Putin in Berlin

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Von Edzard Obendiek. Erschienen in DISS-Journal 9 (2001)

Wladimir Putin war in Berlin und hat eine Rede mit erstaunlichen Wirkungen vor dem Bundestag gehalten. Der kleine drahtige, ungelenk erscheinende Mann legte los in einem Deutsch, das flüssig und sicher war, und wie er mit dieser oder jener Floskel auf das Publikum reagierte, das gefiel. Auch das, was er sagte ließ die Zuhörer aufhorchen. Mit Anspielungen auf Geschichte und Kultur beider Länder beschwor er eine neue Phase der deutsch-russischen Partnerschaft. Die Abgeordneten – und viele Bundesbürger mit ihnen – waren überrascht und geradezu begeistert von diesem neuen Gorbi. Durch ihn sehen sie Russland in einem neuen fortschrittlichen Licht, jenseits der düsteren Klischees von Mafia und Korruption. Ich fand das grossartig. Das ist genau, was ich mir nach meinen Russlandreisen immer gewünscht, wofür ich mich auch eingesetzt habe: die vielfältige Wirklichkeit dieses beeindruckenden ideenreichen Landes zu vermitteln

Dennoch muss man bei diesem Anwalt seines Landes genauer hinhören. Was viele nicht sehen, sind ein paar Haare in der Suppe. Hier spricht ein Mann, wie er sagt, „in der Sprache Kants und Goethes“, der, durch den zweiten Tschetschenienkrieg ins Amt gekommen, als erstes versprach, er werde „die Feinde in der Toilette ersäufen“. Der auch in dieser Rede wieder das blutige Abenteuer im Kaukasus mit den Terroranschlägen auf Wohnblocks begründet, deren Täter bis heute unbekannt sind. (Wenn man in dieser Sache von Spuren redet, muss man auch die erwähnen, die zum Geheimdienst FSB führen). Dieser Mann, der den starken „vertikalen“ Staat propagiert, um Korruption zu bekämpfen, meint dazu gehöre auch die Kontrolle über die Presse. In seiner Rede rühmt er sein Wirtschaftssystem als besonders „liberal“; weil alle mit einem Steuersatz von nur 13% belegt werden (der „neurussische“ Magnat ebenso wie der Lehrer oder Kioskbetreiber!). Da gab es Lacher bei Herrn Eichel und vielen Abgeordneten. Ich denke, das ist nicht lustig. Wenn so die Superreichen ungeschoren bleiben, erscheinen die Finanzhilfen, die auch von diesem Bundestag abgesegnet werden, in seltsamem Licht. Putin geht wie erwartet auf den Krieg in Tschetschenien ein und möchte ihn als Teil des weltweiten Kampfes gegen Terror verstanden wissen. Das ist gute alte russische Tradition. Immer wieder hört man von russischen Historikern, dass jahrhundertelang ihr Land Europa als Knautschzone gegenüber dem Ansturm aus dem Orient hat dienen müssen, und dass Europa ihm nie gedankt hat. Putin erwähnt nicht das Öl um das es geht, sondern spricht von dem Plan der Verschwörer, einen islamischen Staat zwischen Kaspischem und Schwarzen Meer zu errichten. Das ist nach meinem Eindruck während der Lehrtätigkeit in diesem Sommer in Naltschik, 130 km Luftlinie von der tschetschenischen Grenze entfernt, eine fantastische und für die Wirtschaft der Region absolut fatale Behauptung. Die Wahrheit verrät sich mit einem einzigen Wort, das Putin vor dem Bundestag (und sein Außenminister Iwanow vor der UNO) in die Liste der Verbrechen der Terroristen eingeschmuggelt hat: „Separatismus“. Soll die weitweite Antiterrorfront jetzt auch alle bestehenden Staatsgebilde in ihrem Bestand und ihren Grenzverläufen schützen? Was hat das mit den Sorgen der Menschheit vor Wahnsinnigen zu tun? Aber es ist damit zu rechnen, dass die stillschweigende semantische Ausdehnung des Begriffs „Terrorist“ auf Menschen, die ihre Unabhängigkeit wollen, zum probaten Mittel der Herrschenden wird.

Noch einmal: Ich finde es hochwillkommen, dass Putin ein in seinen positiven Zügen neues Russlandbild vermittelt hat. Dies gilt es zu vertiefen, aber auch zu differenzieren. In diesen Zeiten ist Russland ein spannendes Land, voller enormer Probleme aber auch Überlebenskraft und damit Entwicklungschancen. Das enthebt uns nicht der Aufgabe, Stimmen von dort kritisch zu hören.