Von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 9 (2001)
Michael Jäger schrieb kürzlich im Freitag (5.10.2001): „Da wird noch viel Ermittlungsarbeit zu leisten sein, die letztlich zurückführt auf den Satz von Karl Marx: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt.“ Spätestens seit dem 11. September ist klar: Dieser Kriminalfall muss neu aufgerollt werden.“ Er meinte sicher anderes, aber in der Tat sucht das bürgerliche Deutschland derzeit nach diskreditierenden „Stellen“ im Koran.
In den frühen 50er Jahren ging es um „Stellen“ aus dem Alten Testament – mit explizitem Sex. Da war ich wohl acht oder neun. Fälschung oder nicht – an den Häuserecken tauchten diese „Stellen“ auf, die jemand getippt und (mit Kohlepapier) vervielfältigt hatte. Sie kursierten konspirativ auf der Straße und sorgten buchstäblich für ‘Aufklärung‘ – vielleicht gegen die Absicht ihrer Urheber. Denn erst später ging mir auf, dass wir vermutlich alter NS-Propaganda (gegen „jüdische Verderbtheit“) – nun ja – erlegen waren, die locker den Krieg überwintert hatte und von irgendeinem Nazi nun erneut lanciert wurde.
Die jetzige Suche nach – in ganz anderem Sinn – verfänglichen Koran-„Stellen“ erinnert mich daran, zunächst weil die jungen Selbstmord-Attentäter von New York und Washington folgsame Söhne waren und weil der Gedanke schwer auszuhalten ist, dass der Tod von Tausenden mit dem Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun hat, die anhand irgendwelcher „Stellen“ und martialischer Merksätze autoritaristisch abgerichtet wurden.
„Stellen“ haben aber nichts mit Religion zu tun: Die fundamentalistische Initiation entzündet sich an mythischen Chiffren, um so heftiger, je reduzierter (und „mythischer“) die gebotenen Schnipsel der Weltdeutung sind. Verschiedene Fundamentalismen mögen unterschiedliche Mythen haben, aber sie erzählen die eine Geschichte – die vom guten Ich und vom verderbten Anderen, insbesondere auch im Westen: Nach James W. Fowler verbleibt die Mehrheit der westlichen Erwachsenen lebenslang in der (hier meist:) christlich-fundamentalistischen Stufe des kindlichen Moralerwerbs …
Das heiße Interesse an verfänglichen „Stellen“ im Koran bestätigt m.E. dieses breite, nun eben christlich-fundamentalistische Selbstverständnis in unserer eigenen Gesellschaft: Auch dieser Diskurs begnügt sich mit wenigen transportablen „Stellen“ und Merksätzen, und wieder fehlt es nicht an Vätern (und Müttern), die damit ihre Kinder instruieren und ihnen abverlangen, das Material auf Schulhöfe und an Häuserecken zu lancieren. Ein gerade unter Schülern kursierendes Blatt bietet zunächst einige wenige „Stellen“ aus Koran-Suren „für den ‘Heiligen Krieg‘ gegen alle Nicht-Moslime“ (!), so etwa von „Sure 2, Vers 155“, ergänzt um den hilfreichen Hinweis, dass schon diese Sure „vom Lohn der Selbstmordattentäter“ spricht. Fazit: „Islam ist Konfrontation, erwartet unerbittlich Ja oder Nein, wie der Name Islam (arabisch für „Unterwerfung“) bereits sagt.“
Dem wird das Christentum als Friedensreligion gegenübergestellt und gegen Einwände verteidigt. Fazit hier: „Vom christlichen Standpunkt jedoch kann ein Krieg niemals „heilig“ sein.“ Schön, nur scheint nach Auskunft des Flugblatts der christliche Gott nicht identisch mit dem ‘moslimischen‘ zu sein, weshalb sich die Überraschung in Grenzen hält, wenn das Flugblatt mit einer zutiefst pazifistischen Botschaft endet: „Ein Kämpfen mit menschlichen Waffen gegen weltliche Feinde lehnte Jesus und mit ihm die erste Christenheit ab.“ Von diesem Pazifismus weiß der Leser hier aber schon, dass er ohne archaische Feindbilder nicht zu haben ist, deren „weltliche“ Verfolgung man dann allerdings anderen überlässt …
Aber es wäre eine Verkürzung, islamistischen und christlichen Fundamentalismus einfach nur gleichzusetzen. Ein deutscher Islam-Experte konstatierte am 9. Oktober 2001 in der ARD trocken, der islamistische Fundamentalismus kopiere westlich-totalitäre und nazistische Vorbilder. Dies lenkt den Blick auf die Vorbilder: Gerade in den USA sind die Übergänge fließend zwischen Neonazismus und christlich-mythischem Fundamentalismus. Diesem Milieu entstammte Timothy McVeigh – und die These, die US-Zentralregierung sei der Sitz des Teufels (sprich: des ‘Weltjudentums‘) eint nicht nur Christian Identity mit Horst Mahler, sondern auch mit Osama bin Laden.
Aber dies spricht nun wiederum nicht für den „Kriminalfall“ Christentum. Für William Nicholls (Christian Antisemitism, A History of Hate) oder Charles W. Mills (The Racial Contract) waren die letzten 2000 Jahre Weltgeschichte keine Beute des Christentums, sondern des christlichen Fundamentalismus (wobei Nicholls allerdings meint, ihm sei noch kein nicht-fundamentalistisches Christentum begegnet). Theologie oder Religionskritik helfen bei der „Ermittlungsarbeit“ also nicht wirklich weiter: Fundamentalismus hält es mit „Stellen“ und deren Impuls-Moral.
Ralf Balke stellte daher am 4. November 2000 (in der taz) einen der prominenten, christlich-fundamentalistischen Stoffe vor: Es ist die Story von den „zehn verlorenen Stämme Israels“, dem Gründungsmythos des britisch-amerikanischen „Israelismus“, für den seit Jahrhunderten versprengte Bibelstellen herhalten. Einer seiner Höhepunkt war die (bis in die britische Kolonial-Politik wirksame) These, die Briten – und Queen Victoria – stammten aus dem Hause David und seien daher die „echten“ Juden. Das wuchs sich in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gar zur „nordischen“ und schließlich „arischen“ Variante der Erwählungstheorie aus, die prominente Anhänger hatte, darunter Henry Ford…
Markus Brauck schob am 21. September 2001 (in der FR) das Filetstück des christlichen Fundamentalismus nach: die aus der Johannes-Offenbarung gestrickte Sagenwelt des christlichen Chiliasmus. Die Inspiration dieses Stoffs reichte von Cromwell und den „Fifth Monarchy Men“ bis zu Goebbels, sie reicht – wie Brauck anmerkt – in manche amerikanische Präsidentschaft, oder sie dient – wie Thomas Grumke (Rechtsextremismus in den USA) und Michael Barkun (Religion and the Racist Right) dokumentieren – als Steinbruch für die Weltvernichtungstheorien der fundamentalistischen Internationale.
Deren Macht entsteht auch heute daraus, dass ihre Mythen als Spezial-Diskurs codiert sind, der gleichwohl hegemonial wirkt. Zu dieser Macht verhilft ihm allerdings auch der öffentliche Diskurs, der vor dem „Unsäglichen“ fest die Augen verschließt. Der Kriminalfall, der endlich öffentlich aufgerollt werden muss, ist daher der des westlichen, christlichen Fundamentalismus.