Die Antisemitismusforschung kritisiert Initiativen

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 – steht aber selbst mit leeren Händen da. Ein Tagungsbericht von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 23 (2012), 44-46

In welchem Verhältnis steht Antisemitismus zur jeweiligen Lebenswelt, zum Sozialraum und zu den daraus resultierenden Einstellungsmustern insbesondere Jugendlicher? Und wie können umgekehrt Sozialräume oder Lebenswelten zur Antisemitismusprävention sinnvoll einbezogen werden? Das waren die Leitfragen, zu denen die Veranstalter, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.), die Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘ (EVZ) und das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin in die Werkstatt der Kulturen in Berlin (26. bis 27. Oktober 2011) eingeladen hatten.

Um es vorweg zu sagen: die Berliner Initiativen, die sich mit ihren Projekten vorstellten, haben die Fragen, die das Symposium aufwerfen wollte, für sich längst beantwortet. Angesichts von ‚Brennpunkt-Schulen’, ‚Problem-Stadtteilen’, jugendlichen Gruppen mit Minderheiten-Erfahrungen und/oder Gewalt-Problemen hat sich in Berlin eine erstaunliche Vielfalt von Initiativen gebildet, die ihr bürgerschaftliches Engagement und ihre pädagogische Expertise auf konkrete Sozialräume richten. Oder umgekehrt: Die Breite und Vielfalt dieser Initiativen macht erst den Bedarf sichtbar, der anderswo gern negiert oder verdrängt wird. Von daher ist Berlin mit Blick auf Integration angesichts dieser Fülle der Initiativen nicht etwa ein schlimmes Pflaster, sondern ein soziales Laboratorium, in dem beispielhafte, wenn auch anstrengende Arbeit geleistet wird.

Gleichwohl gab der Titel des Symposions: „Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft“ der Tagung zu Beginn einen missverständlichen Beigeschmack, so als kämen für Praktiken des Antisemitismus vor allem oder sogar ausschließlich migrantische, sprich: ‚islamische‘ Sozialräume infrage.

Dieser durchaus bedeutungsvolle Lapsus der Veranstalter blieb nicht nur folgenlos, weil er mit erheblichem Nachdruck kritisiert wurde (Juliane Wetzel), sondern weil die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V., der Verein Karame e.V., die Stadtteilmütter Friedrichshain-Kreuzberg, 7xjung (und andere) sehr eindrucksvolle Einblicke in die breite Praxis konkreter Sozialarbeit gegen Antisemitismus gewährten. Monique Eckmann von der Genfer Hochschule für Soziale Arbeit steuerte einen beeindruckenden Überblick über die methodische Bandbreite pädagogischer Interventionen bei, während Dierk Borstel vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung den Initiativen mit einem Blick auf die empirische Forschung zur Seite sprang: Wo Partizipation von unten erobert und von oben ermöglicht wird, so das Resümee Borstels, haben Ausgrenzungspraktiken, und damit auch Antisemitismus erheblich geringere Chancen.

Andere Referenten waren weniger überzeugt und zogen den Sinn oder gar die Legitimation einer hauptsächlich sozialraum-bezogenen Arbeit gegen Antisemitismus grundsätzlich in Zweifel.

Der Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration, Günter Piening, unterstellte gar, es handle sich dabei um ein konservatives Manöver, um von massiven Verdrängungen und Defiziten zentraler Regierungspolitik abzulenken. Im Gegenteil ermögliche erst eine langfristig angelegte Integrationspolitik, wie etwa die der Berliner Stadtregierung, den Erfolg von Initiativen vor Ort.

Der Freiburger Pädagogikwissenschaftler Albert Scherr wandte ein, eine Antisemitismusprophylaxe vor Ort unterschätze die ideologische Energie von Rassismus und Antisemitismus, die aus institutionellen Verfestigungen und langfristig etablierten Diskursen herrühre. Letztlich handelt es sich, glaubt man Scherr, bei der Antisemitismusprophylaxe vor Ort um Kosmetik, worüber einige kurzfristige Erfolge nicht hinweg täuschen dürften.

