Notizen zur Berichterstattung über den Russischen Krieg in der Ukraine in den deutschen Medien
Von Clemens Knobloch
Die Geschicklichkeit der großen Journalisten besteht darin, dass sie den Idioten, der sie liest, dazu bringen zu sagen: »Genau das, was ich dachte!« Man will nicht angestoßen, man will geschmeichelt werden. (André Gide)
[0] In mehr als einer Hinsicht ist es eine undankbare Aufgabe, über den Mediendiskurs zum Ukrainekrieg zu schreiben.
Ich nenne nur einleitend ein paar Gründe dafür:
[a] Der medienöffentliche Diskurs zum Ukrainekrieg ist so eindeutig, gleichförmig und einstimmig, dass es wirklich keine Diskursspezialisten braucht, um ihn zu »verstehen«. Der schlagartig aufgenommene Eskalations-, Aufrüstungs- und Militarisierungsdiskurs im Westen erklärt sich selbst. Missverständnisse sind kaum möglich. Aufklärungsversuche und alternative Deutungsmuster (selbst wenn sie von Militärs und professionellen Strategen kommen) werden mit massiver Kontaminationsrhetorik isoliert und als Parteinahme für den Feind gewertet (wie es die Regeln der Kriegspropaganda vorschreiben; s.u.).
[b] Im Umkreis der Linken gilt zudem, dass die Fragmentierung und Aufspaltung der Positionen und Reaktionen weit fortgeschritten ist. So etwas wie eine gemeinsame Einschätzung ist nirgends zu erkennen. Daraus folgt zwingend, dass jeder Versuch, die Dinge und Verhältnisse zu deuten, die eine oder andere Gruppierung provozieren und zu Widerspruch reizen wird. Was wiederum damit zusammenhängt, dass
[c] es gleichermaßen unmöglich und doch unbedingt notwendig ist, der durch den Krieg (durch jeden Krieg!) forcierten binären gut-böse-Logik zu entkommen. Es gibt in einer durch Krieg binarisierten Szene keine sprachliche Darstellung der Lage, die nicht zugleich als Parteinahme für die eine oder andere Seite interpretiert werden kann. Jede sprachliche Darstellung transportiert auch Wertung, und die Eiferer beider Seiten werden nicht zögern, jeden Versuch Distanz zu gewinnen, als Verrat an der guten Seite zu deuten. Es ist aber zugleich auch offensichtlich, dass analytisch und strategisch nur der Versuch weiterhilft, das Geschehen aus kalter Distanz unter die Lupe zu nehmen.
Jeder solche Versuch ruft die Wadenbeißer und Diskurswächter der Atlantiker-Lobby in den deutschen Redaktionen auf den Plan (zu dieser Lobby mehr bei Krüger 2016). Varwick (2022), selbst prominentes Opfer dieser Lobby, spricht vorsichtiger von den »etablierten transatlantischen Organisationen«. Selbst kritische Stimmen aus den USA (Henry Kissinger, John Mearsheimer) werden medial abgemeiert, wie Varwick (2022) berichtet. Zu den prominenten Opfern dieser Kräfte gehört auch Wolfgang Streeck, in der Hauptsache, weil er von einem »Imperium« gesprochen und damit das US-amerikanische (und nicht das russische) gemeint hat., was ihm eine böse Replik des obersten FAZ-Wadenbeißers, Patrick Bahners, einbrachte (Bahners 2022), der kurz darauf vor Ehrfurcht über den moralischen Rigorismus einer ukrainischen Sängerin nachgerade erstarrt, die im Bundeskanzleramt den Satz geäußert hat: »Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen, dann soll es halt so sein« (Bahners 2022a).
Es gibt in diesem Krieg nicht DIE gute und DIE böse Seite. Automatisierte moralische Reaktionen (der Angegriffene ist der Gute etc.) helfen nicht weiter.
Die praktische und strategische Schlussfolgerung für jeden analytischen Versuch kann darum eigentlich nur sein: möglichst vielen, möglichst allen auf die Füße zu treten.
[1] Der § 1 für Linke lautet: In der Ukraine kämpfen derzeit zwei imperiale und kapitalistische Blöcke gegen einander um militärische und ökonomische Einflusszonen.
Kein Linker hat auch nur den mindesten Grund, sich für die eine oder die andere Seite einzusetzen. Weder für Putins noch für Selenskys Oligarchen sollte irgendein Sozialist Blut vergießen (wollen). Die offizielle Version des Kriegs bei uns lautet freilich: Hier kämpft das heldenhafte ukrainische Volk gegen den imperialen russischen Aggressor. Und die hoch moralischen westlichen und atlantischen Akteure kommen dem ukrainischen David gegen den russischen Goliath zu Hilfe. Diese Version ist mit einigem Abstand die verlogenste.
