Die britische Regierung zieht die Konsequenzen und trifft eine historische Entscheidung. Von Jobst Paul, erschienen in DISS-Journal 5 (2000)
Seit langem fällt der konservative, auf weiteren kulturellen Stillstand deutende Versuch der deutschen Politik auf, die Reformphilosophie des britischen Premierministers Blair – der deutschen Öffentlichkeit gegenüber – als lediglich ‘ökonomisches‘ Projekt zu deklarieren und die deutsche Gesellschaft von einer wichtigen sozialen Reformbotschaft Blairs möglichst fernzuhalten.
Blairs Nordirlandpolitik oder sein Versuch, das britische Gesundheits- und Erziehungssystem auf den Begriff der sozialen Gerechtigkeit festzulegen, mögen bekannt sein. Skepsis, Ablehnung, vielleicht sogar Erschrecken mögen einen dagegen bewegt haben angesichts der imperialen Pose der britischen Regierung im Kosovo-Krieg.
Ein eigenes Gewicht aber hat eine umwälzende Weichenstellung in der englischen Innenpolitik der Jahre 1997 bis 1999. Auslöser war der Fall des farbigen Schülers Stephen Lawrence, der am 22. April 1993 im Südosten Londons von fünf weißen Jugendlichen brutal attackiert wurde und verblutete. Ein Streifenbeamter der Polizei war nur Minuten später vor Ort. Ein Freund, der Stephen begleitet hatte, blieb unverletzt und wurde zum Hauptzeugen. Innerhalb von Stunden verfügte die Polizei über alle wichtigen Fahndungsinformationen.
Doch die Untersuchung schleppte sich hin. Eine erste interne Untersuchung wies den Verdacht auf Unregelmäßigkeiten zurück. Doch die Indizien dafür verdichteten sich. Die Eltern von Stephen traten an die Öffentlichkeit und berichteten von offenem Rassismus der Untersuchungsbehörden ihnen gegenüber. Doch auch eine zweite interne Untersuchung schlug jede Kritik an der Polizei nieder. Die inzwischen bekannten fünf Verdächtigen wurden nicht festgenommen.
Erst nach vier Jahren, im Juli 1997, also zwei Monate nach dem Sieg von Labour und der Einsetzung der Regierung Blair, betraute der neue Innenminister Straw Sir William Macpherson mit einer umfassenden Untersuchung. Der Ende 1998 abgeschlossene und im Februar 1999 veröffentlichte Macpherson-Report erschütterte die Öffentlichkeit. Dem Report angefügt waren über 70 Einzelempfehlungen an die Politik zur Bekämpfung von Rassismus und Gewalt.
Die wichtigste Einzelheit im gesamten Report aber war die Forderung, dem polizeilichen wie politischen Handeln fortan den umfassenden Begriff des ‘institutional racism‘ zu Grunde zu legen und vom Konzept der ‘Einzeltäter‘ Abschied zu nehmen. Nach nur wenigen Tagen und einer intensiven und kontroversen Debatte räumte die Führung der Metropolitan Police London die Adäquatheit der neuen Definition von Rassismus ein und schwenkte damit ein auf den Stand der britischen Rassismusforschung, die zum Beispiel durch das Werk Stuart Halls geprägt ist.
Die britische Regierung hat inzwischen die Umsetzung der Empfehlungen Macphersons in Schulen und allen öffentlichen Verwaltungen in Angriff genommen und will – nach dem Vorbild von Curricula der Friedenserziehung in Nordirland – die Anti-Rassismus-Erziehung im Fächerkanon aller britischen Schulen verankern. ((Alle Quellen, eine erschöpfende Sammlung von Pressereaktionen, eine Fülle von Weblinks finden sich unter der Internet-Adresse der BBC News: http://news2.thls.bbc.co.uk/hi/english/special_report/1999/02/99/stephen_lawre nce /newsid_285000/285357.stm. Der Macpherson-Report ist im Internet abrufbar unter der Adresse: http://www.official-documents.co.uk/document/cm42/4262/4262.htm ))
Mit der künftigen Orientierung am Begriff des ‘institutional racism‘ hat die britische Politik nicht nur sich selbst, sondern die britische Gesellschaft insgesamt einem wohl unumkehrbaren Reflexionsprozeß unterworfen. Entscheidend für die erstaunlich schnelle Akzeptanz, die dieser Schritt in der Öffentlichkeit gefunden hat, scheint die Tatsache zu sein, daß es Blair und seinem Innenminister Straw gelungen ist, der Öffentlichkeit, aber auch den betroffenen Institutionen wie Polizei, Schulen und Krankenhäusern gegenüber, das Konzept ‘institutional racism‘ als sanktionsfreie Selbstreflexion der Gesellschaft und ihrer Institutionen zu trennen vom Vorwurf, diese Institutionen unterlägen krimineller Energie und setzten bewußt Gewalt ein. Einerseits wird damit die Verschärfung der Verfolgung von rassistisch motivierten Gewalttaten möglich, doch andererseits kann diese Verschärfung nun von keiner Seite mehr angeführt werden als Entlastungsargument dagegen, ‘institutional racism‘ aufzuarbeiten.
Auch wenn der nun gelegte, neue kulturelle Ausgangspunkt in England noch keine Aussage zuläßt, wie er sich in Zukunft tatsächlich einlösen wird, ist es doch schockierend, dem die derzeitige Lage in Deutschland gegenüber zu stellen. Erst recht nach dem Fall Stephen Lawrence wäre es in Großbritannien undenkbar, daß die Medien, die Politik, die Polizeiführungen und andere Institutionen auch nur einen einzigen Fall eines rassistisch motivierten Verbrechens mit buchhalterischer Gleichgültigkeit und dem ‘üblichen‘ bürokratischen Gang beantworteten.
