Mit dem Bürgergeld in die Hängematte

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Kontinuität und Wandel beim „Sozialmissbrauch“

Von Ursula Kreft und Hans Uske

„Sozialmissbrauch“ ist seit Jahrzehnten ein häufig erwähntes, zentrales Thema in Debatten und Medien-Berichten über den Sozialstaat, aktuell auch bei der Einführung und der Erhöhung des „Bürgergelds“. Wir nehmen dies als Anlass für einen kleinen Rückblick auf Kontinuität und Wandel populärer Vorstellungen über den Sozialstaat und den immer wieder vermuteten Missbrauch, verbunden mit einem kleinen Ausblick.

 

  1. Welche Argumentationsfiguren kennzeichnen die Redeweise vom „Sozialmissbrauch“?

Bei Äußerungen über „Sozialmissbrauch“ fallen bestimmte Argumentationsfiguren besonders auf, weil sie in den Medien wie in politischen Reden über Jahrzehnte hinweg immer wieder auftauchen. Wir wollen zunächst zwei zentrale Argumentationsfiguren anhand von Beispielen aus früheren Jahren skizzieren, um dann darzustellen, was sich im Diskursstrang zum „Sozialmissbrauch“ verändert hat und was nicht.

 

  1. Dichotomie als Basis: „Wir“ als Opfer, „Sie“ als Täter

„Sozialmissbrauch“ setzt ein Gegensatzpaar voraus: Die einen missbrauchen, die anderen werden missbraucht. Es gibt ein gutes, missbrauchtes „Wir“ und ein böses, missbrauchendes „Sie“. Die dichotome Konstruktion der Welt erfolgt in der Regel über Narrationen, in denen Täter und Opfer eindeutig unterscheidbar sind, wie im folgenden Beitrag (1981) von Norbert Blüm, ein Jahr später Bundesarbeitsminister:

„Wer unter dem Schutzdach der deutschen Sozialversicherung unter den Palmen von Bali in der Hängematte liegt, der betreibt Ausbeutung. Nämlich Ausbeutung derjenigen, die für ihn arbeiten.“[1]

Neben der Argumentationsfigur „Sie als Täter“ (faul) versus „Wir als Opfer“ (arbeitsam) enthält der Beitrag von Norbert Blüm weitere Elemente, die zum Standard-Repertoire der Debatten über „Sozialmissbrauch“ gehören: Kollektivsymbole wie „Schutzdach“ (positiv) und „Hängematte“ (negativ) sowie die „Palmen von Bali“. Während das „Schutzdach“ später kaum noch auftauchte, machte die „Hängematte“ zunächst eine steile Karriere und gehörte zu den beliebtesten Kollektivsymbolen, wenn ein Faulenzerleben auf Kosten des „Wir als Opfer“ assoziativ auf den Punkt gebracht werden sollte. Aktuell ist die „Hängematte“ verblasst und wird nur selten reproduziert.

Bemerkenswert ist auch der Schauplatz, den Norbert Blüm für seine Narration gewählt hat: Die Hängematte schaukelt „unter den Palmen von Bali“. Ferne Länder mit subtropisch-tropischem Klima und exotischen Genüssen dienten häufig als Schauplätze für „Sozialmissbrauch“. Wir werden später zeigen, dass „Sozialmissbrauch“ auch in weniger luxuriösen Kulissen erzählt werden kann.

In den Narrationen der Boulevard-Presse erhalten „Sie als Täter“ häufig einen einprägsamen Namen, während „Wir als Opfer“, die das Luxusleben finanzieren, nicht explizit erwähnt werden. In Florida lebt zum Beispiel „Miami-Rolf“: „Bei 32 Grad, mildem Wind und Nichtstun.“ (BILD-online, 3.9.2003) Das Sozialamt zahle ihm „eine schöne Wohnung am Strand von Miami“. (BILD-online, 18.8.2003). Die Ausbeutung des „Wir“ geschieht aber auch mitten in Deutschland, wie in der Narration über „Viagra-Kalle“. Er wird vom Sozialamt mit Sex-Stimulanzien versorgt: „Für jeden Tag eine Tablette mit der höchstmöglichen Dosierung: ca. 4500 €uro im Jahr.“ (BILD-online, 13.8.2003)

Solche Narrationen zum „Sozialmissbrauch“ folgen einem Grund-Muster. Auf Seiten des „Sie“ findet man kollektivsymbolische Merkmale für Nichtstun / Arbeitsscheu (z. B. in der Sonne liegen, täglich Sex) in Kombination mit Merkmalen, die eine Privilegierung gegenüber dem Durchschnittsverdiener feststellen (z. B. Wohnung am Strand, Segelyacht, teures Auto). Das Grund-Modell kann mit unterschiedlichen Accessoires immer wieder reproduziert und zu einem lebendig wirkenden Bild ausstaffiert werden. Dabei genießen „Sie“ immer das, was „Wir“ zurzeit nicht oder nie erreichen können. Diese fest verankerte Kombination „Arbeitsscheu plus Privilegierung“ macht die Narrationen zu exemplarischen Geschichten, die über den individuellen Fall hinausweisen. So wie beim Eisberg die größte Masse unsichtbar unter Wasser liegt, lauern hinter den exemplarischen Geschichten bisher unentdeckte Massen weiterer Miami-Rolfs und Viagra-Kalles, die „Sozialmissbrauch“ auf Kosten des „Wir“ betreiben. Der Einzelfall ist ein narratives Exemplum; er steht exemplarisch für eine ganze Gruppe.

Die Kombination aus Arbeitsscheu und Privilegierung beim „Sie“ wirkt zugleich als Skandal, da sie nicht-normal erscheint. Als normal gilt die Kombination „Arbeitsscheu führt zu Armut“, aber auch die Kombination „Arbeitsamkeit führt zu Privilegien“. Die Sozialhilfe wird in den Narrationen skandalös, da sie Privilegien verschenkt, die das arbeitsame „Wir“ nicht erhält. Das „Wir“ muss in diesen exemplarischen Geschichten nicht als fiktive oder reale Person erscheinen, da die Adressaten der Narration die Leerstelle ohne weiteres füllen können – mit sich selbst. Das „Wir“ wundert sich: Ein Arbeitsloser wohnt in Miami wie die Privilegierten, mitten unter Reichen? Wie ist sowas möglich? So wird das „Wir“ zum Opfer von Missbrauchern, die den Sozialstaat ausplündern.

Bemerkenswert ist die Rolle der Sozialämter, deren Verhalten in den Narrationen zumindest intransparent und schwer nachvollziehbar, wenn nicht regelwidrig wirkt. Ratlosigkeit entsteht: Ist es denn nach den deutschen Gesetzen korrekt, wenn Sozialämter Viagra und Wohnungen in Miami finanzieren? Falls das Herumliegen unter Palmen „Ausbeutung“ ist: Warum zieht das Sozialamt dem Ausbeuter nicht die Hängematte unterm Hintern weg? Oder ist Ausbeutung erlaubt? Möglicherweise werden die Sozialämter belogen, wie in der Geschichte von „Yacht-Hans“. Er hat dem Sozialamt seine Segelyacht verschwiegen, wurde aber erwischt. (BILD-online, 9.9.2003) Der Düsseldorfer Express (27.2.1996) berichtet ebenfalls über verschwiegene Einkünfte. Die Narration schildert „das goldene Leben eines Düsseldorfer Arbeitslosen: Über 2000 Mark kassierte ein 40jähriger Schweißer jeden Monat vom Staat (Alu, Sozialhilfe) – und verdiente nebenbei nochmal rund 9000 DM monatlich als Prospektverteiler“.

