Konturen einer künftigen Migrationspolitik. Von Hans Uske, erschienen in DISS-Journal 6 (2000)
Immer wenn die Union am Boden liegt, greift sie zu ihrer Wunderwaffe, der „Fremdenfurcht“. Mehrere Asylwahlkämpfe der 80er und 90er Jahre haben so funktioniert, und auch die Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft endete in einem glänzenden, nicht mehr für möglich gehaltenen Unionssieg. Diesmal sollte „der Inder“ die Dinge richten. Raus aus dem Spendensumpf, rein in den Rassismus: Kinder statt Inder.
Heraus kam eine „lahme Kampagne“ (FOCUS), die der Union offenbar mehr geschadet als genutzt hat. Keine vollen Boote auf Titelseiten, keine „Ströme“, die nach Deutschland fließen, keine besorgten Kommentare, die „Dämme“ dagegen errichten wollen, und keine mobilisierten Menschenmassen. Statt dessen Prügel von allen Seiten: Die Aktion sei „unmöglich“ (Industrieverbandschef Henkel), „undurchdacht und erbärmlich populistisch“ (Arbeitgeber-Präsident Hundt), Rüttgers sei „nicht politiktauglich“ (FAZ), er sei „von der Rolle“ (Möllemann), betreibe den „größten Schwachsinn“ (Lothar Späth). Selbst die CSU ging auf Distanz.
Warum hat die Kampagne nicht funktioniert? Was ist mit dem Rassismus los? Sind die Deutschen vernünftig geworden?
“Deutschland ist kein Einwanderungsland”, dieses Glaubensbekenntnis hat jahrzehntelang die gesellschaftlichen Debatten geprägt. Die Anwerbung von “Gastarbeitern” in den 60er Jahren gilt als Fehler. Wir hatten Arbeitskräfte gerufen, aber es kamen Probleme. Selbst in der 3. Generation werden Migrantinnen und Migranten als “Problemfälle” betrachtet.
Unter der Oberfläche dieses politischen Konsenses findet aber seit längerem eine andere Debatte statt. Demographen warnen vor einer bedenklichen Bevölkerungsentwicklung, die Deutschen sterben aus. Rentenexperten halten das soziale Sicherungssystem für nicht mehr bezahlbar. Wirtschaftsexperten befürchten einen wachstumshemmenden Arbeitskräftemangel. In all diesen Fachdiskursen hat sich die Gewißheit herausgebildet, daß die diagnostizierten Probleme ohne Einwanderung auf seriöse Weise nicht mehr zu lösen sind.
Auch viele Politiker haben sich längst dieser Sichtweise angeschlossen, konnten dies aber öffentlich nicht äußern. Unionspolitiker hätten sich um ihre Wahlkampf-Wunderwaffe gebracht, SPD-Politiker mußten verhindern, daß die Wunderwaffe wirkte. So wurde Einwanderung zum Tabu.
Ein Tabu, das beinahe schon in den 80er Jahren durchbrochen worden wäre. Damals drohte die Massenarbeitslosigkeit unter 2 Millionen zu sinken. Die Wirtschaft boomte und signalisierte Fachkräftemangel. Sogar Wolfgang Schäuble ließ damals seine Bereitschaft erkennen, über Einwanderung nachzudenken.
Doch dann kam die Wiedervereinigung mit ihrer innerdeutschen Ost-West-Wanderung und einer bisher nicht gekannten Massenarbeitslosigkeit. Migration schien erst einmal entbehrlich. Doch die Probleme blieben. Ende der neunziger Jahre war es nur noch eine Frage der Zeit und des Datums, wann Einwanderung zum allgemeinen Thema würde.
Das Problem: „Überfremdung“ oder „Zweitklassigkeit“
Angeblich soll Kanzler Schröder die Greencard-Idee spontan bei der Autofahrt nach Hannover gekommen sein. Zeit und Ort waren trotzdem gut gewählt. Die Computermesse CeBIT, High-Tech, „unsere Zukunft“. Die Wirtschaft verlangte, der Kanzler gewährte: Arbeitskräfte aus dem Ausland. Eigentlich war an Experten aus Osteuropa gedacht, eher beiläufig an Inder, aber als die BILD-Zeitung am 2. März titelte: „Computer-Inder Surjit Sing Suri – Ich freue mich auf das saubere Deutschland …und einen BMW“, war der „Computer-Inder“ geboren. Spätestens seit Rüttgers Spruch „Kinder statt Inder“ hatte der umstrittene High-Tech-Einwanderer ein markantes Gesicht.