Wer seine Murmeln beisammen hat, weiß, dass wir es mit der letzten Eskalationsstufe der militärischen Einkreisung Russlands durch die NATO zu tun haben. Die russische Annexion der Krim (Chruschtschow, selbst Ukrainer, hatte sie in den 1950er Jahren der Ukrainischen Sowjetrepublik »geschenkt«) war geostrategisch unvermeidlich. In Sewastopol liegt die Russische Schwarzmeerflotte. NATO-Raketen auf der Krim wären mehr als ein Gegenstück zu den sowjetischen Atomraketen auf Kuba in den frühen 1960er Jahren, es wäre die bedingungslose Kapitulation Russlands gegenüber der NATO-Einkreisung gewesen. Für die (eigentlich seit 1990 überständige) NATO ist der Krieg in der Ukraine dagegen ein (nicht nur diskursives) Revitalisierungsmittel. Weil alle wissen, dass die ukrainischen Truppen zwar ihr Land verteidigen, in diese Lage aber nur gekommen sind, weil sie seit dem Umsturz nach den Maidan-Ereignissen stellvertretend das Geschäft der NATO betreiben. Die ukrainische Kriegsrhetorik verwaltet als inoffizielles NATO-Mitglied in der Hauptsache diese Ressource gegenüber den (offiziellen) NATO-Mitgliedern. Eine andere hat sie nicht. Dass die NATO in der Ukraine Kriegspartei ist, steht außer Frage. Ob und wann Russland welche NATO-Mitglieder als Kriegspartei öffentlich identifizieren wird, ist eine ganz andere (strategische, diskursive und folgenreiche) Frage. Gegenwärtig (wir schreiben den 20. Juni) provoziert und eskaliert der Westen (z.B. durch Beschlagnahmung russischen Vermögens in der EU) den Konflikt und drängt die russische Seite gewissermaßen dazu, westliches Produktivvermögen zu enteignen. Wenn Russland das tut, ist die nächste Eskalationsstufe erreicht, und das hiesige Medienpublikum wird naturgemäß empört sein. Der Westen hat ja derzeit gar keine Wahl als sich stark zu fühlen gegenüber seinem Publikum. Aber das kann sich natürlich ändern.
Das eigentlich Neue an der Diskurslage nach dem russischen Angriff ist so simpel und banal, dass es wirklich keine Diskurslinguisten braucht (und es ist zugleich so wirkungsvoll, dass diskurslinguistische Aufklärung dagegen nichts ausrichten wird): Die neue Lage erlaubt es, zugleich auf der moralisch unbedingt guten Seite des angegriffenen Opfers zu stehen und Aufrüstung, Eskalation und Kriegshetze zu betreiben. Wen wundert es, dass die (in Sachen Okkasionalismus gut trainierten) Atlantiker- und NATO-Truppen in unseren Medien begierig nach der Gelegenheit greifen. Sie kommt so nie wieder.
Im Übrigen ist das rhetorische Repertoire der Kriegspropaganda sehr begrenzt und seit dem Ersten Weltkrieg eigentlich immer das gleiche (Morelli 2004). Es ist von verzweifelter Monotonie und wird in aller Regel von beiden Kriegsparteien gleichermaßen genutzt. Ich reproduziere die schematische Liste aus Morelli (2004):
- Wir wollen keinen Krieg!
- Der Gegner ist allein für den Krieg verantwortlich!
- Der Führer des feindlichen Lagers wird dämonisiert
- Wir verteidigen ein edles Ziel und keine besonderen Interessen!
- Der Feind begeht wissentlich Grausamkeiten, wenn wir Fehler machen, geschieht dies unbeabsichtigt
- Der Feind benutzt unerlaubte Waffen
- Wir erleiden geringe Verluste, die Verluste des Feindes sind erheblich
- Anerkannte Kulturträger und Wissenschaftler unterstützen unser Anliegen
- Unser Anliegen hat etwas Heiliges
- Wer unsere Propaganda in Zweifel zieht, arbeitet für den Feind und ist damit ein Verräter
So gut wie alles, was wir täglich in unseren Medien serviert bekommen, ist mit dieser Liste abgedeckt.
Der § 2 für Linke lautet: Die Moralisierung des Kriegs hilft seinen Opfern nicht, sie gibt nur denen ein gutes Gefühl, die diese Moralisierung betreiben (Hegels »schöne Seelen«!). Nur wer die Hintergründe analysiert, kann konstruktive Friedenspolitik machen. Die angegriffene Seite ist nicht automatisch die gute Kriegspartei. Die Moralisierung löst den Konflikt aus den Zusammenhängen, zu denen er gehört, und macht ihn damit unverständlich und monströs. Moral gehört zur zwischenmenschlichen Nahoptik. Am Platz ist sie, wo es um die Unterstützung für Geflüchtete, um humanitäre Fragen, Folgen etc. geht. Zur Entstehung und zur Beendigung des kriegerischen Konflikts kann sie nicht beitragen. Anders gesagt: »Gut« ist nur, was den Krieg deeskaliert. Wer sich auf eine gut/böse-Optik zu den Kriegsparteien einlässt, wie sie derzeit im hegemonialen Diskurs rabiat durchgesetzt wird, der hat schon verloren. Moralische Parteinahme kann Analyse und Diskussion nicht ersetzen, im Gegenteil, sie blockiert den nüchternen Blick. Und eingesetzt wird sie in der Hauptsache, um Eskalation und Hochrüstung zu legitimieren (hierzu auch Wahl 2022). Statt dem sehr menschlichen Bedürfnis nachzugeben, sofort eine gute und eine böse Seite zu identifizieren, tut man gut daran, das eigene moralische Urteil auszuhängen und die moralisierten Motive der eigenen Seite kritisch in den Blick zu nehmen.