Im folgenden Bericht werden mehrere kurze narrative Elemente aufgereiht und zu einer Gruppen-Narration verbunden, um die Beweiskraft zu steigern. Die Gruppe, der hier „Sozialmissbrauch“ bescheinigt wird, sind Arbeitslose, deren Bewerbungen von Arbeitgebern abgelehnt wurden:

„Da kommen Leute, die ‚soeben eine Tbc überstanden‘ haben, unter ‚schweren Depressionen‘ leiden oder gegen gewisse Tätigkeiten hochgradig ‚allergisch‘ sind – Leiden, die sich bei einer späteren Prüfung als frei erfunden erweisen. Sekretärinnen ‚bewerben‘ sich mit einem Probediktat, das von absichtlichen Fehlern nur so wimmelt, andere geben an, unter Kleptomanie zu leiden. Aufsehen erregte auch jener Fall einer Arbeitslosen, die ihre Großmutter zum Arbeitgeber schickte. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.“ (Rheinischer Merkur, 6.3.1981)

Die Frage „Was ist denn eigentlich Sozialmissbrauch?“ lässt sich mit Hilfe dieser Narrationen nicht eindeutig beantworten. Es gibt vielmehr eine Fülle unterschiedlicher Möglichkeiten, zum „Sie“ und damit zum Täter / zur Täterin zu werden. Nichtstun in exotischer Kulisse kann ebenso kritikwürdig sein wie eine mit Fleiß ausgeübte (aber verheimlichte) Tätigkeit oder die Ablehnung einer vom Arbeitsamt vorgeschlagenen Arbeitsstelle. „Sozialmissbrauch“ kann überall entdeckt werden, wenn sich Kollektivsymbole für „Nichtstun / Arbeitsscheu“ mit solchen für „Privilegierung“ verbinden. Wer seinen Urlaub in einem Hinterhof in Gelsenkirchen-Ückendorf auf einem Campingstuhl verbringt, kann durchaus zum privilegierten Täter werden. Die entsprechende Narration könnte so beginnen: „Camping-Kalle – beim Doppelkopf mit netten Damen verzockt er Hartz 4 und Kindergeld. Sein Motto: Arbeit lauf weg, ich komm. Den Kühlschrank fürs eiskalte Bier stellt das Jobcenter zur Verfügung.“

Bei Narrationen über „Sozialmissbrauch“ sind der Phantasie tatsächlich keine Grenzen gesetzt, wie auch das folgende kuriose Exemplum zeigt. Im SPIEGEL ritt 1978 ein Stellungsuchender „hoch zu Ross“ zum Arbeitgeber: „Vom Pferd herab reichte er dem Firmenchef, der gerade das Werk betrat, das Formular des Arbeitsamtes. Dann trabte er, mit dem unterschriebenen Formular und natürlich ohne Job, wieder davon.“ (Der Spiegel, 27.11.1978) So viel romantische Poesie ist nun doch etwas fragwürdig. Könnte es möglich sein, dass ein Journalist die sprichwörtliche Redensart „hoch zu Ross“, die ein Firmenchef benutzte, wörtlich genommen und daraus eine Narration gebastelt hat, weil er den Sinn der Redensart (mit arroganter Miene) gar nicht kannte? Sei’s drum. Das Grund-Muster ist erfüllt, die Argumentation funktioniert: Während „Wir“ zur Arbeit ins Werk gehen, genießen „Sie“ das arbeitslose Leben bei einem (luxuriösen) Hobby und sehen arrogant auf uns herab.

Ein häufig genutztes Beweismittel in Berichten über „Sozialmissbrauch“ sind Zeugen. Es gibt viele Zeugen, sie sind kompetent und können unglaubliche und vor allem unzählige Geschichten erzählen: „Tolldreiste Geschichten über ‚Faulpelze‘ und ‚Sozialparasiten‘ wissen die Personalchefs vieler Unternehmen gleich im Dutzend zu erzählen.“ (Der Spiegel, 27.11.1978, S. 100) Auch das freiwillige Zeugnis und Beicht-Bekenntnis zum „Sozialmissbrauch“ gibt es.[2] Zum Beispiel erzählt uns der STERN (22/2000) die Geschichte des Arbeitslosen Ernst: „Sein Lebensziel ist es, ‚Deutschlands längster Arbeitsloser‘ zu werden.“

Arbeitslose können außerdem durch einen einfachen Test Zeugnis ablegen. Als Ende der 1990er Jahre gefordert wurde, Arbeitslose sollten Laub fegen oder Spargel stechen, stellte die BILD-Zeitung fest: „Arbeitslose flüchten von Spargelfeldern“ und fragte: „Sind wir zu fein uns zu bücken?“ (BILD online, 19.5.1998) Die Narration fordert zum Selbsttest auf: Sind Wir bereit uns zu bücken? Oder sind Wir arbeitsscheu? Das „Wir“ ist hier offenbar unter einen bösen Verdacht geraten: Möglicherweise sind „Wir“ zu „fein“ zum Arbeiten, also ein vom Luxus verwöhntes „Sie als Täter“. Wie konnte eine derartige Verwechslung von „Wir“ und „Sie“ passieren? Ist denn 1998 die dichotome Welt aus den Fugen geraten? In den folgenden Kapiteln erläutern wir, wie es zu diesem Wandel kam.

 

  1. Bedrohung des Gleichgewichts: Arbeit ohne Gerechtigkeit und Versuchung zur Faulheit

Die Dichotomie von „Wir und Sie“ ist eng verbunden mit einer weiteren Argumentationsfigur, die Transferleistungen als latente oder manifeste Störung des sozialen Gleichgewichts und als ungerecht oder bedrohlich beschreibt. 1991 urteilte zum Beispiel der STERN: „Ein Familienvater mit zwei Kindern, der in seinem Job 2900 Mark brutto verdient, ist im Grunde genommen blöde, wenn er einer geregelten Arbeit nachgeht.“ (Der Stern, 26.9.1991) Die Narration vom exemplarischen Familienvater kritisiert nicht einen zu geringen Lohn, sondern einen zu geringen Abstand zur Sozialhilfe, die der Familienvater laut STERN ohne jede Arbeit erhalten könnte. Die Reportage des STERN heißt „Jagd auf die Sozialschmarotzer“ und präsentiert neben dem Familienvater Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, die anscheinend ohne Erwerbsarbeit gut zurechtkommen.

Die Argumentation, das Sozialsystems sei im Kern ungerecht, da es ein Leben ohne Arbeit begünstige, bestimmt auch eine Sammlung von Narrationen in BILD AM SONNTAG (18.2.1996). Mehrere Vertreter/innen des „Wir“, die als fleißige Werktätige präsentiert werden, kommen hier zu Wort. Alle äußern sich zufrieden über ihre Arbeit und den Lohn, können aber offenbar den geringen Abstand zur Sozialhilfe nur schwer akzeptieren. „Der Koch (2600 DM)“ berichtet zum Beispiel: „Ich bin zufrieden, aber es gibt zu viele faule Hunde, die nur auf dem Sofa liegen.“ Nicht die Hängematte unter Palmen, sondern die steigende Zahl von (vermuteten) Faulenzern wird nun zum Kennzeichen des „Sozialmissbrauchs“. „Die Friseurin (1837 DM)“ betont: „Sozialhilfe wäre mir peinlich“. Sozialhilfe scheint das „Wir“ auch mit moralisch-ethischen Problemen zu konfrontieren. „Der Autoschlosser (2328 DM)“ kritisiert, es sei „nicht gerecht, dass Sozialhilfeempfänger, die nicht arbeiten, vom Staat sogar den Kühlschrank bezahlt bekommen.“ Der Abstand zwischen niedrigen Löhnen und Sozialhilfe steht zur Debatte. „Die Küchenhilfe (2304 DM)“ formuliert Systemkritik: „Wenn jemand in meiner Situation mehr bekommt als ich, ohne einen Finger dafür zu rühren – dann muss an unserem System etwas verkehrt sein.“

In den Narrationen wird deutlich, dass mit der Argumentationsfigur der ungerechten Störung des Gleichgewichts durch Sozialhilfe eine latente Gefahr verbunden wird. Falls der Lohn des exemplarischen Familienvaters mit 2 Kindern tatsächlich so niedrig ist wie die Sozialhilfe, könnte die Versuchung unwiderstehlich sein: Er könnte aufhören „blöde“ zu sein und das Recht auf Faulheit fordern. Tatsächlich entstehen aus dieser Argumentationsfigur Narrationen, in denen die Gesellschaft unmittelbar bedroht ist, weil die Ungerechtigkeit des angeblich vom Sozialstaat geförderten „Sozialmissbrauchs“ das Gleichgewicht ins Wanken bringt.

