Unmenschliche Spur

  • Lesedauer:6 min Lesezeit

Szenen einer Abschiebung. Von Thomas Quehl, erschienen in DISS-Journal 6 (2000)

Begriffe aus dem thematischen Feld von Einwanderung und Flucht sind in Deutschland häufig umstritten. Um so genauer gilt es hinzusehen, wenn die Westdeutsche Allgemeine Zeitung in einem Kommentar unter der Überschrift ‚Rassismus‘ u.a. schreibt: „Hier von ‚institutionellem Rassismus‘ zu sprechen, wie es der Leiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung, Prof. Dr. Siegfried Jäger, tat, trifft den Nagel auf den Kopf… Im Deutschland der Schröder-Ära wird dieser Begriff, weil er demaskiert, offenbar (noch) als Beschimpfung aufgefasst. MdB Hans Pflug an Siegfried Jäger: ‚Ich halte Ihren Vorwurf des institutionalisierten Rassismus für absolut überzogen‘.“ (WAZ 14.4.00)

Dieser Kommentar bezieht sich auf die drohende Abschiebung einer Roma-Familie aus Duisburg nach Makedonien. Die zwei Kinder, Samanta (9) und Ajnur (12) haben nahezu ihr ganzes Leben in Duisburg verbracht. Ajnur war acht Monate, als er im Oktober 1988 mit seinen Eltern in die Bundesrepublik kam, seine Schwester Samanta wurde 1990 hier geboren. Schon einmal musste die Familie Anfang 1996 unter dem Druck der Ausländerbehörde ausreisen, obwohl eine Petition beim Petitionsausschuss des Landtags anhängig war, die vier Wochen nach der Ausreise der Zumberovs zu ihren Gunsten entschieden wurde.

1998 verschärften sich die Lebensbedingungen der Roma-Familie derart, dass sie sich gezwungen sahen, wieder nach Deutschland zu kommen. Als die Familie im vergangenen Herbst abgeschoben werden sollte, wurde ihr „Fall“ öffentlich gemacht. Auch durch das Engagement des Schriftstellers Ralph Giordano konnte erreicht werden, dass die Duisburger Behörden eine weitere Entscheidung des Petitionsausschusses abwarteten. Dieser sprach sich dann im Februar erneut für ein Bleiberecht der Familie aus.

Doch das Innenministerium folgte dieser Empfehlung nicht, und die Kommune wollte die Abschiebung äußerst kurzfristig umsetzen. Interventionen von Ralph Giordano, Eva-Maria Stange (GEW-Hauptvorstand), Romani Rose (Zentralrat Deutscher Sinti und Roma) sowie vom oben bereits angesprochenen Siegfried Jäger blieben erfolglos, so dass die Familie sich in den Schutz einer Kirchengemeinde begeben musste.

Kann man in diesem Fall von institutionellem Rassismus sprechen? Ich denke ja!

Als die Abschiebung im Frühjahr 1999 drohte, wandten sich Samantas und Ajnurs Eltern an die Institution Grundschule, die beim Rathaus protestierte. Dieser für die Schule ungewöhnliche Weg war nicht zuletzt durch die klare Position der Eltern der Mitschüler/innen von Samanta und Ajnur möglich. Als es dann aber notwendig wurde, an die Öffentlichkeit zu gehen, war für die Schule und das Schulamt jedoch ihre ‚institutionelle Grenze‘ erreicht. Gegen den ‚größeren‘ institutionellen Rahmen des Ausländerrechts, das die Definitionsmacht über die 9-jährige Samanta und den 12-jährigen Ajnur hat, konnte die Schule nicht antreten. D.h. sie konnte ihren Schülern nicht mehr wirklich helfen.

Eine erste Pressekonferenz wurde daher von der GEW durchgeführt, die seitdem die Unterstützungsarbeit für die Familie koordiniert. Doch für die Schule bleibt auch zu klären, welche verheerenden Auswirkungen es auf deren Mitschüler/innen hat, wenn Samanta und Ajnur aus ihrem Kreis gerissen werden, und wie alle Ansätze interkultureller Pädagogik hier zunichte gemacht werden, wenn die Paragrafen letztlich doch die Unterschiede festschreiben.