[2] Die Neue Zeit, Zeitenwende, Epochenbruch, »aufgewacht in einer anderen Zeit«-Rhetorik, die andeutet, dass Ausgleich, Verständigung, Verhandlung nicht mehr zählen,
sondern Aufrüstung, Feindschaft, Krieg, wird von vielen Stichwortgebern gepflegt (exemplarisch Münkler 2022). Sie klingt, in ihrer Einstimmigkeit, ein wenig so, als ob die deutschen (und die anderen westlichen) Eliten schon lange auf eine Gelegenheit gewartet hätten, sie unisonso zu intonieren. Die Rhetorik der Zeitenwende erklärt zum Ereignis, was das Ergebnis politischer Entscheidungen und politischen Willens ist. Renationalisierung (bzw. selektive Verblockung) der Ökonomie, das Ende der liberalen Globalisierung, das »Decoupling« der sich neu formierenden militärisch-ökonomischen Blöcke – all das war längst seit Jahren auf dem Weg, als Putin in der Ukraine einmarschierte. Diese Decoupling-Bewegung ist diskursiv repräsentiert im Lied, das von »unserer Abhängigkeit von Russland/China« handelt und das Northstream II zu einem geradezu mythischen Komplex gemacht hat (Link 2022). Der Krieg liefert diesen schon länger laufenden Rearrangements der kapitalistischen Welt einen Beschleuniger und ein unwiderstehliches Zurechnungsmotiv. Putins Einmarsch in die Ukraine wird demnächst an allem schuld sein, was auch sonst passiert wäre: Gigantisch steigende Preise für Energie und Lebensmittel, massive Aufrüstung, Block-Protektionismus, zusammenbrechende Lieferketten, Nichterreichen ökologischer Ziele etc.
Markant ist in diesem Zusammenhang der (von den Atlantikern in allen europäischen Redaktionen aufgebaute) mediale Druck zur rückwirkenden Umdeutung der deutschen Politik der vergangenen 30 Jahre. Sie wird jetzt so dargestellt, dass alle eine Mitschuld trifft, die sich in der Vergangenheit um Ausgleich (und Geschäft!) mit Russland gekümmert haben. Die müssen jetzt in Sack und Asche gehen und besonders laut nach schweren Waffen für die Ukraine schreien, um ihre Fehler aus der Vergangenheit wieder gut zu machen. Wenn Russland als absoluter Feind etabliert werden soll, dann muss das Land schon immer furchtbar böse gewesen sein. Selbstverständlich nutzt man auch die Ressourcen, die sich aus der Gleichsetzung des gegenwärtigen oligarchischen und staatskapitalistischen Regimes mit der Sowjetunion ergeben. Die russische Rhetorik gibt da Steilvorlagen. Restlos verdeckt wird in dieser Umdeutungskampagne aber, dass es vor allem Putins Russland gewesen ist, das sich in den vergangenen 20 Jahren um Ausgleich und Verständigung bemüht hat.
In ihrer Gesamtheit gleicht die Zeitenwende- und Epochenbruch-Rhetorik dem Versuch, die jüngere Geschichte so umzuschreiben, dass kompromisslose Aufrüstung und Kriegsvorbereitung daraus folgt. Es ist keineswegs nur Putin, der die Geschichte umschreibt!
[3] Klassische Kriegspropaganda ist die (in vielen Varianten erzählte) David-gegen-Goliath-Geschichte.
Sie hat eine Variante, in der bei den Guten die Frauen Molotovcocktails basteln und ihre Männer an die Front schicken, während bei den Bösen die jugendlichen Soldaten reihenweise desertieren. Diese Geschichte ist umso erwartbarer, als Evidenz immer leicht beizubringen ist. Und selbstverständlich erklärt der Aggressor (vom Kosovokrieg über Libyen, den Irak etc.) stets, dass er chirurgische Präzisionsschläge gegen militärische oder strategische Objekte führt, während der Angegriffene Bilder von bombardierten zivilen Objekten und Massakern an der Zivilbevölkerung etc. veröffentlicht. In diesem Sinne könnte man (mit Jürgen Link) sagen: Putin hat der NATO ihren Diskurs geklaut. Auch bei den NATO-Kriegen ging es selbstverständlich um die Verhinderung von Völkermord, um (erfundene) Massenvernichtungswaffen, um einen Hitler-Wiedergänger. Und im zirkulierenden Bild der Ukraine greifen reaktiv die heroischen Züge um sich, die doch im deutschen Bild der Serben, Iraker, Afghanen etc. merkwürdigerweise völlig fehlten, als die von der NATO angegriffen wurden.
Nachbemerkung zum Diskursdiebstahl: In einer Afghanistanreportage von Dlf und WDR (sie handelt, versteht sich, von Mädchen, die nicht mehr in die Schule dürfen) wird über einen Taliban-Offiziellen gesprochen. Der Reporter schildert ihn, mit schwarzem Bart, Turban und militärischem Outfit, und sagt dann ganz naiv: Er sehe aus wie jemand, der noch bis vor kurzem Ziel einer US-amerikanischen »Spezialoperation« hätte werden können! Was er meint, ist die die außergesetzliche Hinrichtung per Drohne. In der Tat: Putin hat der NATO ihr Narrativ geklaut.
[4] Wenn kritische Diskursanalyse in der gegenwärtigen Konstellation überhaupt etwas erreichen kann, dann nur durch konsequente Zurückweisung aller Formen des binären Reduktionismus (Jürgen Link).