In der Tat bestätigte eine anhand von 32 Interviews mit Berliner Pädagogen durchgeführte Aussagenanalyse (Heike Radvan), dass ausgerechnet jene, die vor Ort Schülerinnen und Schüler gegen Rassismus und Antisemitismus wappnen sollen, rassistischen und antisemitischen Klischees selbst in einem Ausmaß huldigen, dass sie sich als machtvolle Verstärker von rassistischen und antisemitischen Einstellungen bei Schülerinnen und Schülern entpuppen, statt Aufklärer dagegen zu sein.

Angesichts der massiven Kritik an einer ‚bloß‘ sozialraum-bezogenen Arbeit gegen Antisemitismus durfte man allerdings erwarten, dass die Kritiker die Grundlagen einer ‚tiefer reichenden‘ Strategie, d. h. überzeugende, didaktisch auch umsetzbare Erkenntnisse der Antisemitismusforschung vorlegten. Dies vermochten sie jedoch nicht.

Dass antisemitische Botschaften auf „Differenzkonstruktionen“ zurückgehen, dass sie zum ‚kollektiv geteilten Wissen‘ und zum ‚Wissensvorrat der peer-Gruppe‘ gehören (Scherr), das wussten wir durchaus schon – doch worin die gelernte Lektion besteht, wie und warum sie immer wieder funktionieren kann und wie sie pädagogisch dekonstruiert werden könnte, das erfuhr man nicht. Stattdessen bekam man den guten Rat, noch mehr „Wissen über den Antisemitismus“ verbreiten zu sollen (Juliane Wetzel) – wobei, über die bloße Distanzierungsgestik hinaus, nicht einmal hier konkrete Inhalte genannt wurden.

Immerhin herrschte Einigkeit über das Analysedefizit: Wie kommt es, dass Sprecher, die antisemitischen Aussagen zustimmen, regelmäßig auch andere ‚Minderheiten‘ herabsetzen? Was ist andererseits das Alleinstellungsmerkmal antisemitischer Herabsetzungen z.B. gegenüber rassistischen Aussagen?

Insbesondere zu dieser Frage steuerte erneut Monique Eckmann von der Genfer Hochschule für Soziale Arbeit einen konstruktiven Vorstoß bei. Nach Eckmann können Betroffene (Juden und Nichtjuden) einer gemeinsamen Diskriminierungserfahrung unterworfen sein, doch werden Juden in der Regel anders diskriminiert als jene, die Ziel rassistischer Diskriminierung sind. Dass von rassistischer Gewalt Betroffene als Gegenmittel zu antisemitischen Anschuldigungen greifen können, zeige ebenfalls einen systemischen Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus. Andererseits spreche vieles für eine umfassende, gemeinsame Strategie, eben weil antisemitische und rassistische Herabsetzungen einem ähnlichen Strickmuster folgten.

Zudem – und damit setzte Eckmann den einzigen mutigen Akzent der Tagung – seien Rassismus als auch Antisemitismus Phänomene, die beide aus einem christlich-abendländischen Kulturkontext heraus entstanden sind. Von daher müssten in der Analyse die vor diesem Hintergrund entstandenen Überlegenheitstheoreme beachtet werden, was zu wenig geschehe.

Damit deutete Eckmann noch sehr zurückhaltend auf das schwer zu tolerierende, konservative Selbstverständnis der Antisemitismusforschung dort, wo sie sich immer noch fraglos innerhalb eines christlich-abendländischen Kulturkontextes wähnt und dessen moralische Legitimität nicht antasten (lassen) will. Sie bleibt dann umgekehrt natürlich auch im Rahmen dessen, was die christliche Apologetik, die um ihren Bestand kämpft, als Grenze der Selbstprüfung zulässt.

So ist es kein Wunder, wenn die maßgebliche Antisemitismusforschung bisher offenbar keine Analyse des Rassismus und Antisemitismus gemeinsamen Ausgrenzungskonstrukts rezipiert hat, geschweige denn dessen abendländisch-kulturellen Voraussetzungen aufarbeitet.

In Berlin standen die Vertreter der Lehre den praktischen Pädagogen daher wieder einmal mit leeren Händen gegenüber, um dann – nach jahrzehntelanger Antisemitismusforschung – den denkwürdigen Satz zu verlauten: „Da stehen wir total am Anfang!“ (Dierk Borstel) Man mag es nicht mehr hören.