Corona-Solutionismus

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Teil II: CORONA-TESTVERFAHREN

Von Guido Arnold

Es ist derzeit unklar, wann und sogar ob es einen wirksamen Impfstoff gegen das sich verändernde Corona-Virus Sars-CoV-2 geben wird. Nach aktuellem Forschungsstand ist (abhängig von der Schwere des Verlaufs der Krankheit Covid-19) nicht einmal eine andauernde Immunität bereits Infizierter gegeben. Die Folgen der Krankheit für Herz, Lunge und Hirn können schwerwiegend sein – selbst bei vermeintlich leichter Erkrankung jüngerer „Nicht-Risiko-Patient*innen“. Weltweit wird „bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes“ auf PCR- und (neuerdings) Antigen-Tests gesetzt, um akute Infektionen zu erkennen. Viele Länder wählen zusätzlich Smartphone-Apps zur Kontaktnachverfolgung, um ein individuelles Infektionsrisiko abzuschätzen und Infektionsketten nach Möglichkeit zu unterbrechen. Zusätzlich sollen Antikörpertests eine (zeitlich begrenzte) „Immunität“ als Unbedenklichkeitsnachweis bescheinigen.

Dieser Text zeigt auf, wie (absehbar) wenig geeignet die derzeitige Nutzung dieser Techniken zur Bekämpfung der Pandemie ist. Ich sehe in dieser Form des „Solutionismus“ eine Instrumentalisierung der Krise zur Durchsetzung einer umfassenden Kontrollstruktur, die über die Corona-Krise hinaus in einem „neuen Normal“ in Anwendung bleiben soll. Aufgrund der Komplexität wurde der Text in zwei (separat verständliche) Teile aufgetrennt. Interessierte Leser*innen verweise ich zusätzlich auf Teil I: Die Corona-Warn-App1.

Solutionismus – Technische Lösung
eines Ersatzproblems

In der Technologiekritik kursiert seit einigen Jahren der Begriff des „Solutionismus“. Er beschreibt die selbstbewusste „Lösungsorientierung“ einer technologie-zentrierten Kaste von Ingenieur*innen, die jegliche (auch soziale) Probleme für technisch beschreib- und lösbar hält. Solutionismus sucht nach Lösungen über (neue) Technologien, die vielfach an den Problemen vorbeigehen. Das eigentliche Problem wird wie im Fall der Corona-Warn-App und der Corona-Testverfahren zwar nicht gelöst, aber für lösbar erklärt.

Die Solutionist*in löst zu ihrer eigenen Legitimation als „Problemlöser*in“ technologisch fassbare, leichter zu lösende Ersatzprobleme, die sich die Technokrat*in gerne zunutze macht. Gemeinsam suggerieren Solutionist*in und Technokrat*in die Kontrollierbarkeit selbst von (denormalisierenden) Krisenphänomenen wie eine Pandemie oder menschengemachter Klimawandel.

Der Solutionismus steht dabei vielmehr für die Vertauschung von Problem und Lösung: Statt ein Problem mit einer technischen Erfindung zu lösen, preist die Solutionist*in technische Erfindungen als Lösung für Probleme an, von denen man nicht weiß, nicht wissen will oder verschleiern will, welcher Art und Komplexität sie sind. Der Solutionismus gibt vor, mit seinen „pragmatischen“ Problemlösungsstrategien „post-ideologsch“ zu sein. Tatsächlich ist die Radikalität, mit der Technokrat*innen den Solutionismus zum einzig „denkbaren“ Ansatz für gesellschaftliche Probleme erheben, alles andere als unideologisch. Man muss die konsequente Art, lediglich technologie-basierte Pflaster auf die eklatantesten Wunden eines krisenhaften Kapitalismus zu kleben, sehr wohl als Ideologie, – nämlich als Ideologie der „Politik-Vermeidung“ – begreifen. Mit der machtvollen Neusetzung gesellschaftlicher Strukturen im Zuge der Renormalisierung (nach der Pandemie) etablieren Solutionismus und Technokratie eine „neue Normalität“ und machen ihrerseits wirkungsvoll (eine andere) Politik. Die neu geschaffenen (Lösungs-)Welten sind dabei Orte der Spaltung und Individualisierung, nicht der gegenseitigen Hilfe und Solidarität.