Besonders beliebt waren solche Narrationen und Berichte vom drohenden Untergang in den 1990er und Nuller-Jahren. Und besonders eindrucksvoll hat Guido Westerwelle diese Entwicklung in einem Beitrag für DIE WELT (11.02.2010) geschildert. Westerwelle beginnt mit der üblichen Narration vom Familienvater, der 2010 auch eine Familienmutter sein kann: „Wer kellnert, verheiratet ist und zwei Kinder hat, bekommt im Schnitt 109 Euro weniger im Monat, als wenn er oder sie Hartz IV bezöge“. Wenn es so ungerecht zugeht, ist bald das soziale Gleichgewicht gestört. Westerwelle betont: „Es scheint in Deutschland nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemand, der das alles erarbeitet.“

Zur Argumentationsfigur gehört das Bild der Waage: In einer Waagschale liegen Massen von Transfer-Beziehern, die andere ist fast leer. Da muss alles ins Rutschen kommen. Eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze führt bei Westerwelle schließlich zur Katastrophe: „Die Mittelschicht in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren von zwei Dritteln auf noch gut die Hälfte der Gesellschaft geschrumpft. Damit bröckelt die Brücke zwischen Arm und Reich. Eine Gesellschaft ohne Mitte fliegt auseinander. […] wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“

  1. Der Wandel der Sichtweise und die Kontinuität der Bilder
  2. Der Wandel der Arbeit

Als Mitte der 1970er Jahre Massenarbeitslosigkeit nach einer langen Phase der Vollbeschäftigung wieder zum Problem wurde, sah der Arbeitsmarkt noch völlig anders aus. Man konnte „in die Fabrik“ gehen und dort nach einer Anlernzeit „arbeiten“. Anlerntätigkeiten waren die Grundlage für eine tayloristisch organisierte Arbeitswelt, in der die meisten Erwerbstätigen eine Teil-Tätigkeit zu verrichten hatten, die das Management ihnen vorgab.

Vor diesem Hintergrund waren die Lösungskonzepte für die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung in den 1970er Jahren denkbar einfach. Man konnte, wie Ökonomen und Unternehmerverbände verlangten, die Arbeit preiswerter machen, damit mehr Leute eingestellt wurden. Man konnte, wie die Gewerkschaften, für die 35-Stunden-Woche streiken, damit die Arbeit gerechter verteilt wurde. Oder man konnte einen Teil der Angelernten („die Ausländer“) entlassen und stattdessen Arbeitslose („die Deutschen“) einstellen. Alle diese Konzepte setzen voraus, dass es um austauschbare „Arbeit“, also Anlerntätigkeiten geht.

Heute gibt es kaum noch Anlerntätigkeiten. Die Facharbeit ist Grundlage der Wirtschaft geworden. Der Arbeitsmarkt hat sich segmentiert und ist weitgehend vom Arbeitslosenmarkt abgekoppelt. Arbeitslose ohne Ausbildung und mit geringer Schulausbildung haben wenig Chancen.

Deshalb ändern sich die Lösungskonzepte. Im Mittelpunkt steht jetzt der „Fachkräftemangel“, der mit der Massenarbeitslosigkeit nur noch lose verbunden wird. Denn es scheint aussichtslos, aus den Arbeitslosen, von denen viele „Langzeitarbeitslose“ geworden sind, durch Qualifizierungsangebote Facharbeiter zu machen. Stattdessen wird im Ausland nach Fachkräften gesucht, was dann aber zu Integrationsängsten führt. Arbeitszeitverkürzung wird immer noch gefordert, aber jetzt vor allem aus Humanisierungsgründen.

Arbeitslose kommen in diesen Debatten kaum noch vor. Über sie wird nun anders geredet und das hat nicht nur Gründe in der veränderten Struktur der Wirtschaft.

 

  1. Die Normalisierung der Massenarbeitslosigkeit

Die „Wiederherstellung der Vollbeschäftigung“ war bis in die 1980er Jahre eine Forderung, die sich alle politischen Parteien und auch die Medien zu Eigen machten, auch wenn sich die Lösungskonzepte unterschieden. Heute ist dagegen der „Fachkräftemangel“ ein Grund zur Besorgnis. Was ist geschehen?

Mitte der 1970er Jahre ist die bundesdeutsche Gesellschaft von der Massenarbeitslosigkeit (man zählte 1 Million!) überrascht worden. Vollbeschäftigung war die Normalität, ihre Wiederherstellung oberste politische Priorität. Arbeitslosigkeit galt als Skandal, hervorgerufen durch die Ölkrise und falsche Wirtschaftspolitik. Aber auch die Arbeitslosen gerieten schnell unter Verdacht, Faulenzer und Drückeberger zu sein.[3]

In den 1980er Jahren wurde dann der Skandal zur Normalität. In Politik und Medien wurde über „Sockelarbeitslosigkeit“ diskutiert, von der sich eine „De-fakto-Vollbeschäftigung“ (Helmut Kohl, Bundestagsrede, 5.9.1989) abhob. Die Arbeitslosen waren jetzt in der Regel nicht mehr arbeitsunwillige Drückeberger, die man mit allerlei Zwangsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt zurückbringen wollte, sondern „Problemgruppen“: Alte, Behinderte, Qualifikationslose, die für die Ansprüche der Wirtschaft ungeeignet schienen.

Gleichzeitig verschwand eine Sorge, die noch Ende der 1970er Jahre die Öffentlichkeit beunruhigte und die Teilnehmenden eines ganzen Soziologentages fragen ließ, ob sich die Arbeitsgesellschaft in der Krise befand. Was, fragte Ralf Dahrendorf (1982), sollen wir tun: „Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht“. Computer und Roboter schienen den Menschen zu ersetzen. Tatsächlich entstanden aber neue Jobs. Der „Job-Killer“ Computer schien zum „Job-Knüller“ zu werden und die Gewissheit, dass technischer Fortschritt zu Arbeitslosigkeit führen muss, verschwand zunächst aus den öffentlichen Debatten. Arbeitslosigkeit musste andere Gründe haben.

Ein vermuteter Grund für Massenarbeitslosigkeit lag Anfang der 1990er Jahre auf der Hand. Mit der Wiedervereinigung stiegen die Arbeitslosenzahlen in bisher nicht gekannte Höhen. Gleichzeitig änderte sich der Umgang mit diesen Zahlen. Zwar gab es immer noch Versuche, sie zu relativieren und kleinzureden[4], aber es gab nun auch im Regierungslager Kritik über „allerlei mauschelnde Rechnereien“ (FAZ, 8.5.1991) bei der Arbeitslosenstatistik. Die „schonungslose Wahrheit“ müsse her. Arbeitslose, die man in den 80er Jahren aus der Statistik entfernt hatte, wurden nun hinzugerechnet. Mitte der 1990er Jahre wurden auf dem Titelbild des SPIEGEL (Nr. 4/96) 6 Millionen Arbeitslose prophezeit. Werner Stumpfe, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, ging sogar von 8 Millionen aus. (Der Spiegel, 3/96, S. 28). Sie alle wurden nun in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zu Indikatoren für den Verfall, für eine „neue deutsche Lethargie“ (Die Zeit, 8.8.97), zu Anzeichen der „sozialen Wehleidigkeit“ (FAZ, 18.4.96). Nicht nur die Arbeitslosen gerieten nun unter Faulenzerverdacht, sondern auch fast alle anderen. Der SPIEGEL (Nr. 6/97) präsentierte die Titelgeschichte: „Wie die Alten die Jungen ausplündern“. Im FOCUS (Nr. 43/96) erschienen in der Titelgeschichte „Das süße Leben der Sozialschmarotzer“ ganze Bündel von Missbrauchern. Neben Rentnern, Arbeitslosen, Kranken, Asylbewerbern und Sozialhilfe-Empfängern wurden auch Studierende und Familien mit Kindern erwähnt. „Ohne Gewissensbisse würde die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger jede staatliche Leistung in Anspruch nehmen, auf die sie ein Recht hat“, meinte der FOCUS und zitierte den damaligen Sprecher des CDU-Wirtschaftsrates Rüdiger von Voss: „Missbrauch beginnt schon da, wo die Bürger überproportional Gebrauch von den Leistungen machen, die ihnen das Sozialsystem zugesteht.“

Während es vorher in Narrationen und Debatten darum ging, Fälle von Missbrauch innerhalb des Sozialsystems aufzudecken, konnte nun jeder Gebrauch von Sozialleistungen als missbräuchlich und schädlich bewertet werden.[5] Anscheinend lagen Ende der 1990er Jahre fast alle im sozialen Netz wie in einer Hängematte. Bundespräsident Herzog formulierte diese Anklage in seiner berühmten „Ruck-Rede“:

„Vorteilssuche des einzelnen zu Lasten der Gemeinschaft ist geradezu ein Volkssport geworden. Wie weit sind wir gekommen, wenn derjenige als clever gilt, der das soziale Netz am besten für sich auszunutzen weiß. Der Steuern am geschicktesten hinterzieht oder der Subventionen am intelligentesten abzockt“. (Herzog 1997, S. 354)

Durch Deutschland sollte „ein Ruck“ gehen (Herzog), um „der im Korsett des Sozialstaates sich dem Kreislaufkollaps nähernden Gesellschaft Luft zu verschaffen.“ (FAZ, 29.6.1996)

In den Nuller-Jahren war es dann soweit. Hartz 4 wurde zum Kern einer „Reformgesetzgebung“, bei der nicht nur Langzeitarbeitslose zu Sozialhilfeempfängern wurden, sondern auch schwerbehinderte Sozialhilfeempfänger zu Arbeitslosen, wenn sie drei Stunden am Tag arbeiten konnten. Plötzlich gab es knapp 400.000 Arbeitslose mehr. Diese Arbeitslosen sollten nun im Zuge einer „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ wie auf einem Trampolin in den Arbeitsmarkt geschleudert werden. Das „soziale Netz“, das zuerst vom „Sie“, dann vom „Wir“ als „Hängematte“ missbraucht worden war, wurde nun in ein kollektivsymbolisches „Trampolin“ verwandelt. Elemente aus dem Diskursstrang des Sports, der Fitness und der sportlichen Ertüchtigung wurden in Debatten über die Zukunft des Sozialstaats eingefügt.

Man komme durch Hartz 4 „vom Sicherheitsnetz zum Trampolin, von der vielgescholtenen sozialen Hängematte zu Programmen, die den einzelnen nicht nur auffangen, sondern zurückfedern in das Arbeitsleben“, meinte damals der SPD-Politiker Bodo Hombach (1998, S.199f). Dieses Konzept war kollektivsymbolisch überzeugend, führte aber bei der Umsetzung absehbar zu Problemen.

 

  1. Hartz 4 und der Eiertanz um den sozialen Arbeitsmarkt

Seit 20 Jahren geht eine Gewissheit um: Der Reformstau ist beseitigt und zwar durch das „Hartz-4-System, das zum deutschen Beschäftigungswunder der vergangenen 17 Jahre beigetragen hat, zur Halbierung der Arbeitslosenquote“, stellte der SPIEGEL 2022 fest. „Hartz 4 – hat uns wieder flott gemacht“. (Der Spiegel, 12.11.2022)

Wie Hartz 4 dieses „Beschäftigungswunder“ bewirken konnte, bleibt nicht nur im SPIEGEL ein Geheimnis. Wer diese interessierte Evidenz belegen will, muss auf jeden Fall alle Faktoren beiseitelassen, die ansonsten bei Wirtschaftsdebatten für das Auf und Ab des Arbeitsmarktes ins Feld geführt werden: die schwankende Konjunktur, den veränderlichen Außenhandel, die Entwicklung der Weltwirtschaft, die Folgen der Globalisierung.

Die Arbeitslosen sind jedenfalls nicht verschwunden, auch wenn ihre Zahl zurückgegangen ist. Geblieben sind vor allem Langzeitarbeitslose, die man durch die „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ in den Arbeitsmarkt katapultieren wollte. Da halfen weder Beratung noch Arbeitsgelegenheiten (1-Euro-Jobs) oder Sperrzeiten. Für Arbeitslose, denen das Jobcenter „Arbeitsmarktferne“ bescheinigt, bleibt der 1. Arbeitsmarkt verschlossen.

Natürlich gibt es Ausnahmen, Erfolgsgeschichten, zufriedene Unternehmer. Dennoch wurde immer deutlicher, dass die „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ für einen Großteil der Kundinnen und Kunden des Jobcenters nicht funktioniert. Man brauchte eine Idee, um auch Langzeitarbeitslose in Beschäftigung zu bringen, einen „sozialen Arbeitsmarkt“. Mit dem Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ von 2015 bis 2018 sowie dem anschließenden Teilhabechancengesetz sind dazu von der damaligen Koalition Ansätze gemacht worden, allerdings ohne wirklich eindeutig zu sagen, was man will. Geht es um Freiwilligkeit oder Arbeitszwang? Geht es um soziale Teilhabe oder Wege in den 1. Arbeitsmarkt? Offensichtlich war man sich in der Koalition nicht einig – eine Problematik, die zu rhetorischen Eiertänzen führte, wie bei SPD-Arbeitsminister Heil: „Deshalb bereiten wir mit diesem Gesetz den Weg in den sozialen Arbeitsmarkt. Es geht um Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Aber es geht auch um Perspektiven auf einen sozialen Arbeitsmarkt.“ (Heil, Bundestagsdebatte, 11.10.2018)

Aus Rücksicht auf den Koalitionspartner CDU / CSU blieb der soziale Arbeitsmarkt an den allgemeinen, den 1. Arbeitsmarkt gekettet, obwohl schon damals klar war, dass dieses Konzept nicht funktioniert. So konnte der Unionsabgeordnete Stephan Stracke den 1. Arbeitsmarkt zum Erfolgsindikator machen. Man müsse sehen, urteilte Stracke, ob das Gesetz „den Menschen hilft, im Arbeitsleben Fuß zu fassen und in den ersten Arbeitsmarkt zu gelangen. Das kann dann auch weiterlaufen. Alles andere muss und darf nicht weiterlaufen.“ (Stracke, Bundestagsdebatte, 11.10.2018)

Diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen des sozialen Arbeitsmarktes ziehen sich auch quer durch die verschiedenen Jobcenter. In dem Beitrag „Drei Jahre Teilhabechancengesetz – ein Blick zurück und nach vorn aus Sicht der IAB-Forschung“ beschreiben Labato / Dietz (2022) wie ein Teil der Jobcenter das Instrument als Sprungbrett in den 1. Arbeitsmarkt begreift, ein anderer dagegen die soziale Teilhabe fördern möchte. Dies hat dann Auswirkungen auf die Auswahl der Geförderten.

Der soziale Arbeitsmarkt könnte, wenn er nicht wieder mit Zwang verbunden wird, ein Ausweg aus dem Dilemma sein, dass einerseits eine Integration in den 1. Arbeitsmarkt für viele Langzeitarbeitslose nicht mehr erreichbar ist, aber andererseits die Teilhabe am sozialen Leben für viele Arbeitslose über gemeinsame Arbeit gestaltet wird. Der soziale Arbeitsmarkt verspricht außerdem keineswegs jenes „süße Leben in der sozialen Hängematte“, weil er an Arbeit gebunden ist, nicht immer die angenehmste, in der Regel zu geringem Lohn, häufig bei sozialen Trägern. Gleichwohl sind solche Jobs nicht das, was die „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ erreichen wollte: Man wollte „echte“ Arbeit, Arbeit, die zählt, Lohnarbeit auf dem 1. Arbeitsmarkt, nicht bei Caritas, Diakonie und AWO, sondern bei „richtigen“ Arbeitgebern. Die widersprüchliche Akzeptanz des sozialen Arbeitsmarktes entspricht der widersprüchlichen Arbeitsmarktpolitik, die bis heute an Zielen festhält, von denen die Akteure wissen, dass sie nicht erreichbar sind.

 

  1. Das Bürgergeld und die Gerechtigkeit

Hartz 4 gilt zwar als Erfolg, wurde aber wegen seiner „sozialen Härte“ auch kritisiert. Die SPD sah darin einen Grund für Wahlniederlagen. Zum 01.01.2023 hat daher das „Bürgergeld“ das Arbeitslosengeld 2, also Hartz 4 abgelöst. Bürgergeldempfänger bekommen jetzt etwas mehr Geld (Alleinstehende zunächst 502 €) und haben ein Jahr „Karenzzeit“, bis sie ihr Erspartes, das „Schonvermögen“, zum Lebensunterhalt einsetzen müssen.