Den unbedingten Zwang, sich entweder ganz auf der guten oder aber ganz auf der bösen Seite zu verorten, muss man ignorieren. Jede differenzierte Argumentation, schon jede Erinnerung daran, dass die NATO und der Westen massenhaft Kriege gegen die Zivilbevölkerung geführt haben, wird mit dem neuen Kontaminationsbegriff des Putin-Verstehers belegt und sanktioniert. Die öffentliche Verbannung alles Russischen nimmt wahnhafte Züge an: Künstler, Wissenschaftler, Sportler, Medien, Organisationen, Personen, die es in der Vergangenheit gewagt haben, Beziehungen mit russischen Institutionen zu unterhalten, geraten unter Beschuss. Politiker wie Schwesig, Schröder, Platzeck werden zu Unpersonen erklärt und sollen Buße tun. Wer einem russischen Künstler jetzt noch applaudiert, lebt gefährlich. Wissenschaftliche Kooperationen mit Russland sind eingestellt oder eingefroren. All das wäre noch vor ein paar Wochen unbedingt unter Rassismus gebucht worden. Jetzt ist es normal. Und wenn der ukrainische Botschafter alle Russen für Feinde erklärt, hält sich die Empörung in engen Grenzen. Die absehbare Wirkung solcher Maßnahmen dürfte darin bestehen, dass die Selbstwahrnehmung Russlands als Opfergemeinschaft gestärkt wird. Und diese Wahrnehmung dürfte die Zustimmung der russischen Öffentlichkeit zum Krieg stärken.
[5] Was die Breitenwirkung der westlichen Eskalationspropaganda betrifft, sollte man den moralischen Boulevard nicht unterschätzen.
Ein Beispiel aus der Anfangsphase des Krieges: Am 8. März 2022 ein modellbildender Kommentar im Echo des Tages in WDR5: Der Autor beginnt mit einer Szene, in der eine brave deutsche Familie sich zu einem Wochenendausflug im Auto aufmacht. Im Tank: Benzin aus russischem Erdöl. Folge: Der brave Familienausflügler finanziert mit seinem Tun den brutalen russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine. Darauf die höchst suggestive Frage: »Wollen wir das?«. Das Ziel ist klar. Einen ganz ähnlichen Kommentar gab es auch schon am Vortag. Vielleicht sollte man das als die moralisch-liberale, an jeden Einzelnen adressierte Version der Kriegsopfer-Propaganda bezeichnen. Was kann man machen gegen diese gutmenschliche Variante der Militarisierungs-, Kriegs-, Eskalations- und Ausnahmezustandsgeilheit im Westen?
Seither hat sich dieses diskursive Muster erheblich ausgeweitet. Mittlerweile dominiert die (ziemlich penetrante) diskursive Engführung von aversiver Anti-Russland- und Anti-Putin-Rhetorik mit der positiv-programmatischen Öko- und Klimawandelrhetorik: Alles, was wir zu tun haben, schadet zugleich Putin und nützt den globalen Öko- und Klimazielen. Was will man mehr? Dass sich da immer mehr Aufweichungen ehedem heiliger Ökoprinzipien einschleichen? …Nun ja, das ist eben alles Putin schuld. Und das wird gebraucht, damit die Grünen sich vor ihrer ökologischen Basis rechtfertigen können (falls es die wirklich noch gibt). Brauchen die Grünen am Ende Putin, um eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf den Autobahnen doch noch durchzusetzen? Und die Atomlobby nutzt auch die Gunst der Stunde und bringt verlängerte Laufzeiten der AKWs ins Spiel. Nur kann sie uns noch nicht so recht erklären, wie man damit im nächsten Winter heizt. Die NZZ spricht (am 8. April 2022) von der Instrumentalisierung des Kriegs für die banalsten Wirtschafts-, Image- und Machtinteressen. Die Kohlelobby ist natürlich auch dabei, und länger laufen werden just die mit (deutscher) Braunkohle betriebenen Kraftwerke.
Selten notiert, aber untersuchenswert ist weiterhin Folgendes: Der Krieg in der Ukraine wird in der EU im (auch in anderen EU-Sphären und Themen vorherrschenden) Modus des Standortwettbewerbs ausgetragen. Wer eine hegemoniale deutsche Zeitung aufschlägt, der erfährt, dass Frankreich viel mehr für die militärische Unterstützung der Ukraine tut als Deutschland. Wer eine französische Zeitung aufschlägt, der erfährt, dass Deutschland viel mehr für die militärische Unterstützung der Ukraine tut als Frankreich. Und ständig geht es darum, wer welche Abhängigkeiten von Russland (und China) bereits erfolgreich reduziert hat (und wer nicht). Das könnte eine Strategie der europaweit in den Medien gut organisierten Atlantiker sein, aber auch einfach ein Effekt der Tatsache, dass so gut wie alle EU-Angelegenheiten in diesem Modus ausgetragen werden.
Schlagwörter wie Opfer, Verzicht, Gewissen, Scham, Tapferkeit, Feigheit usw.? All das klingt wie auferstanden aus der untergegangenen moralischen Welt einer katholischen Gewissenserforschung – und füllt heute die Rundfunkkommentare und die Zeitungen, wenn es um »unsere« Haltung zum Ukrainekrieg und zu Russland geht. Auf Arte bezeichnet jemand die (überwiegend rechtsradikalen) Söldner aus westlichen Ländern, die in der Ukraine gegen Russland kämpfen wollen, als Idealisten. Müssten dann nicht auch diejenigen, die aus den europäischen Ländern kommend für den Islamischen Staat in den Krieg ziehen, Idealisten sein? Die Propagandisten des postheroischen Zeitalters werden in der FAZ bereits verspottet, der klassische Kriegsheld feiert, von einem Tag auf den anderen, seine glorreiche Wiederauferstehung. Der Ex-Bundespräsident Gauck hält es (sprechend gewiss aus seinem gut gewärmten Büro) für kein Problem, wenn die Bevölkerung einstweilen ohne Heizung durch den Winter kommen muss. Wir müssen schließlich alle Opfer bringen, wenn wir schon nicht selbst Helden werden können. Und Frieren lockert nicht nur unsere Abhängigkeit von russischer Energie, es ist sogar noch ökologisch (s.o.). Und autofreie Sonntage (erprobt in der ersten Ölkrise der frühen 1970er Jahre) sind erst recht eine win-win-Konstellation, wenn sie gut für die Ökologie und gut gegen Putin sind. Man darf gespannt sein, ob (und wie lange) diese abenteuerliche Engführung von Krieg und Ökologie hält!
