen Seite, der des Krieges oder der des Friedens, wenden. Die französische Regierung konnte sich dabei auf die Presse verlassen, die darauf bedacht ist, ein verkaufsförderndes Ereignis zu schaffen und sogar eine leichte Readjustierung zur historischen Wende umformt.
In der ersten Phase, im Herbst 2002 und insbesondere zum Zeitpunkt der Abstimmung der Resolution 1414 waren alle mit Chirac und Villepin einverstanden: das Konfuse eines Textes erleichtert den Konsens. Alles änderte sich während der letzten zehn Januartage 2003, angefangen am 20. Januar, als Villepin im Sicherheitsrat die Hypothese eines Vetos formulierte, dann am 22. Januar, als Chirac in Versailles erklärte, Frankreich stimme mit der Position Deutschlands überein. Jean-Louis Bourlanges resümierte in Le Figaro, Chirac habe den »allergrößten Fehler« gemacht, indem er auf eine auf Ausgleich zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik orientierte Position verzichtete und »sich dem pazifistischen Fundamentalismus Berlins anschloss« ((Le Figaro 1./2.3.2003.)).
Anfang Februar dagegen sind die Kriegsgegner beunruhigt: am 6. Februar füllt die Morgenzeitung Le Parisien ihre Titelseite mit »In Richtung Krieg«. Tatsächlich hatte sich Villepin damit begnügt zu wiederholen: »Frankreich schließt im äußersten Fall Gewalt nicht aus.« Le Parisien nimmt […] eine Annäherung der französischen und US-amerikanischen Positionen wahr. Am selben Tag bestätigt die Abendzeitung Le Monde nuancierend: »Frankreich hat der friedlichen Entwaffnung keine Absage erteilt. […] Herr de Villepin hat indes eine Neuordnung der französischen Position vorgenommen.« Arte bilanziert am selben Abend um 19.45 Uhr: »Keine gemeinsame Position Frankreichs und Deutschlands mehr.« Und dennoch hatte Premierminister Jean-Pierre Raffarin dem »Game is over« Bushs gerade erst ein »It’s not a game, it’s not over« entgegengesetzt. Am 7. Februar legt die US-amerikanische Presse gegen Chirac los, laut Wall Street Journal ein »Pygmäe mit kahlem Schädel«. Chirac hatte jegliche Änderung der französischen Politik dementiert […].
Am 20. Februar publiziert The Sun […], auf der Titelseite eine Montage: ein Fotos Chiracs ging über in einen monströsen Regenwurm, der Frankreich untergräbt. Es ist sehr bezeichnend, dass diese Zeitung eine Sonderausgabe dieses Titels in französischer Sprache produzierte und sich bemühte, sie französischen Zeitungen und Fernsehsendern zu unterbreiten. Die für diese Operation Verantwortlichen verhielten sich gemäß dem von Clausewitz formulierten Prinzip: »Ist der Krieg ein Akt der Gewalt, so gehört er notwendig auch dem Gemüt an.« ((Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Augsburg: Weltbild 1990, S. 19.)) Das Ziel der britischen und US-amerikanischen Presse war es, den französischen Partner dahin zu bringen, sich als Feind zu verhalten. […]
In seinem Interview mit Time spricht Chirac über das Jahr, das er in den USA verbracht hat, und erinnert sich an seine große Jugendliebe, eine Amerikanerin. Cooling nennt Goffmann diese Technik der Spannungsminderung, die sich weigert, das Absolute des Krieges als Konzept mit dem realen Krieg zu verwechseln – eine für den totalen Krieg des vergangenen Jahrhunderts charakteristische Verwechslung, die heute wieder eine drängend-aktuelle Gefahr geworden ist.
Das Veto zu erwähnen, gehört zur Logik des Kalten Krieges: das Ziel ist, klar zu machen, dass der Gesprächspartner unsinnige Projekte verfolgt. Dessen erste Reaktion ist Verärgerung über das Thema: diese radikale Opposition erhellt, dass sich hinter dem unbequemen Verbündeten ein unbeugsamer Feind verbirgt. Um also der Logik des Krieges zu entkommen, muss derjenige, der mit seinem Veto droht, sich als »Moderator« verhalten, so dass der »erliegende Staat« in seiner Niederlage »nur ein vorübergehendes Übel« sieht, »für welches in den politischen Verhältnissen späterer Zeiten noch eine Abhilfe gewonnen werden kann«. ((Ebd., S. 24))
Indem sie zwischen Drohung und Nachgeben wechselt, versucht die französische Diplomatie einen politischen Raum wiederzufinden: man hofft, Balsam auf das Herz eines verwundeten Stolzes zu reiben; ihre Taktik besteht darin, außerhalb jeglicher Perspektive eines Gleichgewichts Spannungen hervorzurufen, um sie dann ostentativ zu mildern. In jedem Fall machen diesen Schwankungen deutlich, dass das Modell des Gleichgewichts nunmehr veraltet ist: Es kann nur dann ein Gleichgewicht des Schreckens geben, wenn der Krieg fern der Metropolen der vorherrschenden Staaten stattfindet und deren Beziehungen untereinander von politischen Regeln bestimmt sind. Statt dessen wird in der politischen Wüste, die der Rückzug des Staates von der Regulierung des Sozialen (Erziehung, Gesundheitswesen usw.) hinterlassen hat, der gesellschaftliche Reichtum durch den grenzenlosen Terrorismus aufgezehrt (détournée; auch: entführt): physische und psychische Gewalt, die Staat und Religion annähert und beide in den Dienst des Krieges stellt.
Heute ist der Krieg nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sondern die Zerstörung jeglichen politischen Gehaltes in den sozialen Beziehungen. Die doppelte Bewusstwerdung, die der öffentlichen Meinung bei den Demonstrationen am 15. Februar und die – unerwartete – einiger Staatsmänner, ist vielleicht die Antizipation einer neuen Politik.
(Übersetzung: Alfred Schobert)