Wiedergelesen: Ein Gründungstext des Ordoliberalismus

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Alexander Rüstow über den „neuen Liberalismus“ 1932

Von Helmut Kellershohn

Vorbemerkung: Karlheinz Weißmann, seines Zeichen Chefideologe der Jungen Freiheit, veröffentlicht 2020 im JF-Verlag eine Broschüre „Wer ist rechts. Versuch einer Typologie“, in der er drei Typen des Rechts-Seins vorstellt. Der „Populare“ verkörpert das Völkisch-Identitäre, der „Archiker“ das bonapartistische Element. Der „Verist“ dagegen plädiert für Autorität, Ordnung und Freiheit. Man kann davon ausgehen, dass Weißmann mit dieser Typologie Facetten des Rechts-Seins umschreibt, die durchaus zusammengehören. Seine Sympathie gehört freilich dem Veristen, der über das rechte Sensorium für die Gestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verfügt. Im Veristen vereinen sich jungkonservativer Etatismus und neo- bzw. ordoliberales Denken über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Es verwundert daher nicht, wenn Weißmann sich an entscheidender Stelle auf Alexander Rüstow bezieht,1 der aber in einem Atemzug mit Carl Schmitt und dessen Theorie des „totalen Staates“ genannt werden muss. Im Folgenden geht es um einen der Gründungstexte des deutschen Ordoliberalismus, einen Redebeitrag auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik im September 1932.

Rüstow beginnt seinen Redebeitrag2 mit der These, „daß die gegenwärtige deutsche Krise zu einem erheblichen Teil durch Interventionismus und Subventionismus der öffentlichen Hand verursacht ist“ (62). Darüber bestünde „unter den Urteilsfähigen Einigkeit“. Wichtig sei aber nicht nur diese „Einsicht“ im fachwissenschaftlichen Sinne; vielmehr berühre diese Einsicht essentiell die „Fragen der Willensbildung“ im politischen Raum. Denn, so seine zweite These, „nicht die Wirtschaft [sei] unser Schicksal,3 sondern der Staat“ und der sei eben „auch das Schicksal der Wirtschaft“. Wie der Staat sich gegenüber der Wirtschaft verhält bzw. verhalten soll, auf diese „staatspolitische“ Seite des Problems ist der Beitrag Rüstows fokussiert.

Diese Thesen will er nicht in dem Sinne verstanden wissen, dass der Staat „den Dingen ihren Lauf“ lassen solle „nach der Maxime: laissez faire, laissez passer“. Zwar tendiere der Wirtschaftsprozess nach Auffassung der klassischen Nationalökonomie trotz aller Friktionen immer wieder und optimalerweise zu einem neuen Gleichgewichtszustand (63), die Frage aber sei, wann dieser Zustand eintrete: „und wie groß sind die Opfer und Schäden, die sich in der Zwischenzeit auf die Betroffenen häufen?“ (63) Zweifellos sei das Eintreten für schuldlos „in eine wirtschaftliche Notlage“ geratene Meschen ein „soziale[r] Fortschritt“; Rüstow gibt allerdings zu bedenken, dass die Erwartungshaltung vieler Menschen an den Staat, „auf jedes Wehwehchen […] ein möglichst großes Pflaster“ zu kleben, auch nicht akzeptabel sei.4 Da sei der „vielgescholtene Manchesterliberalismus jedenfalls ein sehr viel männlichere (!) und mutigere Haltung“. Des Weiteren gibt er zu bedenken, dass bei Nichtstun des Staates „das Unheil nicht entfernt so groß geworden [wäre], wie es jetzt durch die Häufung von verkehrten Interventionen“ eingetreten sei.

In Abwägung dieser Argumente zielt der Beitrag Rüstows auf die Bestimmung eines interventionistischen ‚Minimums‘, das mit einer liberalen Sichtweise – jenseits des Manchesterliberalismus – vereinbar ist. Er unterscheidet zwischen einem staatlichen Handeln, das „reaktiv“, gar „reaktionär“ (64) ist, und einem Handeln, das sich einem „liberale[n] Interventionismus“ (65) verpflichtet weiß.5

Beispielhaft im ersten Fall seien Eingriffe wie die Manipulation von Preisen infolge einer „weltwirtschaftlichen Strukturveränderung“, um sinkende Preise aufzufangen; oder Maßnahmen, um sinkende oder unzureichend steigende Einkommen oder drohende Kapitalverluste zu verhindern, etwa aus öffentlichen Mitteln. In all diesen Fällen seien Eingriffe derart, „daß sie dem Ablauf, der ohne sie vor sich gehen würde, entgegengerichtet sind, ihn verhindern, den bisherigen Zustand aufrechterhalten“ (64) wollen. Da es sich bei diesen Abläufen „nicht selten um säkulare Verlagerungen“ handele, „die sich mehr und mehr verstärken“ würden, drohe eine (Interventions-) „Schraube ohne Ende“ (64).