Dadurch sind aber – den bekannten Argumentationsfiguren folgend – wieder einmal die kollektivsymbolische „Waage“ und das schutzbedürftige arbeitsame „Wir“, also Gerechtigkeit und Gleichgewicht bedroht: hier das Schonvermögen der Nicht-Arbeitenden, dort die Beiträge der hart arbeitenden Steuerzahler. In Narrationen zum Bürgergeld konstruiert man außergewöhnliche Fälle und erhält zum Beispiel im SPIEGEL einen Einblick in das luxuriöse Leben der Langzeitarbeitslosen:

„Ein kinderloses Paar etwa dürfte künftig bis zu 90.000 Euro auf dem Sparbuch haben, plus eine private Altersversorgung, plus eine selbstgenutzte Eigentumswohnung, plus zwei Autos. Das Jobcenter würde dennoch jeden Monat den vollen Betrag überweisen. Bis zu zwei Jahre lang, finanziert von Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, die womöglich viel weniger besitzen.“ (Der Spiegel, 12.11.2022)

Hermann Gröhe von der CDU reicht das nicht. Er errechnet ein „Schonvermögen bei einer Bedarfsgemeinschaft von 150.000 Euro“ und folgert: „Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kann von einem solchen Vermögen nur träumen.“ (Gröhe, Bundestagsdebatte, 10.11.2022)

Noch fantastischer wird die Rechnung beim Abgeordneten Kleinwächter von der AfD. Er weiß von einem „Einfamilienhaus im Münchener Nobelvorort mit 140 Quadratmeter Wohnfläche und einem Wert von über 1 Million Euro“, das der Arbeitslose behalten dürfe, „zulasten derer, die jeden Morgen zur Arbeit gehen“ (Bundestagsdebatte, 10.11.2022). Ungerechtigkeiten gibt es aber auch zwischen den Bürgergeldbeziehern. So klagt WAZ-Leser Andre Chlench im Leserbrief (24.11.2022): „Der nach 30 Jahren Arbeit unverschuldet arbeitslos gewordene Familienvater erhält i.d.R. nach einem Jahr das gleiche Bürgergeld wie der Langzeitarbeitslose, der sich seit Jahren ‚in Hartz IV eingerichtet‘ hat.“

Wie schon früher durch Hartz-4-Leistungen ist nun durch das Bürgergeld wieder das gesamte gesellschaftliche Gefüge unmittelbar bedroht, weil alles aus dem Gleichgewicht gerät. „Der Arbeitskräftemangel ist riesig – und die kleiner werdende berufstätige Bevölkerung soll bald auch das großzügige Bürgergeld bezahlen“, meint etwa Harald Martenstein (WELT online, 20.11.2022). Bürgergeld wird zum „Epochenbruch“, zur „Verhöhnung von Arbeit, Fleiß und Leistungsethos“ (Der Spiegel Nr.46/2022), zur „staatlich alimentierten Bequemlichkeit“ (FAZ online, 22.11.2022). In der BILD (23.11.2022) kommt der seit den 1970er Jahren bewährte anonyme Experte als Zeuge zu Wort: „Ein Job-Center Mitarbeiter klagt an: ‚Unser kaputtes System belohnt Nicht-Arbeit‘“. Der neue CDU Generalsekretär Carsten Linnemann vermisst „im Bürgergeld eine Pflicht zur Leistung“. Linnemann stellt fest: „Bürgergeld hat da etwas ins Rutschen gebracht, schon der Begriff ist irreführend“ (WAZ, 31.07.2023).

Natürlich dürfen in der Debatte um das Bürgergeld die altbekannten, bewährten Ressentiments nicht fehlen. Bürgergeld bedeute die „höchste Sozialhilfe für Asylzuwanderer“ in der EU, meint die WELT (20.11.2022). Die neue Regelung komme „den berüchtigten Clan-Familien in Großstätten wie Berlin und Köln“ zugute, stellt BILD (17.9.2023) fest.

 

  1. Migration, Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel

Migration spielte im Diskursstrang zur Massenarbeitslosigkeit schon seit den 1970er Jahren eine bedeutende Rolle. Allerdings änderte sich im Laufe der Zeit die Blickrichtung. Bei Beginn der Massenarbeitslosigkeit, Mitte der 70er Jahre, zählten die „Gastarbeiter“ häufig zu den „unechten Arbeitslosen“, die eigentlich nicht auf den deutschen Arbeitsmarkt gehörten und deshalb in der Statistik nicht mitgerechnet werden dürften. Die Vorstellung vom Vorrang für deutsche Beschäftigte war nicht nur mehrheitsfähig, sondern auch gesetzlich geregelt. Die Parole „Deutsche Arbeitsplätze für deutsche Arbeitnehmer“ blieb zwar den Rechtsradikalen vorbehalten, aber in einer Soft-Variante – möglichst menschenfreundlich und im Einklang mit den Opfern – wurde die teilweise Rückführung tatsächlich organisiert. Bei Bundesarbeitsminister Blüm wurde die „Rückkehrförderung“ sogar zur Wohltat:

„Arbeitslosigkeit ist überall schlimm, am schlimmsten so glaube ich jedenfalls, ist Arbeitslosigkeit in der Fremde. Wer zu Hause ist, eingebunden in die Familie, die in den Herkunftsländern häufig noch eine Großfamilie ist, wird mit der Arbeitslosigkeit manchmal besser fertig als jemand, der fernab von der Heimat ist, verlassen in Bahnhofshallen und Großstadtunterkünften. Heimatlos und arbeitslos zu sein ist des Schlechten zu viel. Deshalb knüpft unsere Rückkehrförderung an die Arbeitslosigkeit, an bestimmte Kriterien der Arbeitslosigkeit an. Ich glaube, dass das auch im Sinne unserer ausländischen Kollegen ist.“ (Blüm, Bundestagsrede, 10.11.1983)

Grundlage für den Rückkehrwunsch der Regierung waren Gewissheiten, die damals noch galten und erst in späteren Jahren ins Wanken gerieten: 1. Deutschland ist kein Einwanderungsland, 2. Arbeit ist austauschbar und 3. der demografische Wandel und der Fachkräftemangel sind noch weit weg. „Ausländerpolitik“ ist seitdem durch „Integrationspolitik“ ersetzt worden, „Arbeit“ durch „Facharbeit“, die nun gesucht wird, weil wir immer weniger und älter werden. „Kinder statt Inder“[6] funktioniert nicht mehr, wenn die Wirtschaft IT-Fachkräfte aus Indien benötigt. Ohne Pflegekräfte aus aller Welt künftig keine Altenpflege. Ganze Branchen würden zusammenbrechen ohne qualifizierte Fachkräfte, deren Eltern oder Großeltern „Gastarbeiter“ waren.

In den aktuellen Debatten geht es deshalb nicht mehr wie früher um die missbräuchliche Anwesenheit der Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Es geht immer häufiger um ihre Abwesenheit, allerdings immer gepaart mit der Sorge, dass die Falschen kommen: Wir haben Facharbeiter gerufen, aber es kamen Flüchtlinge. Nach einer weit verbreiteten Vorstellung wollen „Sie“ nur das eine: „Statt der Einwanderung in den Arbeitsmarkt fördert Deutschland die Einwanderung in die Sozialsysteme.“ (FAZ online, 22.11.2022) BILD online schreibt:

„Die Wahrheit über das Bürgergeld. Immer mehr Ausländer erhalten Stütze“. Während wir die Heizung runterdrehen, haben „Sie“ es mollig warm: „Sie zeigen keine Motivation weniger zu heizen, kommen aus meist wärmeren Gefilden, zum Beispiel aus dem Mittleren Osten“ (BILD online, 23.11.2022).

Die alten Stereotype werden immer noch genutzt, allerdings vor einem anderen Hintergrund. Die völkische Sortierung der früheren „Ausländerpolitik“ gibt es zwar weiterhin, aber sie hat sich verschoben, wird flexibler, ist nicht mehr das absolute Kriterium. Die Trennlinie verläuft jetzt vor allem zwischen den beiden Polen „nützlich“ versus „nicht nützlich“. Zum „Wir“ gehören dann alle „nützlichen“, in den Arbeitsmarkt integrierbaren Migranten. Die anderen lässt man nicht rein, schiebt sie ab oder gewährt ihnen prekäre Aufenthaltstitel inklusive möglicher Schlupflöcher, um es einigen, die sich als „nützlich“ erwiesen haben, doch noch zu erlauben, ins „Wir“ aufgenommen zu werden. Wer künftig als integrierbar gilt und wer nicht, entscheidet sich dann im Zusammenspiel der Debatten um Fachkräftemangel, Asyl, demografischen Wandel, Wohnungsnot, Pflegenotstand und Umfang von Sozialleistungen.

