Der ›evidente‹ Antagonismus

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Szenario-Begriff & aktueller Ukrainekrieg:
geo-, militär- und machtstrategisch

Von Thomas Lischeid

Bekanntlich gehört der Begriff des Szenarios bzw. der Szenarien zu den Leitbegriffen unserer politisch-medialen Kultur. Nachweislich entstammend der Sprache des Militärs im seinerzeit beginnenden Zeitalter möglicher Eskalations- und Nuklearkriege seit 1945 (mit dem US-amerikanischen Think Tank Herman Kahn als damaligem ›Diskursivitätsbegründer‹), bevor er auch die Bereiche der Ökonomie, Ökologie und anderer erfasste1, scheint er aktuell, im ausgerufenen Kairos einer sogenannten neuen großen ›Zeitenwende‹ (Bundeskanzler Scholz), seine in ihm beschlossene Bedeutung und Wirkungskraft wieder voll auszufahren. Man denke dazu an Formulierungen des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil rund um seine aufsehenerregende Rede auf der Berliner Tiergartenkonferenz von Mitte Juni 2022, in der er von einer »neuen Normalität der Bundeswehr« spricht, »in Szenarien denken und uns auch auf diese Szenarien vorbereiten« als eine Hauptaufgabe der Politik von heute bezeichnet und in einem daran anschließenden Interview mit der FAZ fordert: »Zu einer realistischen Debatte gehört auch, die schlimmsten Szenarien mit zu bedenken.«2 Wenn wir allerdings im Folgenden den Szenario-Begriff für unsere Analyse des aktuellen und auf absehbare Zeit wohl noch andauernden Ukrainekriegs stark machen, dann mit Blick einer hier etwas anders akzentuierten Funktionsleistung im »Augenblick der Gefahr« (Walter Benjamin3). Denn gegenüber einer vollends antagonistischen Situation, in der beide (Kriegs-)Parteien sich mehr und mehr unversöhnlich gegenüberstehen und dafür mehr und mehr auf Identifikation und Subjektivierung ihrer jeweiligen Position bestehen, mag es vielleicht nicht ganz verkehrt erscheinen, ein eher metasprachlich orientiertes Werkzeug kritisch-hermeneutischer Distanzierung zu finden oder, wie hier, gegebenenfalls so abzuwandeln, um sich weiterhin die Möglichkeit eines differenziert-erkenntnisleitenden Blicks auf das Ganze offenhalten zu können.

Abb. 1: Buchcover: Herman Kahn: »On Escalation – Metaphors and Scenarios« (1965)

Wir wissen nicht exakt, welche Szenarien in Putins Kopf spuken, welche auf den Desktops der Computer seines Militärs abgespeichert sind und welche in den dunklen Schubladen seiner Geheimdienste schlummern. Und vielleicht werden wir es auch nie so genau erfahren. Aber wir können sie zumindest erahnen und ansatzweise ›evident‹ erschließen, nicht zuletzt aus den Worten und Taten der maßgeblich Beteiligten. Putins und seiner Anhänger und Gefolgschaft Schreckens- und Horror-Szenario lässt sich demnach in groben Strichen folgendermaßen skizzieren: Die USA und die von ihr geführte NATO befinden sich auf einmal direkt vor der Grenze der Russischen Föderation – von den Baltischen Staaten (wo sie sowieso schon stehen) und Skandinavien im Norden (wo zu Norwegen nun Schweden und Finnland auch ganz offiziell hinzukommen sollen) bis zum Schwarzen Meer im Süden. Normalismustheoretisch wird damit ein grundsätzliches Dilemma für einen Staat in der internationalen Leistungs- und Machtkonkurrenz hinsichtlich seiner beiden Fundamentalzyklen deutlich, nämlich zwischen seinen sozial-ökonomischen auf der einen und seinen politisch-militärischen Produktions- und Reproduktionszyklen auf der anderen Seite. Denn kommt ihm im ersten Fall, das heißt im zentralen weltweiten Ranking finanzpolitischer und ökonomischer Art, höchstens eine Position im Mittelfeld der großen Schwellenländer (als das ›R‹ im Terminus der sogenannten BRICS-Staaten neben Brasilien, Indien, China und Südafrika) und mithin weit unterhalb der großen G7- und anderer Wirtschaftsmächte der ersten und zweiten Normalitätsklasse zu, zeigt er sich hingegen in der Hierarchie der Militär- und wenigen Atommächte auf der Welt imstande, ganz oben mitzumischen; – ja hat sich, im Anschluss an die Ära des Vorgängerstaats der Sowjetunion, gar den Ruf erworben, zu Recht als die einzige Nuklearmacht zu gelten, die der unzweifelhaften Überlegenheit von USA und NATO ernstzunehmende Paroli zu bieten hat. Demgegenüber, so die Szenario-Analyse, würde auch die nur annähernde Erfüllung des skizzierten historischen Prozesses wohl nichts weniger bedeuten, als die – wieder – erreichte Ausnahme- und Sonderstellung innerhalb der herrschenden Nomenklatur globaler Normalitätsordnung und -verhältnisse zwischen den Staaten der Welt – neuerlich und noch grundsätzlicher als zuvor – entschieden infrage gestellt zu sehen.