PCR-, Antikörper- und Antigen-Tests

PCR steht für Polymerasekettenreaktion. Dazu wird aus einem Rachenabstrich das Erbgut des Erregers isoliert und in einem Labor über mehrere Runden so vervielfältigt, dass es messbar wird. Die Virus-RNA lässt sich in der menschlichen DNA jedoch nur in einem bestimmten Zeitfenster der Infektion nachweisen. Hat sich jemand gerade erst angesteckt, haben sich die Viren noch nicht ausreichend vermehrt, um angezeigt zu werden. Laut einer Studie im Fachblatt „Annals of Internal Medicine“ schlagen PCR-Tests nicht zuverlässig an, wenn noch keine Symptome auftreten. So fielen die Tests am ersten Tag nach der vermuteten Infektion in 100 Prozent der untersuchten Fälle negativ aus, obwohl die Patienten nachweislich infiziert waren. Demnach liegt der optimale Zeitpunkt für die Probeentnahme am achten Tag nach der Infektion. Im Schnitt war die Chance, ein falsch-negatives Ergebnis zu bekommen, größer als 20 Prozent. Zudem ist bekannt, dass mit Fortschreiten der Infektion die Erregerlast im Rachen wieder abnimmt. Auch in diesen Fällen kann ein Test möglicherweise ein falsch-negatives Ergebnis liefern. Das heißt, der Betroffene ist laut Testergebnis nicht infiziert, obwohl er das Virus in sich trägt.

Entscheidend ist überdies die korrekte Probeentnahme. Für ein möglichst zuverlässiges Ergebnis muss ein Abstrich tief aus dem Rachen oder der Nase entnommen werden. Dies ist eine zusätzliche Quelle für falsch-negative Testergebnisse.

Nach Einschätzung der meisten Bundesländer spielen neben „Party-Hotspots“ Reiserückkehrer*innen eine signifikante Rolle für das Infektionsgeschehen. Wer aus einem Risikogebiet nach Deutschland einreist, musste in der Zeit von Anfang August bis Mitte November seinem Gesundheitsamt einen negativen PCR-Test melden, der nicht älter als 48 Stunden ist. Ein PCR-Test kann aber (jenseits aller Ungenauigkeiten) erst vier bis fünf Tage nach einer Infektion das korrekte Ergebnis „positiv“ liefern. In dieser Testpraxis gab es also einen Zeitraum von bis zu einer Woche, in der sich Reisende infizieren und trotzdem bei der Einreise ein negatives Ergebnis vorweisen konnten. Die Kapazitätsprobleme bei den auswertenden Laboren verlängerte diese Zeit der nicht angezeigten Ansteckungsgefahr um weitere Tage. Die einzig zuverlässige Methode der Quarantäne sollte aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schadwirkung vermieden werden. Viel zu spät, nämlich erst mit einer ab Mitte November gültigen Regelung reagierte die Konferenz von Bundes- und Länderregierungen als neuer Interims-“Gesetzgeber“ und fordert nun eine 10-tägige Quarantäne für alle Rückkehrer*innen aus Risikogebieten, die frühestens nach fünf Tagen mit einem negativen PCR-Test vorzeitig beendet werden kann.

Die Aussagekraft bei den sogenannten Antikörper-Tests, basierend auf der Suche nach Antikörpern im menschlichen Blut, ist noch schwächer: In der ersten Woche nach Beginn der Symptome erkennen die Tests nur 30 Prozent aller Infizierten. Erst in der dritten Woche ergibt sich gemäß Eleanor Riley, Professorin für Infektionskrankheiten an der University of Edinburgh, eine Erkennungsquote von 91 Prozent: „Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, die Information ist im Grunde bedeutungslos für den Einzelnen.“ Es ist nicht sicher, ob das Vorliegen von Antikörpern tatsächlich heißt, dass der Mensch gegen eine erneute Infektion immun ist. Und selbst wenn, ist unklar, ob der Schutz bei allen Menschen gleichermaßen ausfällt und wie lange er anhalten würde. Asymptomatisch Infizierte bildeten demnach weniger Antikörper als Patienten mit Krankheitszeichen. Binnen acht Wochen nach der Genesung konnten bei 13 Prozent der vormals Erkrankten und bei 40 Prozent der asymptomatischen Probanden keine Antikörper mehr nachgewiesen werden. Ein Antikörper-Test verliert also auch mit größerer zeitlicher Distanz zur Infektion seine Aussagekraft.