Im Gegensatz dazu sieht Rüstow im liberalen Interventionismus einen dritten Weg zwischen Manchesterliberalismus und reaktionärem Interventionismus. „Das wäre ein Eingreifen […] nicht entgegen den Marktgesetzen, sondern in Richtung der Marktgesetze, nicht zur Aufrechterhaltung des alten, sondern zur Herbeiführung des neuen Zustandes, nicht zur Verzögerung, sondern zur Beschleunigung des natürlichen Ablaufs.“ (64f.) Rüstow erläutert dies an einem Beispiel aus der Landwirtschaft: Die Bedrohung der Konkurrenzfähigkeit landwirtschaftlicher Betriebe durch „säkulare Strukturveränderungen auf dem Weltmarkt“ (65) würde unter manchesterlichen Bedingungen „nach Jahrzehnten des Elends“ zur Aufgabe landwirtschaftlicher Betriebe und zur Suche nach neuen ertragreicheren Standorten führen; durch liberale Interventionen könne man diesen langfristigen Prozess abkürzen und „durch pädagogische und finanzielle Hilfen“ (65) erleichtern sowie im Vergleich Kosten sparen, die dann entstünden, würde man die Bauern finanziell in ihrem Elend unterstützen (reaktionärer Interventionismus).

Das Konzept des liberalen Interventionismus, das Rüstow vorschlägt, wird von ihm im Weiteren durch staatspolitische Überlegungen ergänzt, die auf eine neue Form der Staatlichkeit zielen. „Es ist nicht derselbe Staat, der in der einen oder in die andere Richtung wahlweise eingreifen könnte.“ (66)

Rüstow bezieht sich im Folgenden auf die Theorie des „totalen Staates“ bei Carl Schmitt6 im Anschluss an Ernst Jünger. Man könne der Auffassung sein, dass der reaktionäre Interventionismus „ein Zeichen übermäßiger Stärke“ sei, „eine Hybris, ein Nicht-mehr-seine-Grenzen-kennen“ (66). Das aber – und hier folgt Rüstow Carl Schmitt – sei nicht der Fall. „Es ist in Wahrheit das genaue Gegenteil davon: nicht Staatsallmacht, sondern Staatsohnmacht.“ (66) Der falsche Interventionismus ruft Begehrlichkeiten von allen Seiten hervor: „Der Staat wird von den gierigen Interessenten auseinandergerissen. Jeder Interessent reißt sich ein Stück Staatsmacht heraus und schlachtet es für seine Zwecke aus.“ (66) Der Staat, die Regierung wird – wieder mit Carl Schmitt gesprochen – zur „Beute“ eines „Pluralismus schlimmster Sorte.“ (67) Daran würde auch nichts die Einführung einer „demokratischen Planwirtschaft“ (Carl Landauer) ändern. Sie sei ein „Widerspruch in sich“ oder genau das, „was wir bisher gehabt haben“ (67).7

Die Alternative, die Rüstow vorschlägt, der liberale Interventionismus, muss daher die Übergriffigkeit des gesellschaftlichen Interessen-Pluralismus zurückweisen können. Dies erfordere – neben der „Garantie der Marktfreiheit [und] fairer Konkurrenz mit gleichen Spielregeln für alle“ – einen ausgesprochen „starken Staat“. Darunter versteht Rüstow „einen Staat, der über den Gruppen, über den Interessenten steht, einen Staat, der sich aus der Verstrickung mit den Wirtschaftsinteressen, wenn er in sie hineingeraten ist, wieder herauslöst“ (68). Diese notwendige Trennung von Wirtschaft und Staat und die „Selbstbeschränkung als Grundlage der Selbstbehauptung“ des Staates sei „Voraussetzung und Ausdruck seiner Unabhängigkeit und Stärke“. Erforderlich seien staatliche Neutralität „im Sinne des höheren Ganzen“ sowie „Autorität und Führertum“ (68), womit Rüstow auf im zeitgenössischen Diskurs verbreitete Topoi zurückgreift.