Vor dem Hintergrund dieser Szenario-Annahme liegt zugleich die gewichtige geostrategische Rolle auf der Hand, die sowohl der Ukraine (und Moldau) als auch dem Kaukasus (Armenien, Aserbeidschan, Georgien) als Cordon sanitaire und ›Pufferzone‹ zwischen Russland und dem Westblock zukommen. Hindern doch ihre ›Zwischenposition‹ den Westblock bislang noch daran, das militär- und machtstrategische Gewicht weiter und womöglich entscheidend in ihre Richtung zu verschieben.

Diese geostrategische Hypothese lässt zugleich die Frage aufkommen, ob der bekannte Georgienkrieg von 2008 nicht für Putin so etwas wie ein Modell-Szenario für den Ukrainekrieg von heute abgeben könnte? Wir erinnern uns: Georgiens frischgebackener Präsident Saakaschwili hatte Anfang jenes Jahres nicht nur offensiv auf eine Aufnahme seines Landes und ehemaligen sowjetischen Teilrepublik in die NATO und eventuell die EU gesetzt, sondern mit informeller Unterstützung der USA auch mit der militärischen Rückeroberung der von Russland unterstützten autonomen Gebiete Abchasien und Südossetien begonnen. Im anschließenden ›FünfTage-Krieg‹ besiegte das große Russland blitzartig nicht nur den viel kleineren Gegner, sondern sorgte mit dieser Demonstration seiner wiedererstarkten Macht auch dafür, dass aus den seinerzeit angekündigten Plänen einer NATO- und EU-Mitgliedschaft an der Südflanke Russlands zum damaligen Zeitpunkt nichts mehr wurde. Stattdessen musste sich der Verliererstaat ähnlich wie seine kaukasischen Nachbarn mit dem Status einer Art ›Pufferzone‹ zwischen den Blöcken zufriedengegeben. Geo- und machtstrategisch war damit immerhin eine Art Kompromiss zwischen den antagonistischen Mächten zustande gekommen, wie zerbrechlich und zeitlich begrenzt dieser auch seinerzeit schon erschienen sein mochte und bis heute noch ist.

Doch natürlich ist die Ukraine nicht Georgien, und 2022 nicht 2008. Was bei aller gleichwohl gegebenen Analogie aber im Kern gegen das Modell Georgien als Vorbild und Blaupause für den Ukrainekrieg von 2022(ff.?) spricht: – dass diesmal, im Zeichen der ausgerufenen ›Zeitenwende‹ und des ›neuen Zeitalters‹, offenbar kein Kompromiss mehr möglich erscheint. Das heißt: Ein friedlicher ›Ausgleich‹ nicht wirklich gewollt erscheint, weder von der einen, noch der anderen Seite, längst nicht mehr, wenn überhaupt anfangs ernsthaft, oder zumindest nicht im Moment. Stattdessen steht offenbar diesmal der Tatbestand des ›ausgebrochenen‹ Antagonismus auf der Tagesordnung, – der ›Ernstfall‹ des großen militärpolitischen ›Entweder – Oder‹ (Carl Schmitt4) im aktualhistorischen Kairos des Hier und Jetzt.

Was konkret bedeutet: Entweder Putins Russland erobert die gesamte Ukraine, oder wenn nicht, dann die östliche Hälfte entlang Kiew und der Dnepr-Linie bzw. es be- und erhält zumindest wesentliche Teile des Südostens: die Krim (bekanntlich besetzt seit 2014), den Donbass (mit den von Russland anerkannten ›Volksrepubliken‹ Luhansk und Donezk) sowie die bekannte Küstenlinie mit Mariupol und Odessa am Asowschen bzw. Schwarzen Meer. Dafür ist Putin offenbar bereit, ein in jeder erdenklichen Hinsicht hohes Risiko einzugehen und immense politische, wirtschaftliche und soziale Kosten und Opfer für Land und Leute beiderseits der Grenze in Kauf zu nehmen. Immer mit dem Ziel der eigenen Selbstbehauptung und des Ausbaus der Stellung Russlands als militärische Großmacht, die vor den Augen der ganzen Welt den USA und dem Westen ihre Grenzen aufweist (im wörtlichen wie übertragenen Sinne) und damit den Suprematie-Anspruch der nach dem Zerfall der Sowjetunion einzig verbliebenen Supermacht relativiert, ja möglichst grundsätzlich auf die Probe und mithin infrage stellt. Was wiederum den Ausblick auf weitere Geländegewinne in naher und nächster Zukunft eröffnen könnte.