[6] Durchaus lohnend wäre es dagegen, wenn auch die Westmedien einmal thematisieren würden, auf welche Realitäten sich Putin bezieht, wenn er die Entnazifizierung der Ukraine als Kriegsziel formuliert.
Le Monde Diplomatique hat dankenswerter Weise (März 2022, S. 2) eine Diskursanalyse dazu angefertigt und teilt mit, was man in den US-amerikanischen und französischen Medien darüber erfährt, wie in Kiew Stepan Bandera, Führer der ukrainischen NS-Kollaborationsgruppen, als Nationalheld gefeiert wird, wie man der (aus ukrainischen Freiwilligen bestehenden) SS-Division »Galizien« gedenkt (geführt von der Melnyk-Fraktion der Ukrainischen Nationalisten), wie das Asow-Regiment, eine Neonazitruppe, nach 2014 in die ukrainische Armee integriert wurde, und einiges Ähnliche mehr. Gleichzeitig hat die Poroschenko-Regierung 2015 alle kommunistischen Symbole und Ideen unter Strafe gestellt. Dass Selensky (anders als Poroschenko) von manifest antisemitischen Veranstaltungen Abstand hält, versteht sich, stattfinden tun sie gleichwohl auch unter seiner Regierung. Auch so sieht der Weg der Ukraine in die westliche Wertegemeinschaft aus. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Melnyk, ist ein bekennender Verehrer des ukrainischen Kriegsverbrechers Bandera und ein Bewunderer des Asow-Regiments. Und wissen kann man auch, dass der urkrainische Staat seit 2015 weltweit faschistische Milizen rekrutiert, mit dem Auftrag, die Krim und die ostukrainisch-russischen »Volksrepubliken« zurückzuerobern. Das Asow-Regiment ist lediglich die bekannteste unter ihnen.
Pierre Rimbert (2022) kommt in Le monde diplomatique zu dem Ergebnis, dass in den französischen Medien (bei abundanter Berichterstattung über die Ukraine) kaum ein Wort über diese Dinge verloren wird (und fragt sich, was wohl geschehen würde, wenn Putin auf dem Roten Platz einen Neonaziaufmarsch ehren würde). In den USA (New York Times, Washington Post) sei die Lage ganz ähnlich. Lediglich in The Nation gab es 2021 einen Artikel, der die Glorifizierung von Nazi-Sympathisanten in der Ukraine thematisiert.
Der Deutschlandfunk berichtet am 11. März (in einem – exemplarisch eiernden – Experteninterview) über das neonazistische Asow-Regiment in der Ukraine, mit dem begütigenden Tenor, das alles sei nicht so schlimm, weil das Regiment ja in die reguläre Armee integriert sei – und außerdem gebe es in Russland viel mehr Neonazis als in der Ukraine! Na dann. Man könnte es auch für eher beunruhigend halten, dass Söldner- und Neonazi-Milizen in die ukrainische Armee integriert sind.
Zu den ausgesprochen perfiden Kriegsstrategien der Ukraine gehört es, dass sie das Asow-Regiment zur Verteidigung von Mariupol eingesetzt hat. Die Stadt ist traditionell russisch und griechisch, das Regiment faschistisch und antirussisch. Was den Schluss nahelegt, dass die geschützte und verteidigte Bevölkerung der Stadt dem Asow-Regiment eher als Geisel gedient haben könnte. Lediglich auf der Seite Florian Rötzers (krass&konkret) wird darüber berichtet (und auch über andere dokumentierte Kriegsverbrechen der ukrainischen Seite). Dass man bei uns gescheiterte Evakuierungen der Zivilbevölkerung aus Mariupol den Russen in die Schuhe schiebt, versteht sich von selbst.
[7] Ein Diskursmotiv von vielen: Kein Satz dürfte in den deutschen Medien häufiger gedruckt worden sein in den vergangenen Monaten als der Satz, jedes Land habe das uneingeschränkte Recht, seine Bündniszugehörigkeit frei zu wählen.
Da ging es um die Ukraine und die NATO (bzw. die EU). Seit einiger Zeit kann man aber überall (vor allem im Handelsblatt und in der FAZ, im SPIEGEL) lesen, die Salomonen (wo liegen die Salomonen?!) hätten beschlossen, ihre Sicherheitsbeziehungen zu »diversifizieren« (rhetorisch geschickt: divers ist immer gut) und wollten jetzt nicht nur mit Australien, sondern auch mit der VR China Sicherheitsabsprachen treffen, was für die westliche Presse (auch die USA) Besorgnis (das ist die mildeste Formel) auslöst. Ein Bündnis der Salomonen mit China würde eine winzige Lücke in die (ansonsten lückenlose) militärische Einkreisung Chinas durch die USA und ihre Verbündeten im südchinesischen Meer reißen. So viel zur Bündnisfreiheit aller Staaten. Und nun zur Weltmacht China selbst: Ihr drohen die USA und die EU mit schwersten Konsequenzen, sollte sie den Krieg Russlands gegen die Ukraine unterstützen. Man lässt der VR China hingegen die volle Freiheit, sich den westlichen Sanktionen gegen Russland anzuschließen. »Hasenfreiheit in Zeiten der Jagd«, nannte das Hannah Arendt diesen Typ von Freiheit.