 

III. Ein paar Schlussfolgerungen

  1. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes

Wie werden sich die Arbeit, der Arbeitsmarkt und die Arbeitslosigkeit künftig entwickeln? Neben Konjunkturverlauf, Weltwirtschaft und dem Wandel von Produktionskonzepten sind es vor allem der demografische Wandel und technische Innovationen, die mit Arbeitsmarkteffekten in Zusammenhang gebracht werden.

Bereits in den Achtzigerjahren war klar, dass die Zahl der erwerbsfähigen Personen schrumpfen und die Zahl der Rentnerinnen und Rentner steigen wird.[7] Dass hat zur Folge, dass der Fachkräftemangel immer größer und Gegenmaßnahmen immer dringlicher werden. 1,5 Millionen Zuwanderer im Jahr seien nötig, um die Arbeitskräftelücke zu schließen, so die „Wirtschaftsweise“ Monika Schnitzler (SZ, 03.07.2023). Aber vielleicht könnten Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Automatisierung Fachkräfte ersetzen oder gar zu neuer Arbeitslosigkeit führen. In einer Umfrage der Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group (BCG) gaben in Deutschland knapp 40 Prozent der Befragten an, dass ihr Job durch KI künftig wahrscheinlich nicht mehr existieren wird. (Handelsblatt, 18.07.2023)

Wir haben oben gesehen, wie sich die technischen Prognosen der 1980er Jahre an der Wirklichkeit blamiert haben. Der Computer war nicht der befürchtete Job-Killer, hatte allerdings Anteil am Wandel der Arbeit und damit an der Verteilung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Ähnliche Befürchtungen gab es vor 10 Jahren. Die neuen Job-Killer hießen Digitalisierung und Industrie 4.0. In einer viel beachteten amerikanischen Studie prophezeiten Frey / Osborne (2013), die Hälfte aller Arbeitsplätze werde wegfallen. Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB (Dengler / Matthes 2015) ging von einer hohen Substituierbarkeit vieler Arbeitsplätze aus, wobei nicht nur Helferberufe, sondern auch Fachkräfte gemeint waren. Gabelstapler, so meinte man damals, sollten schon bald alleine durch die Lagerhallen fahren. LKW-Fahrer würden dank fahrerloser LKWs nicht mehr benötigt. 10 Jahre danach suchen Unternehmen Gabelstapler- und LKW-Fahrer.

Inwieweit die vermuteten Effekte später einmal Wirkung zeigen, lässt sich nicht abschätzen.[8] Es lässt sich nicht sagen, wie schnell und ob überhaupt Digitalisierungskonzepte und Industrie 4.0 Arbeitsmarkteffekte erzeugen, welche Arbeiten wegfallen und welche durch den Einsatz neuer Technologien entstehen. Das gilt auch für die aktuelle Diskussion um die Folgen des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz (KI). Das heißt nicht: Alles halb so schlimm. KI wird arbeitsmarktpolitische Effekte haben. Man weiß nur nicht welche. Und man weiß nicht, welchen Einfluss die Arbeitsmarktentwicklung auf die darauf bezogenen Diskursstränge haben wird.

  1. Formen des Missbrauchs und der Einfluss der Diskursstränge

Die zurzeit populären Vorstellungen über „Sozialmissbrauch“ sind verbunden mit aus der Vergangenheit tradierten Elementen, darunter auch sprichwörtliche Redensarten, und nicht-medialen Narrationen, die das Alltagsbewusstsein mehr oder weniger stark prägen. Früher häufig reproduzierte Überzeugungen wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder „Wer Arbeit sucht, findet auch welche“ werden zwar seltener offen vertreten. Aber jeder / jede kennt aus der Familie und der Nachbarschaft einschlägige Geschichten: von Hartz-4-Beziehern, die schwarzarbeiten, von Jugendlichen, die die Arbeit nicht erfunden haben, von cleveren Steuerhinterziehern mit dicken Autos.

Solche alltäglichen, privat wirkenden Narrationen sind die Grundlage für den Erfolg von Nachrichten zum „Sozialmissbrauch“ in Medien und Politik. Bisweilen kommt es sogar zu regelrechten Missbrauchskampagnen, bei denen plötzlich fast alle Massenmedien, TV-Sender und ein Presse-Organ nach dem anderen tolldreiste Geschichten erzählen, Politiker täglich empört auf den Tisch hauen und Kommentatoren Veränderungen verlangen. Dann ebbt die Welle des Skandals ab, es kehrt wieder Ruhe ein. Nur ab und zu werden, gern in der BILD, noch Geschichten erzählt, die daran erinnern, dass unser Gemeinwesen von Missbrauch bedroht ist.

Wer die Missbraucher sind, hängt ab von Veränderungen der Arbeitswelt und von der Entwicklung verschiedener Diskursstränge. Dass Arbeitslose Drückeberger sind und nicht arbeiten wollen, war vor allem eine Vorstellung der 1970er und 1980er Jahre, als der Arbeitsmarkt noch nicht so stark segmentiert war wie heute. Heute dominiert eher die Vorstellung, dass Langzeitarbeitslose nicht arbeiten können und daher auch keine übertriebenen Ansprüche an den Sozialstaat stellen sollten – eine vermutete Übertreibung beim Gebrauch von Leistungen kann dann als Missbrauch gewertet werden.

Auch die Gruppenzugehörigkeit kann darüber entscheiden, wer sich unrechtmäßig auf dem Arbeitsmarkt aufhält und wer „Sozialmissbrauch“ begeht. Hier spielen neben dem Diskursstrang zur Arbeitslosigkeit auch andere Diskursstränge eine bedeutende Rolle. Bis in die 1960er Jahre galt es zum Beispiel als selbstverständlich, dass Frauen ins Haus an den Herd gehören und dass sie Männern nicht die Arbeit wegnehmen dürfen. Lehrerinnen verließen den Schuldienst sofort nach der Heirat. Noch Mitte der 1980er Jahren hatte der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß die Idee, „die Statistik nicht so global zu machen, dass man sagt: wir haben zwei Komma soundso viel Arbeitslose, sondern wir haben als alleinverdienende, als Ernährer der Familie soundso viel und als arbeitslos gemeldete Ehefrauen soundso viel.“[9] Und noch Ende der 1980er Jahre stellte der Unionsabgeordnete Schemken (2.6.1989) im Bundestag fest, „die Statistik sähe völlig anders aus, hätten wir nicht seit 1980 eine so große Zahl von Frauen, die sich auf den Arbeitsmarkt drängten.“

Heute wird stattdessen beklagt, dass Frauen nicht genug „drängen“, weil sie häufig nur Teilzeit arbeiten oder zu Hause die Kinder betreuen. Ehegattensplitting und Witwenrente werden deshalb kritisiert, ebenso die kostenlose Mitversicherung eines nicht-arbeitenden Ehepartners. Diese Regelungen werden zwar noch nicht „Sozialmissbrauch“ genannt, ihre Darstellung als unzeitgemäße, extrem teure Privilegien lässt aber schon den Missbrauchsverdacht als Lesart zu.

Bestimmte Vorstellungen können also absterben, weil sich gesellschaftliche Debatten und Diskursstränge verändern. Vorstellungen können sich auch verschieben. Migrantinnen und Migranten bleiben unter Missbrauchsverdacht, auch wenn sie an anderer Stelle als Fachkräfte umworben werden, wobei sich die Bewertungsmaßstäbe schnell verändern können. Zu Anfang des Krieges in der Ukraine waren die Ukrainerinnen eine bevorzugte Migrantengruppe – junge europäische Frauen statt islamisch geprägter junger Männer. Aber die Maßstäbe änderten sich schnell: Schon Ende 2022 klagte Friedrich Merz, man erlebe einen „Sozialtourismus“ bei ukrainischen Flüchtlingen. Die WELT kritisierte im Juni 2023: „In Deutschland geht nur eine Minderheit der Ukraine-Flüchtlinge einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach – viel weniger als in Nachbarländern. Experten sehen etwa den Anspruch auf Bürgergeld als Grund.“ (WELT-online, 03.06.2023)

 

  1. Der Sozialstaat als „soziales Netz“

Eine weitere Grundlage für Vorstellungen über „Sozialmissbrauch“ sind Kollektivsymbole, die in die Narrationen eingebunden sind oder sie aufrufen. Zentral für den Diskursstrang zum Sozialstaat ist das „soziale Netz“.