Oder die angegriffene Ukraine ›verteidigt‹ sich erfolgreich, ›gewinnt‹ bzw. ›siegt‹, – und mit ihr bzw. durch sie hindurch der dahinter stehende Westblock (mit der USA an der Spitze und tatkräftiger Unterstützung durch Deutschland und andere europäische und außereuropäische Verbündete). Die – zumindest militärisch bislang eben noch vorhandene – Groß- und Weltmachstellung Russlands würde dadurch notwendigerweise erheblichen und bis auf absehbare Zeit irreparablen Schaden erleiden, ja sich im Grunde ganz grundsätzlich in Abrede gestellt sehen müssen. Und dies nicht nur auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Wege (wie bislang schon angestrebt durch die bekannte Sanktionspolitik mehrerer großer Sanktionspakete nahezu der ganzen Welt), sondern eben im zentralen Bereich aller Fragen von Macht und Gewalt: im geo- und mithin militärstrategischen Sinne. Eine Ukraine als NATO- und EU-Mitglied, womöglich mit wichtigen konventionellen oder auch nuklearen Waffensystemen direkt an der russischen Grenze würde für den Westblock einen sicherlich wichtigen strategischen Geländegewinn bedeuten (wiederum im wörtlichen wie übertragenen Sinne, letzteres z. B. in Gestalt wichtiger militärstrategisch verkürzter Vorlauf- und Reaktionszeiten). Ein Gewinn, der ihrem Anspruch auf unangefochtener Hegemonie in dieser Weltregion entscheidenden Vorschub leisten würde und selbst wiederum das Modell-Szenario für andere bevorstehende Konflikte abgeben könnte (Irak, Nordkorea und natürlich nicht zuletzt China). Um diese ›Frage‹ nicht nur szenario-theoretisch, sondern ganz praktisch auf den Prüfstand aller Macht und Machtentfaltung zu stellen, ist der Westblock im Ganzen mit seiner Unterstützung der Ukraine ganz offensichtlich und parallel zu Putin bereit, den betreffenden Probe- und Testfall zu wagen: also selbst mit ins Risiko zu gehen und für den angestrebten Erfolg weder Kosten noch Opfer zu scheuen. Was im Kern heißt: sich ebenfalls militärisch zu engagieren, etwa mit der Lieferung leichter sowie ggf. schwerer und schwerster Waffen an den angegriffenen ›Vorposten‹ (ohne selbst schon, in diesem asymmetrisch verteilten ›Stellvertreterkrieg‹, direkt in Aktion treten zu müssen). Mit dem Ziel, den eingeschlagenen Weg der Eskalationsspirale mitzugehen und womöglich am gegebenen Punkt für sich zu entscheiden (Stichwort ›Eskalationsdominanz erreichen‹ auf jeder Stufe von Waffengattung und Eskalationsstufe im aktuellen Abnutzungs- bzw. Zermürbungskrieg). All dies natürlich möglichst unterhalb der Schwelle des Einsatzes taktischer oder gar strategischer Nuklearwaffen. Und wenn nötig: auch oberhalb?

Thomas Lischeid, Prof. Dr., PH Weingarten, Fach Deutsch, Schwerpunkte in Forschung & Lehre: Sprache – Literatur – Medien & ihre Didaktik; Kontakt: thomas.lischeid@ph-weingarten.de

Dieser Artikel stammt aus dem gemeinsamen Sonderheft „Für eine andere Zeitenwende!“  – eine Gemeinschaftsproduktion der Zeitschrift kulturrevolution und des DISS-Journals aus dem Juli 2022.  Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.

1 Lischeid, Thomas: Zeit des Szenario. Zur Entstehung und Geschichte eines Kernbegriffs der Aktualhistorie von seinem US-amerikanischen Diskursbegründer Herman Kahn bis heute. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Nr. 82, 2022, S. 32–37; Lischeid, Thomas/Schuler, Hendrik: Nah-Zukunft-Szenarien der Gegenwartsliteratur (2021/22ff.) zwischen epochaler De-Normalisierung und transnormalistischer Utopie. Mit einem Blick auf Vertlib, Yanagihara und Linker. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Nr. 82, 2022, S. 38–43.

2 Vgl. Lars Klingbeil: Zeitenwende, – der Beginn einer neuen Ära. Rede auf der Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), 21.06. 2022; ders. im Interview mit Eckart Lohse und Markus Wehner: Wir sehen, dass Putin zurückschlägt, FAZ, 24.06.2022, S. 2.

3 Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften, Band 1.2: Abhandlungen. Frankfurt a. M. 1974, S. 691–704.

4 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin 1963, S. 20ff.