Der Aufschlag des Kanzlers war nicht schlecht gewählt. Denn neben der Furcht vor der „Überfremdung“ quält die deutsche Gesellschaft seit Jahrzehnten eine mindestens genauso große Angst: Noch stehen wir ökonomisch an der Spitze, sind Weltmeister bei den Exporten, haben eine Spitzenstellung in Wissenschaft und Forschung zu verteidigen. Doch diese Gewißheiten werden durch Sorgen und Warnungen verdunkelt: Immer droht der „Absturz“ in die „Zweitklassigkeit“, gar die „Mittelmäßigkeit“. Nur wenn wir an der Spitze bleiben, so ein gängiges Argument, ist unser Sozialstaat finanzierbar, läßt sich der Wohlstand eines Hochlohnlandes bezahlen. In den Zeiten der Globalisierung erscheint dies immer schwieriger.
Gelingt es, die Forderung nach Einwanderung an das Bemühen um den Erhalt der „Spitzenstellung“ zu koppeln, dann hat jede Agitation, die mit der Furcht vor „Überfremdung“ operiert, ein erhebliches Problem. Sie gerät automatisch in den Verdacht, nicht mehr „zukunftsfähig“, nicht mehr „politiktauglich“ zu sein.
Rüttgers hat versucht, dieser Falle zu entgehen, indem er Alternativen aufzeigen wollte: Sein zunächst gemachter Vorschlag, „man muss die Leute nicht herholen“, man könne ja die Arbeit an indische Zentren der Informationstechnologie vergeben (WAZ, 10.3.2000), kann aber zur Horrorvision weitergedacht werden: Unsere Unternehmen wandern aus. Arbeitsplätze gehen nach Indien!
„Kinder statt Inder“ war auch problematisch. Es dauert bekanntlich einige Zeit, bis die Computer-Kids groß sind. Solange kann die Wirtschaft nicht warten. Auch der Vorschlag, bis dahin auf verfügbare Arbeitskräfte zurückzugreifen, also „Arbeitslose statt Inder“, war wenig überzeugend. Die Wirtschaft hat schließlich definitiv erklärt, daß sie mit dem hiesigen Personal die Probleme nicht lösen kann. Der Gedanke, Deutschlands Zukunft ausgerechnet in die Hände von Arbeitslosen, also vermeidlichen „Drückebergern“ und „Faulpelzen“ zu legen, dürfte gerade dem vielzitierten Stammtischpublikum noch größere Probleme bereiten als der Import von Ausländern.
Die Lösung: Strategien der Anpassung an den Rassismus
Dennoch: die Furcht vor der „Überfremdung“ bleibt vorhanden. Sie muß von den Akteuren berücksichtigt werden. Die neue Einwanderungspolitik bleibt am Rassismus orientiert, versucht, seine Regeln nicht zu verletzen. Die Politik muß die Wünsche der Wirtschaft befriedigen und die gefürchtete „Überfremdung“ begrenzen. Dazu bieten sich drei ergänzende Strategien an:
Strategie Nr. 1 heißt Einwanderung ohne Einwanderer, am besten durch eine zeitliche Begrenzung des Aufenthalts. Das funktioniert seit vielen Jahren mit Saisonarbeitern aus Osteuropa, die im Gaststätten-, Baugewerbe und in der Landwirtschaft bei Bedarf pendeln. Neben den wirtschaftlichen Vorzügen – flexibler Personaleinsatz, niedrige Löhne – hat die Wanderarbeit auch den Vorteil, daß die Einheimischen die Fremden in der Regel weder im Alltag noch in der Öffentlichkeit bemerken. Nur selten tauchen diese Menschen in den Medien auf. Eine Ausnahme gab es vor zwei Jahren, als deutsche Arbeitslose zum Ernteeinsatz aufs Spargelfeld sollten, und die Bauern „ihre Polen“ wiederhaben wollten.