Für die Etablierung eines solch neutralen und starken Staates sieht Rüstow zwei zentrale Voraussetzungen als notwendig an. Erstens auf Seiten der Staatsbürger die Erwartung, „anständig regiert zu werden, im Sinne des Ganzen regiert zu werden“, und zugleich die Bereitschaft „eine Maßregel, die gegen sein eigenes im Übrigen noch so laut vertretenes egoistisches Interesse geht“, zu akzeptieren (68). Staatliche Politik müsse an diesen „guten Kern“ des Staatsbürgers mit dem Ziel appellieren, sich von ihm das „plébiscite de tous les jours einzuholen“.8

Rüstow fordert hier einen moralischen Holismus auf Seiten der Staatsbürger ein, gewissermaßen als Kontrapunkt zu ihren ökonomischen Einzelinteressen, der sich zweitens auch auf der Ebene „einer richtig und organisch konstruierten Verfassung“ abbildet. Die Verfassung müsse in diesem Sinne integrierend wirken, nicht aber „den Interessenten im Menschen als Integrationselement“ nehmen (69). Mit diesen relativ kryptischen Formulierungen meint Rüstow aber nichts anderes, als dass der übergriffige „Pluralismus“ (verkörperte durch die Parteien) durch eine entsprechende Verfassung überwunden werden müsse. Rüstow knüpft damit im September 1932 – v. Papen ist Reichskanzler einer Minderheitsregierung – an die Debatte über eine Revision der Verfassung („Neuer Staat“) an, zu einem Zeitpunkt also, an dem Carl Schmitt sich mit dem (dann aufgegebenen) Plan einer neuen Verfassung (im Auftrag v. Papens) befasste.9

Abschließend stellt Rüstow noch mal den Manchesterliberalismus dem nunmehr so genannten „neue[n] Liberalismus“ gegenüber. „Der neue Liberalismus jedenfalls, der heute vertretbar ist, und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört.“ (69)10

Fazit

Rüstow verbindet in seinen Ausführungen drei Gedankengänge: Erstens grenzt er liberale Wirtschaftspolitik einerseits gegen den klassischen Manchesterliberalismus, andererseits gegen einen reaktiven, status quo-fixierten und sich zugleich überdehnenden Staatsinterventionismus ab. Als dritten Weg schlägt er einen liberalen Interventionismus vor. Die Figur des dritten Wegs wird nach 1945/9 von den Ordoliberalen wieder aufgegriffen: Freie oder soziale Marktwirtschaft als Mitte zwischen Kapitalismus und Kommunismus.

Zweitens fragt er nach den staatspolitischen Bedingungen des liberalen Interventionismus bzw. einer liberalen Wirtschaftspolitik. Diese sieht er zum einen in einer strikten Trennung von Staat und Gesellschaft/Wirtschaft und in der Ausbildung eines starken und neutralen Staates, der wie eine „objektive Käseglocke“ (O. H. von der Gablentz) über dem Pluralismus gesellschaftlicher Interessengruppen ‚schwebt‘ und seine Handlungen am „höheren Ganzen“ (68) orientiert.

Drittens thematisiert Rüstow das Grundproblem kapitalistischer Gesellschaften, nämlich die Gewährleistung sozialer Kohärenz (heute: ‚gesellschaftlicher Zusammenhalt‘) bei gleichzeitiger Konkurrenz. Sein Lösungsvorschlag besteht zum einen darin, die Wirtschaftssubjekte als Staatsbürger auf einen moralischen Holismus zu verpflichten, indem sie staatliche Maßnahmen auch dann akzeptieren, wenn sie ihren Privatinteressen widersprechen. Zum anderen ist für ihn die entscheidende Ebene der Integration die des Staates bzw. die einer Verfassung, die das Übergreifen des gesellschaftlichen Pluralismus auf staatliche Maßnahmen (vor allem durch die Parteien) verhindert. 1932 wäre dies die Entscheidung für ein Präsidialsystem gewesen. Rüstow selbst präferierte eine Kanzlerdiktatur.11