Um zukünftig einen Lockdown aller zu vermeiden, propagieren einige Politker*innen und Pharmavertreter*innen die massenhafte Anwendung so genannter „Schnelltests“. Hierbei handelt es sich um Antigentests, bei denen nach den für das Corona-Virus typischen Proteinen gesucht wird. Schnell heiß, dass ein Ergebnis nach 15 Minuten vorliegt – ohne Labor. Zwar geben einige Hersteller, wie etwa Roche, eine Sensitivität von mehr als 95 Prozent an – jedoch nur, wenn ausreichend Antigene vorhanden sind. Das heißt, dass auch hier Infizierte mit einer geringeren Viruslast durch Schnelltests nicht entdeckt werden. Ein positives Testergebnis ist also mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit korrekt; ein negatives nur bedingt aussagekräftig.

Für diesen Test benötigt man (wie beim PCR-Test) einen Rachenabstrich. In Deutschland darf den aber aktuell nur medizinisch geschultes Personal durchführen. Doch nach Meinung der Pharamindustrie soll sich das ändern, um einen Großteil der Bevölkerung wöchentlich „selbst testen“ zu können. Das größte Problem dabei: Der Abstrichtupfer muss sehr tief in den Rachen eingeführt werden, um dort eine für den Test ausreichende Virusmenge zu gewinnen. Das kann einen unangenehmen Würgereiz provozieren. Fragt sich also, wie viele Menschen bei sich selbst einen korrekten Rachenabstrich nehmen würden.

Fazit: Die Instrumente PCR- Antikörper- und Antigen-Tests sind ungeeignet, das aktuelle Ansteckungsrisiko einer einzelnen Person aussagekräftig abzubilden. Einmalige Tests ermöglichen statistische Aussagen über den Verbreitungsgrad des Virus – mehr nicht. Die politische Forderung nach „flächendeckenden Tests“ ist der wissenschaftlich ungerechtfertigte Versuch, statistische Kontrolle des Infektionsgeschehens in der Gesamtheit auf (soziale) Kontrolle des einzelnen Individuums zu übertragen.

Regelmäßige Tests statt „Immunitätsnachweis“

Eigentlich wollte Bundesgesundheitsminister Spahn einen Immunitätsausweis einführen. Das war mehr als der Versuch, in der aktuellen Corona-Unsicherheit Kontrolle zurückzugewinnen. Die erwünschte Renormalisierung nach einer für alle gleichermaßen geltenden Kontaktbeschränkung der ersten Welle sollte bewusst ein „neues, individualisiertes Normal“ herbeiführen: Ein Immunitätsausweis soll bescheinigen, dass jemand eine COVID-19-Erkrankung überstanden hat und nun – wahrscheinlich – immun ist. Ein solcher Pass soll die Inhaberin von Beschränkungen befreien: beim Reisen, beim Job oder beim Altenheimbesuch. Doch sowohl das Virus als auch ein Teil der Zivilgesellschaft machten nicht mit – bislang.

Kritik: Ein bescheinigter Immunstatus stellt nicht nur eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit dar, indem er kontraproduktive Anreize schafft, sich selbst absichtlich zu infizieren, oder den Nachweis zu fälschen – er ist zudem eine Art „definierte Ungleichheit der Gesellschaft“ und produziert darüber soziale Spaltung und Entsolidarisierung. Eine unbeschränkte Teilhabe am öffentlichen Leben bliebe nur den Ausweisinhaber*innen vorbehalten.

Der Verweis auf Chinas Praxis, wesentlich mehr sensible Gesundheitsdaten als nur den COVID-19-Krankheitszustand in einem solchen digitalen Zeugnis abzulegen, gibt Anlass für die Befürchtung: „Die Immunitätspässe von heute könnten die allumfassenden biologischen Pässe von morgen werden“2. Die Debatte hält weiter an. In Reaktion auf die breit vorgetragene Kritik delegierte das Bundesgesundheitsministerium das Thema an einen Ethikrat weiter. Dieser riet im September von einer Einführung „derzeit ab“.