Allerdings taugt Wanderarbeit nur für bestimmte Bereiche der Produktion. Ursprünglich sollten ja auch die „Gastarbeiter“ der 60er Jahre rotieren, Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen waren zunächst nur für ein Jahr gültig. Für die Industrie war es aber sehr kostenintensiv, ihre Arbeitskräfte immer wieder neu anzulernen. Die Rotation war bald vom Tisch. Natürlich ist auch die jetzt diskutierte Lösung, die „Computer-Inder“ nur für 5 Jahre ins Land zu lassen, ökonomisch verrückt und auf die aktuelle Situation berechnet. Es geht einzig und allein um die Beruhigung des Publikums. Kein High-Tech-Betrieb wird in fünf Jahren seine in den Betriebsablauf integrierten hochqualifizierten Arbeitskräfte fortlassen. Die Drohung, daß der DAX sinkt, dürfte in diesem Fall jede Abschiebung verhindern.
Strategie Nr. 2 heißt Einwanderung bei gleichzeitiger Einschränkung der Einwanderung. Statt „ungeordnete Armutszuwanderung“, „geregelte Einwanderung“. Statt Chaos, Quote. Statt Schaden, Nutzen. „Während die USA mit der Arbeitserlaubnis großzügiger und mit der Sozialhilfe knausriger umgingen“, liest man im Handelsblatt (21.3.2000), „erweise sich Einwanderung in Deutschland noch weitgehend als Verlustgeschäft.“
Am einfachsten wäre der Austausch: „Inder“ rein – „Asylanten“ raus! – vereinzelt werden auch „Spätaussiedler“ als mögliche Austauschkandidaten gehandelt. „Das in der Verfassung verankerte Grundrecht auf Asyl“, so bemerkte CSU-Generalsekretär Thomas Goppel sinnigerweise, „dürfe keine ‚heilige Kuh‘(!) sein.“
Die Menge der fremden Gesichter bliebe bei dieser Strategie gleich. Und sie hat auch schon einen Namen: „Einwanderungsgesetz“ oder, je nach Geschmack, „Einwanderungskontrollgesetz“ (FDP) bzw. „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ (CSU).
Die Sache hat nur einen Haken: Das Asylrecht ist faktisch längst abgeschafft, die Zahl der Asylbewerber und der Bürgerkriegsflüchtlinge, die in Deutschland geduldet werden, sinkt ständig. Bleibt als Ausweg das Symbol: die formelle Abschaffung des Asylrechts, die Demonstration der Gnadenlosigkeit, die zur Schau gestellte Härte bei der Abschiebung, der „Asylant“ im Schwitzkasten, die Verdoppelung der Grenzstreifen, der kurze Prozeß und was dergleichen Dinge mehr sind im Repertoire der Grenzziehung zwischen „uns“ und „denen“.
Strategie Nr. 3 besteht in der Veredelung des Fremden, aktuell der Verwandlung des „Inders“ in einen „Zauber-Inder“, der so wertvoll ist, daß selbst manchem Rassisten die „Überfremdung“ als exotischer Charme erscheinen mag. „Der Inder“ wird zum Supermann, der durch sein hiesiges Wirken pro Person mindestens drei bis fünf neue Arbeitsplätze für Deutsche schafft. In den USA, so hört man, hat „der Inder“ viele neue Firmen geschaffen, in denen Tausende von Amerikanern Arbeit finden. In der FAZ vom 5.4.2000 rettet er sogar das Sozialgefüge: „In einem sicherlich nicht leichten Prozess muss die Gesellschaft nun lernen, in Zuwanderern Kräfte zu sehen, die das Leistungspotential erhöhen und die insofern auch dazu beitragen, einen reduzierten Sozialstaat zukunftsfest zu machen. Von diesem Umdenken dispensiert sich Rüttgers per Postkarte. Die Gesellschaft kann das nicht.“
Tatsächlich kommt die zufällige Festlegung des einwandernden Computer-Spezialisten als „Inder“ dieser Strategie sehr entgegen. Jahrzehntelang galt „der Inder“ als geradezu beispielhaftes Sinnbild der 3. Welt, ein Hungerleider in Großstadtslums, der Kühe anbetet, statt sie zu essen. Hätte Mutter Theresa ihn nicht mit westlicher Entwicklungshilfe notdürftig ernährt, wäre „der Inder“ wahrscheinlich längst verhungert.
Und dann das! In den Zeiten der Globalisierung kehrt sich scheinbar das unterste nach oben: die Letzten werden die Ersten sein. Die Welt steht Kopf. „Nicht Indien ist das Entwicklungsland. Sondern wir…“ beschwört der Kommentar der BILD-Zeitung. (21.3.2000) Durch die Hereinnahme „des Inders“ machen wir uns diese Entwicklung zu eigen. Die Energie der 3. Welt wird „unser“.