Und selbst ein besonnener und mäßigender Autor wie der (sehr geschätzte) Ingo Schulze schreibt blauäugig in der Süddeutschen Zeitung vom 30.3.22, »dass jedem souveränen Staat grundsätzlich das Recht zusteht, sich dem Bündnis anzuschließen oder fernzubleiben, dem es sich anschließen oder fernbleiben möchte«. Als ob der Westen (oder natürlich auch: der verblichene Warschauer Pakt) es jemals irgendeinem Staat freigestellt hätte, welchem Bündnis er sich anschließen möchte! Die Serie von orchestrierten Putschen und Regimewechseln in der Ukraine der vergangenen 20 Jahre beweist das Gegenteil.
[8] In ihrer Gesamtheit indizieren die Diskursdaten, dass Deutschland in der für uns alle lebenswichtigen Frage von Krieg und Frieden kein kompakter Akteur ist, sondern ein willenloses und getriebenes Anhängsel der NATO und der USA (und ihrer ukrainischen Klienten).
Es ist, als hätte die gesamte Mainstream-Politik geschworen, nicht dem »Wohl des deutschen Volkes« zu dienen, sondern den strategischen Absichten der NATO und der USA. Der ukrainische Botschafter verlangt tagtäglich, dass Deutschland ihn gefälligst mit schweren Waffen versorge und beschimpft zeitgleich deutsche Politiker als Putin-Knechte. Wäre Deutschland ein souveräner Staat, hätte es den ukrainischen Botschafter längst ausweisen müssen. Die hektischen Beschlüsse der ersten Kriegswochen (100 Milliarden Sondervermögen für Hochrüstung, 2% mindestens für die NATO-Aufrüstung etc.) widersprechen dem wohlverstandenen Interesse der Deutschen. Ganz abgesehen davon, dass sie zunächst ohne parlamentarische Debatte getroffen worden sind. Und der deutsche Bundespräsident reagiert mit Buße und mea-culpa-Sprüchen (in allen Zeitungen am 5. April 2022) auf die Beleidigungen und Angriffe des ukrainischen Botschafters – wie ein ertappter Hund, der den Pantoffel seines Herrchens zerkaut hat. Unbefangenen Beobachtern drängt sich der Eindruck auf, die Bundesrepublik werde derzeit von Kiew und Washington aus regiert. Das Treffen der westlichen Verteidigungsminister in der Ramstein-Airbase am 24. April unterstreicht, dass die USA jetzt die strategische Regie des Krieges direkt übernommen haben. Deutschland und die EU sind mittlerweile als subalterne Juniorpartner identifizierbar, die längst nicht mehr selbst entscheiden, was sie tun. Es waren die USA, die mitgeteilt hat, dass künftig auf deutschem Boden ukrainische Kämpfer von US-Militärs ausgebildet werden. Es waren die USA, die das Kriegsziel der nachhaltigen Schwächung Russlands festgelegt und die EU auf einen langen Krieg eingestimmt haben. Geostrategisch handelt der Krieg von der Frage, ob es den USA gelingt, trotz ihres »China-Schocks« und des Desasters in Afghanistan und im Irak ihre Rolle als einzige globale Ordnungsmacht gegen die wachsenden Bemühungen um eine plurizentrische Welt durchzusetzen. Damit die USA hier Erfolgschancen haben, müssen Russland und die EU in einen langdauernden militärischen Konflikt verwickelt werden. Das ist die strategische Ratio hinter der NATO-Osterweiterung – und die Ukraine ist der Schlussstein dieser Osterweiterung. Hätte Russland einen schnellen Sieg in der Ukraine erreicht, wäre dieses Szenario vielleicht verhindert worden. So hingegen sind die USA zwei Konkurrenten auf einmal los und können sich auf die Einkreisung Chinas konzentrieren.
Ein penetrantes Diskursmotiv in diesem Zusammenhang ist die Engführung der Komplexe Russland/Ukraine und China/Taiwan. So befragt die SZ (18./19. Juni 2022) den Politologen Alexander Görlach: »Ist Taiwan die Ukraine Chinas – ergibt dieser Vergleich Sinn?«. Und der antwortet: »Ich glaube, dass die Ukraine und Taiwan für Wladimir Putin und Xi Jingping Schicksalsorte sind, mit denen sie nicht nur ihr persönliches Geschick verknüpfen, sondern in diktatorenhafter Selbstüberschätzung auch die Schicksale ihrer Länder« (Baumstieger 2022). Es folgen erstaunliche Erkenntnisse wie etwa, dass China mit dem Projekt der Neuen Seidenstraße Milliarden in die Infrastruktur anderer Länder investiert, »natürlich nicht aus Altruismus« (den gibt es nur bei uns!). Außerdem bringt man da »alte Floskeln wie die von der Einheit Chinas, um die eigene Aggressivität zu rechtfertigen«. Der Experte scheint vergessen zu haben, dass er aus einem Land stammt, das 40 Jahre lang die Deutsche Einheit im offiziellen Staatsprogramm hatte (nebst Anspruch auf das Territorium der sogenannten DDR).
[9] Viel wäre noch zu sagen zu diesem Komplex. Aus Platzgründen aber nur noch eine Schlussbemerkung zur linken Vielstimmigkeit.