„… es sind Anwendung und die Gesetze selbst, die eine unmenschliche Spur hinterlassen.“ So der Wortlaut der bereits zitierten WAZ. 1996 bedrängte die Ausländerbehörde die Familie so massiv, dass sie trotz eines laufenden Petitionsverfahrens ausreiste. Dieselbe Behörde wollte jetzt im November erneut das Petitionsverfahren nicht abwarten. Als dann die Entscheidung des Petitionsausschusses vorlag, stellte man den Zumberovs nicht – wie es möglich gewesen wäre – Aufenthaltspapiere aus, sondern wartete auf ein Schreiben des Ministeriums.

Der Minister verwarf den über die Altfallregelungen von 1996 und 1999 gewiesenen Weg des Petitionsausschusses, d.h. die Exekutive stellte sich über die Legislative. Sie tat dies mit dem Hinweis, das Ausländerrecht kenne einen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht. Damit werden von Ministeriumsseite nicht nur oberste Verfassungsgrundsätze ignoriert, sondern auch die Rechte der Kinder, die der Petitionsausschuss bei der Würdigung des Einzelfalles Zumberov eigens berücksichtigt hatte.

Es ist ein Netz der Behörden, die die je strikteste Interpretation anwenden und sich dabei die Verantwortlichkeiten gegenseitig zuschieben. So hatte das Duisburger Rathaus wiederholt auf die Entscheidungskompetenz des Petitionsausschusses und später des Ministeriums verwiesen. Als das Ministerium in letzter Minute als minimale humanitäre Geste anbot, dass die Kinder das Schuljahr noch beenden könnten, wurde ihnen dies von den Verantwortlichen der Kommune verweigert.

Nun mag man argumentieren, dass das Ausländer- und Asylrecht so sehr rassistisch strukturiert ist, dass die Frage nach einem institutionellen Rassismus einer Ausländerbehörde zweitrangig ist. Es kann aber auch angeführt werden, dass es innerhalb einer solchen Behörde durchaus Spielräume und verschiedene Auslegungsmöglichkeiten gibt. Wenn diese Spielräume ständig bewusst geleugnet werden und dabei sowohl gegen den demokratisch legitimierten Ausschuss des Landtags als auch gegen die Rechte der Kinder, wie sie in der Kinderrechtskonvention festgelegt und im rot-grünen Koalitionsvertrag erwähnt werden, entschieden wird, liegt ein Fall von institutionellem Rassismus vor.

Die Frage von ‚institutionellem Rassismus‘ stellt sich sicher in jedem Handlungsfeld und jeder Institution mit einer anderen Akzentuierung. Jede Schule, aus der ein Schüler oder eine Schülerin abgeschoben wird, wird sich auch über ihre Verstrickungen in einer solchen Situation bewusst werden müssen – beim Handeln wie beim Nicht-Handeln.

„Ich habe vorhin davon gesprochen, dass wir das Grundrecht auf Asyl, so wie es seit einigen Jahren neu gefasst worden ist, nicht zur Disposition stellen sollen.
Allerdings führt das geltende Recht in vielen einzelnen Fällen immer wieder zu Entscheidungen, die auch viele von denen für falsch und unvertretbar halten, die im Grundsatz für eine restriktive Asylpraxis eintreten. Ich bekomme viele Briefe, in denen sich Abgeordnete und Unternehmer, Schulklassen, Kirchengemeinden und engagierte Bürger gegen die Abschiebung von einzelnen Flüchtlingen einsetzen. Ich kann das oft sehr gut verstehen.
In den meisten Fällen stellt sich aber heraus, dass diesen Menschen nicht geholfen werden kann. Sie können nicht hier bleiben, weil das gegen geltendes Recht verstieße.
Ich frage mich, ob die Behörden nicht einen größeren Entscheidungsspielraum brauchten, damit sie der jeweils besonderen Situation besser gerecht werden können. Wer das auch will, muss im Parlament für entsprechende Änderungen eintreten. Meine Sympathie dafür hat er.“
(aus
der „Berliner Rede“ von Johannes Rau, gehalten am 12. Mai 2000)