Demgegenüber können in Deutschland offenbar auch nicht Dutzende schrecklicher rassistisch motivierter Verbrechen die politischen Institutionen und die großen Gruppierungen zur Einsicht u.a. in ihre eigene Verstrickung in einen ‘institutional racism‘ nötigen, ohne den diese Verbrechen wohl nicht denkbar wären.
Freilich gibt es Signale in eine andere Richtung. Ein bundesweites Bündnis gegen Extremismus und Gewalt, wie es Innenminister Schily und Justizministerin Däubler-Gmelin angekündigt haben, hätte allerdings nur dann eine Funktion, wenn die Träger dieses Bündnisses zunächst sich selbst zum Thema machten und sich die deutsche Politik dem Thema des ‘institutional racism‘ stellte. Dagegen würde ein Bündnis der moralischen Appelle, mit denen die Kirchen, die Politik und die Verbände der Gesellschaft gegenüber träten, nur den schlimmen kulturellen status quo in Deutschland zementieren. Dies kann allerdings nicht verdecken, daß auch die britische Gesellschaft, auch wenn sie nun von ihrer Spitze her einen Prozeß der kulturellen Selbstreflexion eingeleitet hat, vor konkreten Problemen der Umsetzung steht. Denn der Griff zu den gewohnten Instrumenten, wozu die britische Regierung neigt, einerseits zu mehr Kontrolle und Überwachung, ja sogar der Überwachung von Bürgern, Angestellten oder Beamten, Politikern oder Wissenschaftlern untereinander, andererseits von dezidierter Erziehung in Schulen, Fortbildung oder Ausbildung, übergeht, daß zunächst auch diese Mittel der Reflexion zu unterwerfen wären.
Wie eine verstärkte Selbstkontrolle nicht in Denunziation und Heuchelei umschlägt und sich schließlich darin erschöpft, ist eines dieser Probleme. Nicht weniger massiv dürfte das Problem werden, für alle gesellschaftlichen Orte, wo unterrichtet und erzogen wird, ein gesamtgesellschaftlich getragenes, fest umrissenes Curriculum gegen Ausgrenzung und Gewalt zu formulieren, das für Lernende an allen Unterrichtsorten ähnlich zugänglich sein müßte und daher – zumindest in Inhalt, Form und Ablauf, im sogenannten ‘Stoff‘ also – auch nicht abhängig von den Einzelpersönlichkeiten der Unterrichtenden sein dürfte.
Wohl erst beim konkreten Durchbuchstabieren des Problems einer pädagogischen Umsetzung des Konzepts des ‘institutional racism‘, werden – wenn ein aktives Erkennen von Verstrickung und nicht nur passive Betroffenheit das Ziel ist – Elemente wie Erstaunen, Angst und Aggression, Verunsicherung, Orientierungslosigkeit u.a.m. in den Blick kommen, Eruptionen und Emotionen, das Aufeinanderprallen von Verdrängung und Aufklärung, die möglicherweise einer anhaltenden Reflexion über eigene Verstrickungen vorangehen. Dies alles aber müßte ein gesamtgesellschaftlich getragenes Curriculum gegen Ausgrenzung und Gewalt vorher bedacht und sorgfältig aufgearbeitet haben. Andererseits ist es ja gerade der Kern des Konzepts des ‘institutional racism‘, daß diese Prozesse nicht weiter – wie bisher – in die Schulen und Ausbildungsstätten abgedrängt und verdrängt werden können. Im Gegenteil: Erst wenn gesamtgesellschaftlich jene Eruptionen und Emotionen benannt, dann durchschaut und schließlich verarbeitet wurden, die das selbstbezügliche Konzept des ‘institutional racism‘ aufbrechen läßt, können sich die Ergebnisse dieses Prozesses als gesamtgesellschaftlich getragenes Curriculum in ‘Lernstoff‘ niederschlagen. Insofern wird sich zunächst gesamtgesellschaftlich unter Erwachsenen abspielen müssen, was derzeit hauptsächlich auf Kinder und Jugendliche (und deren Erzieher) projiziert wird ((Ein Vorschlag, wie ein entsprechendes Curriculum strukturiert sein könnte, findet sich in Jobst Paul, ‹Erinnerung› als Kompetenz (DÍSS) Duisburg 1999.)).
Ein mögliches Bündnis gegen Extremismus und Gewalt in Deutschland wird deshalb nicht nur die Bürde tragen müssen, im Anschluß an die kulturkritischen Entwicklungen z.B. in Großbritannien, aber auch in den USA, und gegen offenkundige Widerstände, Lethargie und Apathie auch in diesem Land einen Prozeß der institutionellen Selbstreflexion von oben einzuleiten. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wird man mit diesem Bündnis auch die Erwartung verbinden dürfen, daß es sich insbesondere der in Deutschland lastenden Verantwortung für Antisemitismus stellt. Daß dies bis heute in Deutschland nicht geschehen ist, meinte wohl Ignatz Bubis, der einer der konstruktivsten und produktivsten Denker des geplanten Bündnisses gewesen wäre, als er sein pessimistisches Resumee zog. Sollte das Bündnis tatsächlich zustande kommen, wird es dieser Anforderung nicht entkommen können – oder aber scheitern.