Nach 1945/9 suchen sowohl Röpke als auch Rüstow, mittlerweile deutlich kulturpessimistisch eingestellt, Integration und Kohärenz auf der Ebene kleiner Gemeinschaften wie Familien, Kirchengemeinden oder Vereinen.12 Rüstow sprach von der Notwendigkeit einer „Vitalpolitik“
als Gegenhalt zur konkurrenzorientierten Marktwirtschaft. Dem lag folgende ‚Erkenntnis‘ zugrunde: „Wenn wir uns für die – soziale – Marktwirtschaft und ihre Leistungskonkurrenz entscheiden, so müssen wir doch zugeben, daß diese Konkurrenz, unbeschadet ihrer gewichtigen sonstigen Vorzüge, immerhin von sich aus keine aktive Integrationskraft darstellt.“ (Hervorh. v. Vf.) Gefordert sei für den „Sozialbereich“ ein „immer dichtere[s] Netz und Gewebe lebendiger Bindungen“, um ein „Optimum der sozialen Integration“ zu erreichen. 13 Zu dieser Kompensationstheorie mag beigetragen haben, dass sich Rüstow bis ins hohe Alter den Idealen der Jugendbewegung verpflichtet fühlte (vgl. Plumpe 2013, 561 [Fn. 1]).

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 43 vom Mai 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.

1 Dass der Gildenschafter Weißmann sich ausgerechnet auf Rüstow bezieht, mag auch damit zusammenhängen, dass Rüstows (Jg. 1885) geistige Entwicklung stark durch die Jugendbewegung geprägt war. Nach dem Krieg betätigte er sich im Jungdeutschen Bund und beteiligte sich an den Debatten zur „Positionsbestimmung der Jugendbewegung in der neuen Republik“ (Werner Plumpe: Gemeinschaftspathos und Vitalpolitik. Alexander Rüstows jugendbewegtes Werk, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt, Göttingen 2013, 557-580, hier S. 566).

2 Der Beitrag erschien ohne Titel in: Boese, Franz (Hrsg.): Deutschland und die Weltkrise, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 187, Dresden 1932, S. 62–69; unter dem Titel: Interessenpolitik oder Staatspolitik? In: Der Deutsche Volkswirt, 7. Jahrgang, Nr. 6, Berlin 1932, S. 169–172; unter dem Titel: Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftspolitischen Liberalismus, in: Hoch, Walter (Hrsg.): Alexander Rüstow: Rede und Antwort, Ludwigsburg 1963, S. 249–258.

3 Anspielung auf das berühmte Diktum Walther Rathenaus.

4 Für die zynische Formulierung, das Pflaster sei „letzten Endes aus unserer Haut geschnitten“, entschuldigt sich Rüstow (63).

5 Bereits vorher, nämlich 1929, hatte Wilhelm Röpke die Unterscheidung zwischen marktkonformen und nicht-marktkonformen Eingriffen angedeutet. 1937 taucht sie dann explizit in seiner „Lehre von der Wirtschaft“ auf. Dieser Hinweis bei Joachim Zweynert: Die Entstehung ordnungsökonomischer Paradigmen – theoriegeschichtliche Betrachtungen (Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik 07/8), Walter Eucken Institut, Freiburg, 10.

6 Vgl. Carl Schmitt: Die Wendung zum totalen Staat [1931], in: Ders.: Positionen und Begriff im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, 3. Aufl., Berlin 1994, 166-178; dort auch: Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland [1933], 211-216. Erstmalige Erwähnung des Begriffs totaler Staat bei Schmitt Ende 1930 (Ralf Walkenhaus).

7 Planwirtschaft ist für Rüstow nur „in einer tyrannischen und autokratischen Form“ wie in Russland denkbar und möglich (67).

8 Rüstow zitiert hier aus Ernest Renans Rede „Was ist eine Nation?“ von 1882.

9 Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, 292.

10 Diesen Satz zitiert Weißmann (s. Vorbemerkung) zustimmend.

11 Vgl. Ralf Ptak: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004, 38.

12 Vgl. Zweynert (Fn. 5), 11.

13 Alexander Rüstow: Vitalpolitik gegen Vermassung, in: Albert Hunold (Hg.): Masse und Demokratie, Erlenbach-Zürich/Stuttgart, 215-238, hier S. 229 u. 238.