Von der Diskurspiraterie zum ‚reaktionären Werkzeugkasten‘

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Von Jobst Paul

Der diesjährige DISS-Tag (4. Juli 2020 u.a. mit Beiträgen von Helmut Kellershohn und Guido Arnold) war der Frage gewidmet, wie insbesondere im Kontext der Corona-Debatte rechte populistische (Verschwörungs-)Kampagnen teilweise Erfolg darin haben konnten, eine differenzierte und wohlbegründete Kritik zu übertönen, zu blockieren oder zu vereinnahmen.

Jobst Paul stellte dieses Phänomen in seinem Beitrag in den größeren Kontext der Frage, mit welchen gegnerischen Methoden emanzipatorische Kritik und emanzipatorische Projekte insgesamt zu rechnen haben. Er plädierte dabei dafür, diese Frage künftig als Forschungsfeld zu etablieren. Nachfolgend sein Beitrag im Wortlaut.

Vor 10 Jahren gaben Helmut Kellershohn, Martin Dietzsch und Regina Wamper den Band Rechte Diskurspiraterien heraus. Der Untertitel lautete: Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen. Im Begleittext hieß es:

In den letzten Jahren ist ein verstärktes Bemühen auf Seiten der extremen Rechten zu beobachten, Themen, politische Strategien, Aktionsformen und ästhetische Ausdrucksmittel linker Bewegungen zu adaptieren und für ihren Kampf um die kulturelle Hegemonie zu nutzen. … Solche Phänomene sind keineswegs neu. Auch der Nationalsozialismus bediente sich der Codes und Ästhetiken politischer Gegner und suchte Deutungskämpfe gerade verstärkt in die Themenfelder zu tragen, die als traditionell links besetzt galten.“

Und 2017 erschien dann der Band: Autoritäre Zuspitzung – Rechtsruck in Europa, in dem wir kleinlaut zugaben, dass die europäische Linke neoliberal nach rechts abgefahren war und so die Rechte, die wir zwischenzeitlich populistisch nannten, in die vakanten Räume vordringen konnte.

Das von rechts gekaperte Raubgut, ob Heavy Metal oder Rap, ist dort längst zuhause, so dass nun linke Rapper wie Ben Salomo versuchen, umgekehrt in der rechten Jugendszene Boden gut zu machen.

Aus dem Populismus dagegen ist z.B. mit Blick auf Brasilien, Russland und die USA inzwischen ein ausgewachsener Faschismus geworden, so dass der Begriff ‚Diskurs-Piraterie‘ längst zu harmlos wirkt, um die inzwischen gebündelten reaktionären Energien zu beschreiben.

Europa erscheint da fast als liberale Insel, die rechtspopulistisch das Schlimmste hinter sich und die erwähnten ‚reaktionären Energien‘ besiegt zu haben scheint. Das ist aber wohl eine Täuschung.

Daher möchte ich (1) das Thema radikal erweitern. Ich möchte mich dabei (2) von ‚Konjunkturen‘ befreien und (3) dafür plädieren, die Thematik sogar als kontinuierliches Forschungsfeld zu etablieren. Statt ‚Diskurspiraterie‘ würden wir dann den viel umfassenderen Werkzeugkasten des Reaktionären überhaupt untersuchen. Die Leitfrage wäre dann: Mit welchen Mitteln kann man ‚linke‘, progressive Projekte, Entwicklungen, Dynamiken von Gleichheit, Gerechtigkeit, Partizipation verhindern, aushebeln, ins Leere laufen lassen? Welche Faktoren müssen wir beobachten, um dagegen handlungsfähig zu bleiben?

Eine solche Konzeption drängt sich mir gewiss auch aufgrund meiner Beobachtung der US-Verhältnisse auf. Denn der dortige Kampf um die weiße Vorherrschaft mit Blick auf Personal, Methoden und Ressourcen wird inzwischen geradezu obszön offen geführt. Die extreme Rechte um Trump macht gar nicht mehr den Versuch, die Brutalität und Verkommenheit ihrer Methoden zu verbergen. So versuchten Trump und sein Team noch am 20. November 2020 (offenbar noch erfolglos), ‚befreundete‘ republikanische Spitzenpolitiker im Staat Michigan (der an Biden gegangen war) ‚umzudrehen‘: Im Gespräch war der Versuch, sie dafür zu gewinnen, das eigentliche Wahlergebnis zu ignorieren und statt Biden-Wahlmännern einfach Trump-Wahlmänner zur Präsidentenwahl zu schicken: Der Werkzeugkasten, zu dem ein solches Ansinnen gehört, steht nicht erst seit Trump bereit – er ist seit Gründung der USA in Aktion, und nicht nur dort. Aber die gegenwärtige bessere Sichtbarkeit in den USA geht auf zwei Faktoren zurück:

1) Der Corona-Virus hat das Ausmaß der sozialen Katastrophe vor allem der sogenannten ‚Minderheiten‘ sichtbar gemacht, aber auch, wie das schmutzige Handwerk von white supremacy damit zusammenhängt. Denn durch den Aufbruch dieser ‚Minderheiten‘ kommt das Tabuisierte nun zur Sprache – ganz ähnlich wie zuvor in der MeToo-Bewegung.

2) Der Corona-Virus trifft den gefährdeten weißen Mittelstand der USA ins Mark und veranlasst ihn, sich nun zu den Tricks und Doppelstandards der ‚Reaktion‘ öffentlich zu bekennen.

Meine nachfolgende Liste bezieht sich aber nur teilweise auf die US-Entwicklung. Denn ich möchte zugleich die Umrisse des möglichen Forschungsgegenstands definieren.

1) Propaganda / Medien

Zuerst möchte ich den Hinweis aus unserem Band Rechte Diskurspiraterien aufgreifen:

Auch der Nationalsozialismus bediente sich der Codes und Ästhetiken politischer Gegner und suchte Deutungskämpfe gerade verstärkt in die Themenfelder zu tragen, die als traditionell links besetzt galten.“

Tatsächlich – und hier sind wir doch wieder in den USA – wird Trump in der US-Publizistik vor allem in einer Hinsicht mit Hitler verglichen: Die intellektuellen US-Eliten, die den Anti-Totalitarismus geradezu als Teil ihrer Identität begreifen, sehen vor ihren Augen mitten in einer ‚Demokratie‘ die Triebkräfte des Totalitären die Macht übernehmen: eine opportunistische, rassistische und antisemitische weiße Mittelschicht, eine Propagandamaschine von oben und gefügige Medien. Diese Zutaten sind uns aus unserer Geschichte so geläufig, dass ich sie nicht vertiefen muss.

Wo der Vergleich Trump-NS wohl nur bedingt trägt, ist die soziale Camouflage, ein faschistischer Sozialismus. Ich will dazu einmal die unverblümte Aussage Hitlers zitieren:

Ich habe vom Marxismus viel gelernt. … ich habe damit ernst gemacht, womit die kleinen Krämer und Sekretärseelen zaghaft angefangen haben. Der ganze Nationalsozialismus steckt da drin. … Arbeiterturnvereine, Betriebszellen, Massenaufmärsche, Propagandaschriften eigens für das Verständnis der Masse verfasst; alle diese Mittel des politischen Kampfes gehen ja im Wesentlichen auf die Marxisten zurück. … Der Nationalsozialismus ist das, was der Marxismus hätte sein können, wenn er sich aus der absurden, künstlichen Bindung mit einer demokratischen Ordnung gelöst hätte.“ (Rede in München 1941)

Wir haben diese Variante rechter Piraterie schon im Zusammenhang unseres Colloquiums vor 10 Jahren, und zwar im Kontext des faschistischen Projekts Casa Pound in Italien erörtert, nämlich mit Kümmerer-Programmen und lokaler Sozialarbeit Zustimmung für umfassende faschistische Programme zu organisieren. Ähnlich operierte die griechische goldene Morgenröte. Aber auch die Hamas muss hier wohl genannt werden. Voraussetzung sind stets tatsächliche Ansatzpunkte, soziale Skandale, Zentralismus und Korruption etc.

Ich glaube, hierher gehört auch – der Tendenz nach – der rechtsextreme Populismus der letzten Jahre, der ins soziale Vakuum des Neoliberalismus vorstieß.

Dessen oppositionelles Image entsteht dabei durch ein Agieren unterhalb der Exekutiven, ein ‚staatspolitisches‘ Image würde den Schein zerstören. Trump hat allerdings eine neue Variante erfunden: Er agiert ausschließlich und stets sichtbar für seine Klientel, für die Evangelikalen, für die Maisfarmer, für die Öl- und Kohleindustrie u.a.m. Zugleich zeigt er, dass er – obwohl in der Regierung – den Regierungsapparat als Feind betrachtet und ihn – wie Steve Bannon das projektierte – torpediert.

