Rechtsextremismus unter ostdeutschen Jugendlichen – Ein Interview mit Bernd Wagner, geführt von Joannah Caborn, erschienen in DISS-Journal 5 (2000)
‘No go areas’, ‘national befreite Zonen’, die regelmäßigen, inzwischen meist kleingedruckten Schlagzeilen „Ausländer in Magdeburg verprügelt“: dieses Bild des wilden, ausländerfeindlichen Ostens geistert täglich durch die Medien, und bei Landtagswahlen in den östlichen Ländern sind Stimmabgaben für rechtsextreme Parteien zwischen 10% und 20% nicht unüblich geworden. Die gewaltbereiten Täter sollen aber immer aus einer kleinen Minderheit stammen und die Wahlergebnisse werden von Vertretern der Demokratie wiederholt als reine ‘Proteststimmung’ verharmlost. Der Berliner Kriminologe Bernd Wagner vom Zentrum Demokratische Kultur findet in seiner Arbeit mit Jugendlichen mehr als nur vereinzelte Hinweise auf einen verbreiteten und gewaltbereiten Rechtsextremismus unter ostdeutschen Jugendlichen.
DISS: Das Phänomen des verbreiteten Rechtsextremismus in Ostdeutschland ist nicht immer leicht zu erkennen. Trotz eindeutiger Statistiken gibt es keinen Aufschrei; Besucher aus dem Westen halten vergebens danach Ausschau. Warum fällt der Rechtsextremismus nicht so richtig auf?
BW: Es kommt darauf an, wo sich der suchende Beobachter hinbegibt. Es gibt Orte und Zeiten, wo rechtsextreme Uniformierung durchaus wahrnehmbar ist oder sogar bedrohlich erscheint und das im alltäglichen Alltag. Das ist aber nicht das eigentliche Problem. Wichtig ist zu wissen, daß sich Rechtsextremismus und Völkisches in den Köpfen und Mentalitäten sehr vieler „Harmloser“ abspielt und in vielfältigen Situationen zum Ausdruck kommt, auch als Gewalt. Das streut durch viele Jugendkulturen, erfaßt alle sozialen Milieus und Altersgruppen und spielt in vielen sozialen Räumen. Es bedarf heute nicht mehr der deutlichen optischen Akzentuierung mit ihrer missionarischen Rückkoppelung. Der Flickenteppich rechtsextremer Ideologie lebt „im Volke“, militante und uniforme Gruppen sehen sich als legitimierte „Vollstrecker“.
DISS: Sie vertreten die Ansicht, daß der neue Rechtsextremismus in Ostdeutschland seine Wurzel in der DDR hat, Produkt der DDR ist. Könnten Sie das etwas ausführen?
BW: Der Rechtsextremismus in Ostdeutschland hat eine und auch starke Wurzel in Ostdeutschland. Sie besteht aus mehreren Momenten: In der DDR entwickelte sich in den 80er Jahren eine rechtsextrem-orientierte Jugendszene und -bewegung, die Gruppierungen, die dezentral vernetzt waren, ebenso einschloß wie ständige Ideologietransfers und Gewalt gegen Personen und Gruppen, ihre Treff- und Wohnorte, die als „undeutsch“ definiert oder als „Ausländer“ geortet wurden. Diese Szene erreichte es, daß sie in vielen Regionen und Orten zu einer eigenständigen „Sozialisationsmacht“ wurde. Zeitgleich wuchs mit der verfallenden geistigen und ökonomischen Integrationskraft des Staates und der SED die Orientierung auf das deutsche Nationale in der Gesamtbevölkerung der DDR an. In großen Teilen war dies auch von nationaler Überheblichkeit und völkischen Grundannahmen des „deutschen Wesens“ getragen. Hier spielen reaktivierte Diskurse anderer geschichtlicher Epochen eine große Rolle. Insofern war schon in der DDR der „Boden“ der gesellschaftlichen Mitte gegeben und es konnte schon damals nicht von Jugendlichen und Rechtsextremismus allein gesprochen werden.