Da derzeit weder Immunität noch Impfung verlässlich in Sicht sind, nimmt der (mitunter mehrfache) Tests ersatzweise die Funktion der zeitlich begrenzten Bedingung für Teilhabe oder Zugang ein. Flughäfen, Konzertveranstaltungen, Messen, … experimentieren mit Corona-Warn-App und/oder Massentests. Ein Beispiel dafür gibt ein unternehmensfinanziertes Experiment an einer Schule in Mecklenburg-Vorpommern, in der die Schüler*innen sich „freiwillig“ regelmäßig testen lassen können, um mit einem negativen Testergebnis Vereinfachungen im Schulalltag zu erlangen3. Negativ PCR-getestete erhalten einen Unbedenklichkeitsausweis in Form eines grünen Punkts auf ihrem Namensschild. Mit dem dürfen sie ohne Mundschutz über eine „Fast Lane“ das Gymnasium betreten und sich auch ohne Mundschutz im Gebäude bewegen. Die Schule sieht sich als Pionier der „neuen Eigenverantwortung“, wie man wieder einen normalen Schulalltag realisieren und auch Lehrer*innen im Risikoalter einsetzen kann. Die Schule wird hier zum Experimentierfeld für Strategien, wie man den Zugang zu Räumen und das Verhalten in ihnen kontrollieren kann. Ein Parade-Beispiel für Foucaults „Disziplinierungsverfahren“, das alle Schüler*innen zwingt sich der „freiwilligen“ Maßnahme zu unterwerfen, um nicht als Außenseiter oder Gefährder kenntlich zu werden. Mit Erfolg: 90 Prozent der 1100 Schüler*innen machen mit.

Hier ist der „Sponsor“ des Experiments nicht unerheblich: Das Rostocker Biotech-Unternehmen Centogene entwickelt mit anderen Firmen einen App-basierten Immunitätsausweis und hofft auf ein Milliardengeschäft, wenn alle Schulen ein solches Konzept umsetzen würden.

Notwendiger linker Skeptizismus

Einige Linke halten eine über den Datenschutz hinausgehende Kritik an der Corona-Warn-App4 für unzulässig. Sie mache „verschwörerische“ Annahmen über ein nicht erkennbares, sondern lediglich herbeigeredetes Interesse von verschiedenen Akteur*innen an einem nur vage angedeuteten Bevölkerungs- / Versicherten- / Kund*innen-management. Ich halte an dieser weitergehenden Kritik fest und erachte es als richtig und notwendig, einzelne Coronamaßnahmen, ihre Durchsetzung und auch das Projekt „individualisierte Gesundheit“5 zu analysieren und zu kritisieren – ohne die real bestehende Corona-Gefahr zu leugnen und vor allem ohne sich mit rechten Akteuren oder Aluhüten gemein zu machen!

So abwegig sind die Überlegungen zur möglichen Nutzung der Corona-Warn-App (trotz gegenteiliger Beteuerungen der Bundesregierung) offenbar nicht: Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland streiten Jurist*innen über die Rechtmäßigkeit, die Corona-Warn-App zur Zugangsvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe zu machen: Veranstalter*innen solle erlaubt werden, nur Besucher*innen mit App zuzulassen. Dies ist zwar umstritten, nach Meinung vieler Jurist*innen aber zulässig – es gehe um eine „sachbezogene Ungleichbehandlung“. Nun setzt sich der Alltag aus vielen einzelnen Dienstleistungen und auch nicht-kommerziellen Ereignissen zusammen, deren Einzelregelung in der Summe nicht nur eine sachbezogene sondern eine generelle Ungleichbehandlung rechtfertigen würde – den täglichen Einzelfall sozusagen.