2) Diskursumkehr
Täter-/Opfer-Umkehr;
Zusammenspiel von / zwischen staatlicher Autorität,
Justiz und Rechtsaußen:

Ein weites Feld, aus dem progressive Dynamiken lahmgelegt werden können, sind traditionelle Verbindungen zwischen rechten ‚Projekten‘ und staatlichen Autoritätsebenen.

Man muss nur erinnern an den zähen Kampf um V-Leute und um die Aufklärung rechtsterroristischer Verbrechen etwa des NSU, an rassistische Praktiken wie racial profiling, an Polizeigewalt, an die hinhaltende Taktik mancher Ebenen der Justiz, rechtsextreme Akteure zur Rechenschaft zu ziehen. Hinzu kommen Ohnmacht oder Untätigkeit von Teilen der parlamentarischen Ebene, daran etwas zu ändern. Und – immer öfter beschreiben Jüdinnen und Juden einen institutionellen Antisemitismus in Deutschland, ein Zusammenspiel zwischen rechten Positionen und Autoritätsebenen, etwa wenn die jüdischen Mobbing-Opfer, nicht aber die Täter die Schule verlassen müssen, weil die Schulverwaltungen und die Schulöffentlichkeit das Vorhandensein von Mobbing bestreiten, d.h. einen unangreifbarer Tenor antisemitischer Normalität vertreten.

3) Diskurstaktiken:
Accusation in a Mirror

Unterstelle deinen Gegnern, was du selbst vorhast. Klage deine Gegner dessen an, was du selbst getan hast.

Mit dem Prinzip accusation in a mirror schließen wir an den Aspekt ‚Diskursumkehr‘ an. Das Prinzip wurde im Zusammenhang des Völkermord in Ruanda beschrieben, als Mittel von Sprechern, Anhänger zu rekrutieren, die einen Feind vernichten sollen.

Allerdings muss es nicht immer Völkermord sein: Die Feindbildproduktion dient immer dazu, eigene Anhänger zu rekrutieren und zur Tat zu reizen. Oder anders: Um eine Okkupation zu bewerkstelligen, wird ein Angreifer inszeniert, dem man zuvorkommen müsse.

Donald Trump hat dieses rhetorische Prinzip privat und ökonomisch lebenslang praktiziert: Er unterstellte dem ‚Establishment‘ jene Tricks, die er selbst praktizierte. Als Präsident inszenierte er Einwanderer, Minderheiten und Frauen als Feinde, um die Fortsetzung ihrer Diskriminierung zu legitimieren.

Freilich – der rhetorische Bausatz der Feindbild-Produktion lässt sich, als Element einer Gegenstrategie, auch offenlagen .

4) Begriffsbesetzungen,
Agenda-Setting

Dieser Punkt ist mit dem vorherigen und dem Kümmerer-Faschismus verknüpft. Anschauungsunterricht bieten hier vor allem Pegida und AfD: Tatsächliche Probleme oder auch nur Impressionen, (frisierte) Informationen, die in diese Richtung gehen, werden genutzt, um die Feindbildproduktion zu starten.

Dies wirkt für linke, progressive Positionen insofern als Blockade, als die linke Zurückweisung der Feindbildproduktion als Rechtfertigung der betreffenden ‚Missstände‘ oder Verteidigung der ‚Feinde‘ gedeutet werden kann. Übernimmt man dagegen von links die Position der Kritik, kann das als Übernahme des Feindbilds bzw. rechter Positionen gedeutet werden.

Genau diese Falle scheint im Fall der Corona-App ausgelegt worden zu sein. Die Frage, wie wir mit diesem Phänomen umgehen, ist also grundsätzlich – und ebenso grundsätzlich ist dann die Aufgabe, sich eingehend mit der Analyse zu beschäftigen, wie Feindbilder konkret etabliert werden, um linke Kritik aus der Falle herauszuhalten.

5) Verschwörungstheorien

Verschwörungstheorien sind Zuspitzungen von Feindbild-Portraits, die erzählen, wie der Feind uns überfällt, untergräbt, aussaugt, vergewaltigt oder uns übers Ohr haut.