Es gibt mittlerweile so viele (gegensätzliche) Papiere aus der Linken, dass es unmöglich ist, sich mit allen auseinanderzusetzen. Darum nur ein paar Worte zu Raul Zeliks »Nein zu Waffenlieferungen« (2022): Raul Zelik beginnt mit der These, nicht die NATO-Kooperation der Ukraine habe den russischen Angriffskrieg ausgelöst, »sondern ihre bloße Existenz als sich öffnende postsowjetische Gesellschaft«. Und obwohl der militärische Widerstand der Ukraine eher »von gesellschaftlicher Selbstorganisation« geprägt sei als von militärischen Befehlsketten, plädiert Raul Zelik gegen Waffenlieferungen, weil die Linke nicht an der Renormalisierung der Staatenkriege, sondern an einer mulitilateralen Sicherheitsordnung mitzuarbeiten habe. Dem kann ich nur zustimmen. Zweitens: Wenn »wir« Waffen an die Ukraine liefern, dann werden diese für das Expansions- und Einkreisungsinteresse der NATO eingesetzt, und die sei nun einmal keine Bürgerinitiative, sondern der weltgrößte Verein von Kriegstreibern. Auch das leuchtet mir ein. Drittens schließlich kämen westliche Waffenlieferungen den Milizen, Warlords, den Rechsradikalen Freiwilligenverbänden zugute, also (in den Worten Zeliks) den Feinden »von Emanzipation, Gleichheit und Demokratie im Inneren der ukrainischen Gesellschaft«. Auch das leuchtet mir ein, scheint mir aber in Widerspruch zu stehen mit dem etwas idyllischen Anfangsbild von der sich öffnenden postsowjetischen Gesellschaft. Geöffnet hat sie sich offensichtlich nicht so sehr für »westliche Werte«, sondern für rechtsradikale Banden, für das Verbot linker und russischer Organisationen und Medien etc., was man nicht erst seit den Maidanereignissen beobachten kann. Aber vielleicht sind das ja die westlichen Werte. Dennoch gibt es gewiss eine Realität hinter der Formel von der sich öffnenden postsowjetischen Gesellschaft, und das ist die einer wachsenden, gut ausgebildeten und an der westlichen Mittelklasse orientierten jungen städtischen Generation.
Zudem lese ich in der sonst nicht eben für Linksradikalismus bekannten Zeitschrift der Gewerkschaft ver-di, dass es dort einige ziemlich ernste Bedenken gegen den geplanten raschen EU-Beitritt der Ukraine gibt, weil das Land nicht einmal minimale Recht der Beschäftigten etabliert hat:
Laut dem Gewerkschaftsmonitor 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung wollte die ukrainische Regierung zuletzt den Kündigungsschutz abschaffen, Null-Stunden-Verträge einführen und die Gewerkschaften deutlich schwächen. Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation wie die Vereinigungsfreiheit, die in der Europäischen Union gelten, würden damit verletzt. (Welzel 2022)
Im Korruptionsindex von Transparency International bildet die Ukraine mit Platz 122 das europäische Schlusslicht, in Sachen Demokratie rangiert sie gleich auf mit Mexiko, notiert Welzel (2022). Da fragt man sich erneut, wofür sich die post-sowjetische Gesellschaft in der Ukraine geöffnet hat.
Weiterhin notieren auch die hiesigen Medien (wenn auch mit zurückhaltender Rhetorik) die vordemokratische Informations- und Medienpolitik der Ukraine. Koopmann (2022) zitiert die Formel »einheitliche Informationspolitik« und meint eine gleichgeschaltete Medienszene, in der nur die Stimme der Regierung zu hören ist. Schon vor Kriegsbeginn sprach man im Kyiv Independent davon, dass die Selensky-Regierung versuche, die Pressefreiheit in der Ukraine zu demontieren (Koopmann 2022).
[10] Für jeden halbwegs nüchternen Analytiker ist die Perspektive des deutschen Kapitalismus (Ex-Exportweltmeister!) verzweifelt,
und die Reaktionen auf den US- und Ukraine-Druck bestätigen das. Die US-Politik behindert bzw. beendet nicht nur das Russland-, sondern auch das milliardenschwere Chinageschäft der Deutschen massiv. Wenn sich der einschlägige US-Druck verstetigt, ist es eine Frage der Zeit, bis die deutschen Produktionsstätten in Russland und China enteignet werden. Sollte noch mit den mid-term-Wahlen in den USA sich die Wiederkehr von Trump ankündigen (was ich für wahrscheinlich halte), dann ist auch der US-Exportmarkt für die deutsche Wirtschaft bedroht. Und wie beliebt der deutsche Exportweltmeister im letzten, dann verbleibenden EU-Markt ist, muss nicht weiter ausgeführt werden. So viel zur Compliance der deutschen Wirtschaft und Regierung gegenüber den USA und Kiew. Der deutsche Kapitalismus hat derzeit die Hosen mächtig voll. Und dazu hat er auch allen Grund. Das langjährige Geschäftsmodell des Exportweltmeisters ist sichtlich am Ende.
