Vorwort zum DISS-Journal 42

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Der 9. November ist sicherlich ein schwieriger Tag der Erinnerung an die deutsche Geschichte. Anton Maegerle schreibt in einem aktuellen Beitrag für den DISSkursiv-Blog http://www.disskursiv.de, der 9. November markiere „den Beginn der ersten deutschen Republik [1918], den Versuch eines rechtsextremen Umsturzes [1923], das Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung [1938] und den Fall der Berliner Mauer [1989]“. Und: „Weitgehend in Vergessenheit ist geraten, dass – auch an einem 9. November – ein Vorkämpfer der Demokratie ermordet wurde: Robert Blum.“ Es wäre absolut unangemessen, diese Erinnerungsdaten miteinander zu verrechnen, eine Art Plus-Minus-Rechnung aufzumachen. Etwas anderes gilt: Die Verhinderung (1848) bzw. die Zerstörung der Weimarer Demokratie waren die Voraussetzung für die Etablierung einer halbabsolutistischen Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. und das Vernichtungswerk des Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1918 und 1989 wiederum stehen für eine andere Problemstellung: Während Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die „deutsche Republik“ ausrief, proklamierte Karl Liebknecht etwas später am selben Tag

die „freie sozialistische Republik“ – freilich ohne nachhaltige Wirkung. Die hier offenbar werdenden Gegensätze in der Arbeiterbewegung, von denen der Faschismus profitierte, verhinderten einen historischen Kompromiss zwischen Demokratie und Sozialismus, den auch unter anderen Vorzeichen die DDR nicht zu realisieren vermochte. Der 9. November 1989 war die ‚logische‘ Konsequenz.

Die Erinnerung an den 9. November als dem ‚Schicksalstag‘ der deutschen Geschichte wird immer verbunden sein mit der Frage nach der Zukunft der Nation. Wird sie aufgehen in den „Vereinigten Staaten von Europa“, die von Ernest Renan in seiner berühmten Rede über das Prinzip „Nation“ als „wahrscheinlich“ prognostiziert wurden? Wird es möglich sein, die Verbindung von Demokratie und Sozialismus unter den Bedingungen der „Klima-Krise“ auf die Tagesordnung der politischen Agenda zu setzen? Andeutungsweise, aber mit Optimismus hat die jüngste Abgeordnete im Bundestag, die 23-jährige Emilia Fester von den Grünen, auf der offiziellen Gedenkveranstaltung im Schloss Bellevue diese Problemstellung angesprochen. „Sie betonte in ihrer Ansprache, die derzeitigen Probleme wie die Klimakrise und die ungleiche Verteilung von Reichtum seien lösbar. Ein ‚Weiter-So‘ gehe aber nicht. Auch daran erinnere der 9. November 1918.“ (https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/steinmeier-9november-101.html)

Das vorliegende Heft des DISS-Journals ist kein Gedenkheft zum 9. November. Gleichwohl ist dieser Tag, um es mit dem Bundespräsidenten zu formulieren, auch für uns „ein Tag zum Nachdenken über unser Land“. Es kommt aber darauf an, über welche Fragen und wie nachgedacht werden muss. Über Beiträge aus dem Kreis der Leserschaft des DISS-Journals würden wir uns freuen.

Helmut Kellershohn

 

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 42 vom November 2021. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.