Der Verschwör-o-mat der Heute-Show demonstriert in genialer Einfachheit die gleichbleibenden Ingredienzien aller Feindbild-Portraits. Auch Jan Böhmermann verrührte in seinem künstlich gefertigten Schmähgedicht gegen Erdogan alle bekannten Zutaten.

6) Invisible hand

Unter 6 fasse ich politische Maßnahmen zusammen, die –

langfristig ohne aktuelle Wirkungen angelegt sind und daher ‚unsichtbar‘ sind.

als Sachzwang definiert werden und Alternativen ausblenden, und

als Ausnahme im Notfall definiert sind und die Entscheidungsgrundlagen ausblenden.

Gewiss kommt keine dieser drei Klassen in Reinform vor, wie z.B. die Austeritätspolitik zeigt:

Das Austrocknen des Bildungsbereichs über zwei Jahrzehnte hat die kritischen Potenziale in der Bevölkerung reduziert und die Bereitschaft gefördert, sich z.B. Verschwörungstheorien anzuschließen.

Die ‚Verschlankung‘ und Privatisierung des Gesundheitswesens führte zur Disziplinierung prekär Beschäftigter, deren Fähigkeit zur demokratischen und kulturellen Partizipation dadurch reduziert wurde.

Die Vernachlässigung der Bahn, der Infrastruktur führte zu einem Rechtsruck innerhalb der ländlichen Bevölkerung u.a.m.

Wiederum in den USA: Die Privatisierung der Gefängnisse, die Militarisierung der Polizei, die Manipulation der Wahlkreise und des Wahlrechts – all dies hat zum faktischen Entzug der Grundrechte für viele Millionen Menschen geführt.

Ich möchte noch ein ganz furchtbares Kapitel anschließen: Hinter dem laissez-faire der beiden Gestalten Trump und Bolsonaro in Sachen Covid 19 ist ein Kalkül rekonstruierbar, der Sterberate vor allem in den Minderheiten ihren Lauf zu lassen – zugunsten von white supremacy. Wenn es diese verwerfliche Strategie gibt, wird sie nicht aufgehen, da das Virus sich nicht daran hält.

Für uns in Deutschland scheint die ‚unsichtbare Hand‘ nicht zuletzt in das ökonomische, realpolitische Agieren in und außerhalb Europas verpackt zu sein. Wir wissen nicht viel darüber und sollten diese Kapitel, inklusive der Rüstungspolitik in die Sichtbarkeit zwingen.

7) Kollisionen

Schließlich ein sehr delikates Thema: Hier geht es um Situationen, in denen linke Projekte von (gewaltbereiten) Linksaußen oder aber von agents provocateurs von rechts okkupiert werden.

Die Klärung der Überschneidungen und Trennlinien zwischen demokratischer Linker und gewaltbereiter Linker ist – aus meiner Sicht – ein noch kaum andiskutiertes Problem, verständlicher Weise. Denn hier sind auch Grundsatzprobleme angesprochen: Ich habe im vorigen ja letztlich eine ‚richtige‘ Politik imaginiert, die Gerechtigkeit und Gleichheit, d.h. den Staat und eine Regierung (nicht eine Nation!) voraussetzt. Auch genossenschaftliche Modelle scheinen mir nicht außerhalb dieses Rahmens denkbar.

Eine Position, die außerhalb oder ohne Staatsbegriff operieren möchte, müsste die Begriffe Gerechtigkeit und Gleichheit dann in anderer Form definieren oder aber einfach verwerfen. Diese Klärungsarbeit ist wohl noch nicht geleistet, so dass ständig die Gefahr droht, dass linke, progressive Aufbrüche auch von ganz links diskreditiert werden können.

Soweit die Liste – sie ist nur ein Anfang und gewiss unvollständig. Sie ist wahrscheinlich politologisch auch etwas unorthodox. Dennoch – so meine ich – müssen wir zur Absicherung linker und progressiver Diskurse auch zusammenhängende Analysen jener Prozesse leisten, die diese Diskurse zurückwerfen oder ersticken. Vielleicht erfinden wir noch einen schönen Begriff für dieses Forschungsgebiet, das es noch nicht gibt.

Jobst Paul ist Mitarbeiter am DISS mit den Themenschwerpunkten Diskurs-, Rassismus- und Antisiemitismusforschung

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.