DISS: Mir sind zwei Ähnlichkeiten zwischen der Situation in Ost- und Westdeutschland aufgefallen, die dazu beitragen, daß es eine rechtsextreme Szene gibt: im Osten wie im Westen gibt es relativ kleine Gruppen von gut organisierten, gut informierten, sehr engagierten Neonazis, von Ihnen auch „Ideologieproduzenten“ genannt. Und im Osten wie im Westen tendiert der allgemeine Diskurs nach rechts. Stammtischparolen gegen Ausländer gewinnen an Hoffähigkeit und schlagen sich in der Bundespolitik nieder. Trotzdem ist der Rechtsextremismus besonders bei Jugendlichen im Osten weiter verbreitet als im Westen. Was sind die bleibenden Unterschiede zwischen den ehemaligen Teilen Deutschlands, die dazu beitragen?
BW: Die Ähnlichkeiten sehe ich auch. Der Unterschied, was Jugend betrifft, ist, daß rechtsextrem-orientierte Gruppen und Szenen vielerorts als starke Sozialisationsmacht wirken und sogar mancherorts die Hegemonie ausüben, was einen enormen Sog auf Jugendliche ausübt. Gleichzeitig gibt die „zivile Gesellschaft“ und politische Demokratie wenig aktive menschenrechtliche Lebensorientierungen und Begrenzungen rechtsextremen Wirkens in der Alltagskultur. Mitunter werden sogar Menschen und Initiativen, die dies anmahnen und vollziehen, als Nestbeschmutzer oder gar als Linksradikale verunglimpft und gemobbt, auch, und das ist besonders schmerzlich, von „Demokraten“ in repräsentativer Verantwortung.
DISS: Warum ist die Gewaltakzeptanz unter ostdeutschen Jugendlichen so hoch?
BW: Da spielen viele Momente hinein, die oben schon zum Teil bezeichnet wurden. Wesentlich jedoch scheint mir eine Mischung von völkischer Vollstreckeridee und gesellschaftlicher Ohnmachtserfahrung zu sein, die in den Gruppen kultiviert wird und die einzelnen erfaßt. Das lockt auch Kinder und Jugendliche an, die aus ihrer Biografie eine große persönliche Gewaltbereitschaft mitbringen und die somit rechtsextrem formiert werden. Die gesellschaftliche Ohnmachtserfahrung hat wohl auch eine ostdeutsche Spezifik, die darin besteht, daß die Ostdeutschen erneut zum Objekt von Geschichte gemacht wurden, eine Beleidigung darin gesehen wird, daß das westdeutsche System die „Volksgenossen Ost“ weniger wichtig nimmt als „den Ausländer“, der ja eigentlich weniger wert sei.
DISS: Was sagen Sie zu der Studie von Detlef Pollack von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, die diesen Sommer veröffentlicht wurde? Nachdem er Umfragen bei Jugendlichen in Frankfurt/Oder durchgeführt hatte, kam er zu dem Schluß, daß sie in Sachen Ausländerfeindlichkeit „besser als ihr Ruf“ wären, denn immerhin 75 Prozent würden sogar Ausländer zu sich nach Hause mitnehmen. Daß 25 Prozent es nicht tun würden, wäre aus anderer Sicht die eher interessante und beunruhigende Aussage dieser Statistik.
BW: Ich weiß nicht, was uns die Bewertung der Kollegen von der Viadrina sagen soll. Ich finde es schon schlimm, was gegenwärtig als Befunde in der Studie gilt und worüber im Einzelnen zu sprechen sein dürfte. Ich hoffe, daß nicht gemeint ist, es sei alles ganz normal, wie der Bürgermeister der Stadt Spremberg meint, daß es no go areas gibt, Tabubrecher selbst schuld sind, wenn sie angegriffen werden und Ausländer zu ihrem Schutz mit einer Ausgangssperre in der Zeit von 22-6 Uhr belegt werden sollten.
DISS: Ich glaube, dieser Hoffnung können wir uns alle anschließen. Vielen Dank für Ihre Einschätzung Herr Wagner.