Dabei ist eben auch das eine banale Tatsache: Jede aktive NATO-Intervention (wie definiert man die? Lieferung von Angriffswaffen? Von wem? Über welche Wege und Umwege?) wäre der Beginn des Dritten Weltkriegs. Und wer spricht einfach die offenkundige Tatsache aus, dass die Ukraine von der NATO ausersehen worden ist, das letzte Gefecht in der Einkreisung Russlands in Szene zu setzen? Wer erklärt öffentlich, dass die Ukrainer nicht die Schützlinge, sondern das Kanonenfutter der NATO sind? Wer, wenn nicht die Linke? Die (unwiderstehliche) Eskalationsstrategie der NATO (und ihrer atlantischen Kollaborateure in den westlichen Medien) besteht eben darin, dass Herr Stoltenberg auf der Vorderbühne erklärt, die NATO sei nicht Kriegspartei und wolle das auch nicht werden, während sie von der Hinterbühne die Ukrainer (dosiert und russische Reaktionen austestend) antreibt und aufrüstet. Wahrlich keine beneidenswerte Lage für die Ukraine, dass sie ausersehen ist für die Entscheidungsschlacht zwischen der seit 20 Jahren vorrückenden NATO und Russland.
Kurz: Die eigentlich schon nach 1990 (mit der Auflösung des Warschauer Paktes) sinnlos gewordene NATO näherte sich dem Verfall, nachdem all ihre »out of area«-Einsätze ziemlich desaströs geendet hatten (vor allem im Irak und in Afghanistan, aber auch in Libyen, Kosovo etc.), sehr zum Missvergnügen der Atlantiker-Lobby in den deutschen Medien, für die Europa plus Nordamerika die eigentliche Lebensbedingung des Westens ist (und ergo jede Annäherung zwischen der EU und Russland von jeher des Teufels). Jetzt steht die NATO wieder, so scheint es einstweilen, sie hat sich durchgesetzt, ihr Existenzrecht unter Beweis gestellt, jedenfalls im westlichen Diskurs, und muss geradezu zwingend den Russen eine vernichtende Lektion erteilen, damit künftig niemand mehr an ihr zweifelt. Die Damen und Herren des ehrgeizigen US-Weltherrschaft-Projekts mit dem Namen PNAC (= Project for a New American Century), drunter prominent der Ehemann von (»fuck the EU!«)-Victoria Nuland, letztere im Außenministerium federführend für die US-Ukrainepolitik, können es noch gar nicht fassen, was für eine Chance ihnen durch den russischen Angriff in den Schoß gefallen ist (vgl. hierzu den Beitrag von Jürgen Link in diesem Heft). Eben das macht die Situation brandgefährlich. Denn auch für Russland ist es die letzte Chance, die NATO zu stoppen. Man erinnere sich: Vor ein paar Jahren hat Macron die NATO für »hirntot« erklärt und Trump sie öffentlich für überständig und überflüssig gehalten.
[11] Literatur und Quellen
- Bahners, Patrick (2022): »Der Überhang des amerikanischen Imperiums«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. März 2022.
- Bahners, Patrick (2022a): »Dann soll es halt so sein!«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. März 2022.
- Baumsteiger, Moritz (2022): »Auch Autokraten müssen abliefern« (Interview mit dem Politologen Alexander Görlach). In: Süddeutsche Zeitung vom 18./19. Juni 2022. S. 20.
- Klein, Naomi (2007): Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus. Frankfurt/M.: Fischer.
- Koopmann, Christoph (2022): »Nachrichten aus einer Hand. Ukrainische Medien leiden unter Selenskys ´einheitlicher Informationspolitik´«. In: Süddeutsche Zeitung vom 7./8. Mai 2022.
- Krüger, Uwe (2016): Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. München: Beck.
- Link, Jürgen (2022): »Butscha und die ´Option´ einer gefährlichen höheren Stufe der Eskalation«. In: Krass & Konkret (Butscha und die „Option“ einer gefährlich höheren Stufe der Eskalation – Krass & Konkret (krass-und-konkret.de).
- Link, Jürgen (2022a): »Die Ukraine-Krise und ihre tendenzielle Dynamik«. In: DISS-Journal 43, Mai 2022. S. 3-7.
- Morelli, Anne (2004): Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Springe: Zu Klampen.
- Münkler, Herfried (2022): »Putin führt eine weltpolitische Zeitenwende herbei«. In: Neue Züricher Zeitung vom 3. März 2022.
- Rimbert, Pierre (2022): »Ne pas voir, ne rien dire«. In: Le Monde Diplomatique, Mars 2022, S. 2.
- Schulze, Ingo (2022): »Lieber Freund«. In: Süddeutsche Zeitung vom 30 März 2022. S. 12.
- Strauss, Simon (2022): »Das Gewissen macht Feige aus uns«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. März 2022. S. 9.
- Varwick, Johannes (2022): »Eine rationale Diskussion ist unmöglich«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juni 2022.
- Wahl, Peter (2022): Der Ukrainekrieg und seine geopolitischen Hintergründe. Hintergrundpapier I der Attac-AG Globalisierung und Krieg.
- Welzel, Petra (2022): »Nicht ohne Reformen«. In: Europa. ver-di publik Spezial 3/2022.
- Zeitgeschehen im Fokus vom 15. März 2022: Interview mit Jacques Baud. (https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-4-vom-15-maerz-2022.html#article_1306).
- Zelik, Raul (2022): »Nein zu Waffenliefrerungen«. In: Links bewegt vom 16.3.2022.
Clemens Knobloch ist emeritierter Hochschullehrer für Sprach-
und Kommunikationswissenschaft an der Philosophischen Fakultät
der Universität Siegen.
Dieser Artikel stammt aus dem gemeinsamen Sonderheft „Für eine andere Zeitenwende!“ – eine Gemeinschaftsproduktion der Zeitschrift kulturrevolution und des DISS-Journals aus dem Juli 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.