Mit dem „sozialen Netz“ lassen sich sozialpolitische Argumente in aussagekräftige Bilder verwandeln. Man kann stolz sein auf das soziale Netz, weil es Armut verhindert und den sozialen Frieden sichert. Man kann das aber auch bezweifeln. Dann besteht das Netz aus zu großen Löchern, man kann durchfallen, es kann reißen, man kann daran die Axt anlegen oder es durch Raubfische[10] zerstören. Und man kann es missbrauchen. Dann lädt es zum Ausruhen ein, ist zu engmaschig geknüpft, wird zur „sozialen Hängematte“, zum Fangnetz[11] oder zur „Sänfte“, in die man sich „zur Erholung in Urlaub nach Mallorca oder sonst wohin tragen lässt“ [12]. Bei der Einführung von Hartz 4 wurde es, wie wir oben gezeigt haben, zum „Trampolin“.

Allerdings haben auch Kollektivsymbole schwankende Konjunkturen. Die Hängematte kommt zurzeit nur noch selten zum Einsatz, was jedoch nicht bedeutet, dass die damit verbundenen Vorstellungen verschwunden sind (siehe oben die Diskussion ums Bürgergeld). Und natürlich kann das Kollektivsymbol auch wieder zu Diensten sein. Zum Beispiel im letzten Sommer als die BILD-Zeitung warnte, junge Leute hätten „wenig Bock auf Arbeit“. Sie bildeten eine „Generation Hängematte“. (BILD online, 5.7.2023)

 

  1. Bedingungsloses Grundeinkommen als Konzept gegen Arbeitslosigkeit?

Welche Konzepte gegen Arbeitslosigkeit sind überhaupt sinnvoll? Und welche Rolle spielt die Vorstellung vom „Sozialmissbrauch“ bei der Entwicklung solcher Konzepte?

Arbeitszeitverkürzung, also eine andere Verteilung der Arbeit, hilft vielen Arbeitslosen nicht weiter, weil ihnen die nötige Qualifikation fehlt. Qualifizierungskonzepte sind auch nur bedingt tauglich – nicht jeder kann zum gesuchten IT-Fachmann werden. Insbesondere gilt dies für viele Langzeitarbeitslose, die häufig keine oder nur als niedrig eingeschätzte Schulabschlüsse haben, die ohne Berufsausbildung sind und/oder andere Vermittlungshemmnisse (Krankheit, Alter) aufweisen. Öffentlich geförderte Arbeit bei sozialen Trägern, wie beim Teilhabechancengesetz, kommt nur einem Teil der Arbeitslosen zu Gute. Sie ist in der Regel auf bestimmte Tätigkeitsbereiche beschränkt, wird schlecht bezahlt und führt damit nicht aus der Armutsfalle, die Arbeitslosigkeit bis ins Alter bedeutet – statt Rente gibt es dann Grundsicherung. Dass sich dennoch viele Langzeitarbeitslose für eine solche Tätigkeit interessieren, zeigt, wie sehr soziale Teilhabe für viele Menschen an Arbeit gekoppelt ist, vor allem wenn Alternativen dazu nicht vorhanden sind.

Eine Alternative, die seit einiger Zeit häufiger diskutiert wird, ist das „Bedingungslose Grundeinkommen“, eine Entkoppelung von Einkommen und Arbeit. Mittlerweile werden solche Konzepte auch auf den Seiten des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) diskutiert. „Das bedingungslose Grundeinkommen passt nicht in unsere Arbeitsgesellschaft“ heißt dort etwa ein Debattenbeitrag von Markus Promberger (2023). Bedingungsloses Grundeinkommen sei schon deswegen nicht praktikabel, weil Arbeit eine „anthropologische Notwendigkeit“ sei, „ein Grundelement der menschlichen Existenz“.

Menschen, die nicht arbeiten, weil sie genügend Vermögen besitzen, müssten folglich am Arbeitsmangel leiden. Die Tatsache, dass ältere Beschäftigte häufig die Tage zählen, bis sie endlich in Rente gehen können, muss dann so erklärt werden, dass nicht die real existierende Arbeit, sondern eine humanisierte Arbeit der Zukunft gemeint ist. Man müsse die Arbeit verändern, die Arbeitsbedingungen verbessern. Bedauerlich ist, dass die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen seit Jahrzehnten erhoben wird, ohne dass die Beschäftigten nun zufriedener mit ihrer Arbeit sind.

Neben solchen anthropologischen Einwänden gibt es selbstverständlich noch andere Vorbehalte, etwa von Seiten der Gewerkschaften. Selbst bei sozialen Varianten eines Grundeinkommens werden aus gewerkschaftlicher Sicht immense Abgabensätze zur Finanzierung nötig sein. Das Grundeinkommen sei daher schlicht nicht finanzierbar. Zu befürchten sei zudem ein verstärkter Druck auf Löhne und soziale Rechte sowie ein radikalisierter Neoliberalismus. Von Seiten der Gewerkschaften wird außerdem befürchtet, dass dann keine gewerkschaftliche Gegenmacht mehr existiert.

Ohne auf die inhaltlichen Kontroversen zum Grundeinkommen näher einzugehen, wollen wir an dieser Stelle lediglich auf die diskursiven Rahmenbedingen verwiesen, die ein solches Konzept zu beachten hätte. Wenn schon das Bürgergeld, also die etwas aufgehübschte Sozialhilfe, in der Öffentlichkeit mit Missbrauchsverdacht belegt wird, um wieviel heftiger wäre die Diskussion bei einem bedingungslosen Grundeinkommen von 1200 Euro? Dann wollen in BILD wahrscheinlich alle Armen übers Mittelmeer zu uns rudern. Wer – ruft die FAZ – will bei solchen Wohltaten überhaupt noch arbeiten? Alle wollen doch nur verdienen und keiner will mehr dienen. Und welche Reichtümer lassen sich im FOCUS und im SPIEGEL dann errechnen – zum Beispiel bei kinderreichen Langzeitarbeitslosen oder „migrantischen Clanfamilien“? Und „Wir“ sind dann wieder die Dummen. Die Schlagzeilen und ihre Wirkungen sind vorhersehbar.

Einen kleinen Vorgeschmack bot die Erhöhung des Bürgergeldes auf 563 Euro Ende August / Anfang September 2023. Die gesamte Palette der Argumentationsfiguren zum „Sozialmissbrauch“ kam zum Einsatz. „Wir“ sind diesmal hart arbeitende Mindestlohnbezieher, „Sie“ erhalten ohne Arbeit Bürgergeld. Am 30.8. fragt BILD: „Lohnen sich Aufstehen und Arbeiten noch?“ „Für viele Geringverdiener ist das Bürgergeld DIE große Ungerechtigkeit in Deutschland“. Einen Tag später findet Leserbriefschreiberin Sylke Viertler: „Das ist ein Schlag ins Gesicht für jeden Bürger, der sein Einkommen mit dem Mindestlohn erarbeitet.“ (BILD, 31.8.2023)

Ein paar Tage später werden Zeugen benannt: Zunächst beklagt Speditions-Chef Horst Kottmeyer den „Bürgergeld-Irrsinn“: „Mein Mitarbeiter kündigt, weil er lieber Stütze kassiert.“ (BILD online, 4.9.2023) Dann deckt Professor Friedrich Schneider, laut BILD „Arbeits-Experte“, eine „bittere Wahrheit“ auf: „Ich schätze, dass rund ein Drittel der erwerbsfähigen Bürgergeld-Bezieher schwarz dazuverdienen.“ BILD rechnet nach, macht 1,3 Millionen. (BILD-online, 6.9.2023) Schließlich fordert „Brummi-Chef Prof. Dirk Engelhardt“: Wir „brauchen keine geförderte Faulenzer-Kultur“. (BILD online 13.9.2023)

Natürlich darf das Migranten-Argument nicht fehlen. Hier reichen nackte Zahlen, die Leserinnen und Leser können das zu Ende denken: „Während 5,3 Prozent der Deutschen im März 2023 Bürgergeld erhielten, waren es 65,6 Prozent der Ukrainer in Deutschland, 55,1 Prozent der Syrer, 47,1 Prozent der Afghanen, 41,7 Prozent der Iraker und 16,2 Prozent der Türken.“ (BILD online, 18.8.2023)

Die Folgen für die Gesellschaft erklärt dann die bekannte Kollektivsymbolik: „Die Einführung des sogenannten ‚Bürgergelds‘ hat in Deutschland etwas ins Rutschen gebracht,“ meint CDU-Generalsekretär Linnemann. Es „drohen wesentliche Pfeiler unserer Sozialen Marktwirtschaft wie Dominosteine umzufallen“. Immerhin habe die CDU beim Bürgergeld im Vermittlungsausschuss „einen defacto Systemwechsel hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen verhindern“ können. (FOCUS online, 4.9.2023)

Allerdings: Die Kampagne gegen das Bürgergeld wurde diesmal nur von einem Teil der Medien getragen. Die meisten Medien haben nicht mitgemacht und ausgewogen berichtet. Das war früher anders, kann sich aber auch schnell wieder ändern.