Die hoch polarisierte (weil angstbesetzte) Corona-Debatte scheint jedoch nur noch wenig Raum für (dringend notwendige) Überlegungen über das post-pandemische „neue Normal“ zuzulassen. Dennoch will ich eine solche kritische Überlegung zu den PCR-Tests anfügen:

Die Polizei wertet vielerorts sogar bei kleinsten Straftaten die „Corona-Listen“ umliegender Restaurants aus, sowie Online-Tickets von Museen, Schwimmbädern, etc., die angeblich ausschließlich dem Infektionsschutz dienen sollen. Auch hier hagelt es Kritik, die die polizeiliche Praxis jedoch unbeeindruckt lässt. Wer sagt uns, dass die laut Robert-Koch-Institut aufzubewahrenden Speichelproben der täglich bis zu einer Million Gen-Proben beim PCR-Test nicht ebenso zum nachträglichen DNA-Test genutzt werden könnten? Ein ähnlicher Pragmatismus scheint jetzt noch „unverhältnismäßig“, aber in Zukunft vielleicht völlig nachvollziehbar, wenn zur Aufklärung einer besonders schweren Straftat bundesweit gesucht wird und man doch „nur“ auf bereits vorhandenes Genmaterial zugreifen brauche.

Zum Verständnis: „Die vom Patienten gewonnenen Proben sollten asserviert werden, um im Zweifelsfall weitere Untersuchungen zu ermöglichen“ 6. Begründet wird diese Anordnung des RKI unter anderem mit falsch-negativen Testergebnissen: „Ein negatives PCR-Ergebnis schließt die Möglichkeit einer Infektion mit SARS-CoV-2 nicht aus. Falsch-negative Ergebnisse können z.B. aufgrund schlechter Qualität der Probennahme, unsachgemäßem Transport oder ungünstigem Zeitpunkt (bezogen auf den Krankheitsverlauf) der Probenentnahme nicht ausgeschlossen werden“. Das heißt: die untersuchenden Labore sollen nicht nur positiv getestete Proben aufbewahren, sondern alle. Aus verschiedenen Laboren ist zu hören, dass diese derzeit nicht genügend Kapazitäten für eine Lagerung von Hunderttausenden DNA-Probenstäbchen haben. Das ist jedoch nur ein schwaches Argument für eine Beschwichtigung, denn von der Charité in Berlin ist bekannt, dass sie die Proben tatsächlich aufbewahrt.

Vom Gefährder …

Das neu geregelte Infektionsschutzgesetz von 2020 sieht weitreichende staatliche Befugnisse beim Umgang mit Infizierten vor. Der Umgang mit „potenziell Infizierten“ ist nicht nur fragwürdig und rechtlich nicht abgedeckt, sondern erinnert an den traditionell repressiven Umgang mit „gefährlichen Klassen“. Wie der Historiker Frank M. Snowden bemerkte, geht dieser Begriff nicht nur auf die politische „Gefährlichkeit“ des Proletariats im 19. Jahrhundert zurück, das sich der staatlichen Ordnung widersetzte oder betrunken randalierte. Die Metapher galt auch den Gefahren, die von den Angehörigen dieser Klassen als potenzielle Überträger*innen gefährlicher Krankheiten ausgingen. Ihre beengten Wohnverhältnisse, fehlende Kanalisation und sauberes Wasser machten sie zur leichten Beute von Cholera- und Tuberkulose-Erregern.

Die Corona-Pandemie hat nun weltumspannend diesen Aspekt der „gefährlichen Klassen“ wiederbelebt: In Indien wurden Hunderttausende Wanderarbeiter*innen rabiat von den Straßen geräumt und in „Quarantäne-Lager“ gesperrt. In der Enge dieser Lager waren sie einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt als vorher. Sie wurden aus den öffentlichen Räumen verbannt, um die indische Mittel- und Oberschicht vor den gefährlichen Körpern derjenigen zu schützen, die normalerweise in Fabriken, auf Baustellen oder in privaten Haushalten für einen kärglichen Lohn arbeiten und in billigen Unterkünften oder Armenvierteln wohnen. In derselben Logik wurden weltweit Teile von Slums abgeriegelt, wenn dort Covid-19-Fälle aufgetaucht waren. In Katar wurden zehntausende Wanderarbeiter*innen in einem Industriegebiet eingeschlossen, wo sie in beengten Schlafsälen ausharren mussten. In Südafrika holte die Polizei Obdachlose von der Straße und sperrte sie zu Tausenden in Sportplätzen ein. In Bangladesch, im Libanon und in Jordanien wurden Geflüchtete in überfüllten Lagern eingeschlossen.

In Berlin-Neukölln wurden mehrere Wohnblocks im Rahmen einer Zwangs-Quarantäne abgeriegelt und mit einem von der Polizei bewachten Gitterzaun versehen, nachdem dort mehrere Covid-19-Infektionen aufgetaucht waren. Eigentlich muss in Deutschland nur in Quarantäne, wer infiziert ist oder engen Kontakt zu einem laborbestätigten Infizierten hatte. Die Abriegelung ganzer Wohnblocks wurde in Neukölln damit begründet, die Bewohner*innen seien „sozial schwach“ und „wenig integriert“, was – bei genauerem Hinsehen – noch nicht einmal stimmte. Ähnlich wurde in Wohngebieten von Tönnies-Arbeiter*innen (vornehmlich nicht deutscher Herkunft) in NRW verfahren. In allen Fällen wurde in Kauf genommen, dass die Eingesperrten noch stärker der gefährlichen Enge und den unhygienischen Bedingungen ihrer Unterkünfte ausgesetzt waren.

Daraus wird ersichtlich, dass in der Pandemie zwar prinzipiell alle zur virologischen Gefahr werden (genau das macht die Ausweitung des virologischen Gefährder-Begriffs gegenüber der terroristischen Gefährder*in politisch so universell nutzbar), aber in der Anwendung bleibt eine klassistische und rassistische Interpretation der Gefährdung die Regel. Nicht selten wird aktuell die ohnehin fehlende Bereitschaft zur Aufnahme von Geflüchteten mit dem Verweis auf Corona „begründet“.

… zum Selbstgefährder

Bleiben Sie gesund !!!“ Der Grundgedanke, dass der Staat das Individuum zu physischer Gesundheit zwingen darf, ist erschreckend. Es ist absehbar, dass die Sozialtechnokratie nach der Pandemie eine tolle Zeit wittert, um das Verhältnis von Freiheit und Gesundheit zulasten der Freiheit neu zu definieren. Denn kann nach der gewaltigen Solidarität gegenüber der Einzelnen und dem Schutz ihrer Gesundheit nicht verlangt werden, dass sie ihre Selbstzerstörungen durch Rauchen, Alkohol, Überernährung oder allerlei unnötige Alltagsrisiken unterlässt? Zu dumm, dass sie ihre Vorlieben auch noch als Ausdruck ihrer Freiheit empfindet und akzeptiert, dass Freiheit als Gegenpol auch immer Risiken einschließt.

Eine gesundheitsoptimierte Gesellschaft wird bei Zwangsquarantänen, Impfnachweisen oder Tabakwerbeverboten nicht Halt machen. Sie wird mit Leidenschaft das menschliche Genom vermessen, um Krankheiten individualisiert (präventiv) zu vermeiden. Sie wird dazu Punktesysteme als Anreiz zur Selbstunterwerfung nutzen und sie wird, in immer „bester Absicht“, auch das Problem der Sterblichkeit lösen wollen, eines der letzten großen Ohnmachtsgefühle des Menschen.7

Guido Arnold ist promovierter Physiker und arbeitet im DISS zum Thema Entsolidarisierung durch digitale Transformation des Gesundheitssystems.

1 http://www.disskursiv.de/2020/11/18/solutionismus/

2 https://www.heise.de/tp/features/Coronavirusepidemie-Kontroll-und-Ueberwachungstechniken-fuer-Schulen-4779309.html

3 Kofler, Baylis: Ten reasons why immunity passports are a bad idea. 2020, S. 380.

4 http://www.disskursiv.de/2020/11/18/solutionismus/

5 Weniger Ärztin im künstlich intelligenten Gesundheitssystem in der Broschüre DIVERGE, capulcu 2020, https://capulcu.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/54/2020/06/DIVERGE-small.pdf

6 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Vorl_Testung_nCoV.html

7 Auch das ist keine verschwörerische Vermutung, sondern die Absichtserklärung eines wachsenden Forschungszweiges so genannter Transhumanist*innen, die auf der Basis eines technologiegläubigen, rechten Weltbilds die Bedingungen menschlicher Reproduktion und die Sterblichkeit überwinden wollen.

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.