Welche Möglichkeiten zur Intervention zum Problem Arbeitslosigkeit gibt es unter diesen Umständen? Realistisch betrachtet bleiben zurzeit nur Konzepte, die zwar unbefriedigend sind, aber immerhin Teillösungen anbieten. Hier bahnen sich kontroverse Positionen an, in die man vielleicht eingreifen kann. Gelingt es, einen sozialen Arbeitsmarkt zu etablieren, der für einen Teil der Arbeitslosen, die dies wollen, soziale Teilhabe ermöglicht? Die Job-Angebote sollten dann mit besseren Konditionen verbunden sein, als es zurzeit der Fall ist. Andererseits könnten politische Akteure wieder verstärkt versuchen, Arbeitslose durch Zwang, Sperrzeiten, Kürzungen und andere Schikanen auf einen 1. Arbeitsmarkt zu orientieren, den die meisten gar nicht erreichen können. Gelingt es dann, die wenigen Verbesserungen, die das Bürgergeld einigen Arbeitslosen und anderen in Not geratenen Menschen gebracht hat, zu erhalten oder sogar auszuweiten? Oder wird künftig jede Verbesserung wieder zurückgenommen? Und schließlich muss man fragen: Gelingt es, dass Arbeitslosigkeit und Armut überhaupt noch als gesellschaftliches Problem gesehen wird oder verschwinden sie in den Debatten als akzeptierter Teil der Normalität?

 

Literatur

acatech (2022): Forschungsbeirat der Plattform Industrie 4.0/acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Hg.): Blinde Flecken in der Umsetzung von Industrie 4.0 – identifizieren und verstehen, 2022, DOI: 10.48669/fb40_2022-1.

Dahrendorf, Ralf (1982): Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, in: Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, S. 25-37.

Dengler, Katharina / Matthes, Britta (2015): Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt. Substituierbarkeitspotenziale von Berufen in Deutschland. IAB-Forschungsbericht 11, Nürnberg.

Frey, Carl Benedikt / Osborne, Michael A. (2017): The future of employment: How susceptible are jobs to computerization? In: Technological Forecasting & Social Change 114, S. 254-280 (zuerst 2013).

Herzog, Roman (1997): Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Rede des Bundespräsidenten in Berlin im Hotel Adlon am 26.4.1997, in: Bulletin 33/1997, S. 353-358.

Hombach, Bodo (1998): Aufbruch. Die Politik der neuen Mitte, München.

Kreft, Ursula (2000): Bedrohte Mitte – gelähmte Gesellschaft: aktuelle Krisenszenarien in der Presse, in: SOWI – Sozialwissenschaftliche Informationen 4/2000, S. 248-256.

Kreft, Ursula / Uske, Hans (1998): Skandal und Normalität. Massenarbeitslosigkeit in den 90er Jahren, in: Hans Uske / Hermann Völlings / Jochen Zimmer / Christof Stracke (Hg.): „Soziologie als Krisenwissenschaft“. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dankwart Danckwerts, Münster, S. 96-126.

Lobato, Philipp Ramos / Dietz, Martin (2022): Drei Jahre Teilhabechancengesetz – ein Blick zurück und nach vorn aus Sicht der IAB-Forschung; https://www.iab-forum.de/drei-jahre-teilhabechancengesetz-ein-blick-zurueck-und-nach-vorn-aus-sicht-der-iab-forschung/

Promberger, Markus (2023): Das bedingungslose Grundeinkommen passt nicht in unsere Arbeitsgesellschaft. Ein sozialphilosophischer Einwurf, in: IAB-Forum, 10. Juli 2023; https://www.iab-forum.de/das-bedingungslose-grundeinkommen-passt-nicht-in-unsere-arbeitsgesellschaft-ein-sozialphilosophischer-einwurf/

Schäuble, Wolfgang (1988): Älter und weniger. Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung in unserem Land, in: Die politische Meinung, Januar/Februar 1988, S. 37-44.

Uske, Hans (1995): Das Fest der Faulenzer. Die öffentliche Entsorgung der Arbeitslosigkeit, Duisburg (DISS-Verlag).

Uske, Hans (2000): „Sozialschmarotzer“ und „Versager“. Missachtung und Anerkennung in Diskursen über Massenarbeitslosigkeit, in: Ursula Holtgrewe / Stephan Voswinkel / Gabriele Wagner (Hg.): Anerkennung und Arbeit, Konstanz, S. 169-192.

 

Ursula Kreft, M.A. Germanistin, war lange Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin am Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung (RISP) an der Universität Duisburg-Essen.

Dr. Hans Uske, Sprach- und Sozialwissenschaftler ist Forschungsgruppenleiter im Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung (RISP) an der Universität Duisburg-Essen.

 

[1]        Norbert Blüm, Referat im Arbeitskreis II beim CSU-Parteitag 1981, hekt. Ms., Juli 1981, zit. nach: Hans-Dieter Bamberg: Der Muntermacher, Aufstieg und Aussichten, Aktivitäten und Ansichten des Norbert Blüm, Marburg 1987, S. 143.

[2]        Dass Arbeitslose sich manchmal selbst als clevere Ausnutzer darstellen, liegt auch daran, dass sie auf diese Weise vermeiden, als „ökonomische Versager“ missachtet zu werden (vgl. Uske 2000).

[3]        Vgl. dazu Uske 1995.

[4]        Ein beliebtes Mittel dafür ist die „Erblast“, die dazu führt, dass der versprochene „Aufschwung“ auf sich warten lässt. In den 80er Jahren war es die „Erblast 13jähriger sozialliberaler Misswirtschaft“. Anfang der 90er Jahre die „Erblast 40jähriger kommunistischer Misswirtschaft“ und Ende der 90er Jahre „das schwere Erbe von 16 Jahren Kohl-Regierung“, aktuell der „Stillstand“ der Merkel-Jahre.

[5]        Ausführlich hierzu Kreft / Uske 1998 und Kreft 2000.

[6]        CDU-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers im NRW Wahlkampf 2000.

[7]        Zwar hat die Union lange Jahre Wahlkämpfe mit der Furcht vor Einwanderung von Ausländern gewinnen können. Aber parallel dazu waren einige sich wohl bewusst, dass es ohne sie schwierig würde. Bereits 1988 hat zum Beispiel Wolfgang Schäuble in einem Aufsatz „Älter und weniger“ vor den Folgen des demografischen Wandels gewarnt und Einwanderungspläne diskutiert.

[8]        War man am Anfang der Diskussion über Industrie 4.0 noch überzeugt davon, dass eine zeitnahe Umwälzung der Wirtschaft bevorsteht – Unternehmensberater konfrontierten Mittelständler mit der Drohung „Change or die“ – werden aktuell deutlich vorsichtigere Prognosen erstellt. In einer Expertise des Forschungsbeirats der Plattform Industrie 4.0 – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech 2022) heißt es nun, es gebe für kleine und mittlere Unternehmen nachvollziehbare Gründe für die Zurückhaltung, zum Beispiel die mangelnde Rentabilität digitaler Lösungen, aber auch ein fehlender Startimpuls, eine fehlende Digitalisierungsaffinität im Management, fehlender Leidens- und Wettbewerbsdruck, fehlende Fachkräfte mit digitalem Kompetenzprofil sowie insgesamt eine wenig ausgeprägte Digitalkultur.

[9]        Zit. nach Wolfgang Held, stellvertretender Generalsekretär der CSU, in der Zeitschrift METALL, 9.8.1985

[10]       So eine Titelbildgestaltung von Siegried Jäger: „Haie im sozialen Netz“ in der Zeitschrift REVIER Nr.8, August 1981.

[11]       „Hat das soziale Netz die Einsatzfreude und den Arbeitswillen eingefangen?“ (Der Spiegel, 27.11.1978)

[12]       Erich Riedl (CSU), Bundestagsrede, 2.6.1981