„Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien“

  • Lesedauer:15 min Lesezeit

Von Dirk Diluweit

Butter, Michael: „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Edition Suhrkamp. Suhrkamp Verlag, 2018. ISBN: 3518073605; 18 €

In „Nichts ist wie es scheint. Über Verschwörungstheorien“ legt der Tübinger Professor für amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte, Michael Butter, eine Definition des Begriffs Verschwörungstheorie vor. Mit Hilfe dieser Definition möchte er herausfinden, ob Verschwörungstheorien in den letzten Jahren populärer geworden sind und welche Gefahren von solchen Theorien ausgehen (vgl. Butter, 12). Neben einer Einleitung und einem Schlussteil ist das Buch in fünf Kapitel gegliedert.

Im ersten Kapitel erläutert Butter, was er unter Verschwörungstheorien versteht. Hierfür greift er auf eine Definition des Politikwissenschaftlers Michael Barkun zurück. Laut Barkun gehen Verschwörungstheorien davon aus, dass nichts durch Zufall geschieht. Zweitens postulieren sie, dass nichts so ist, wie es den Anschein hat, und behaupten schließlich, dass alles miteinander verbunden sei.

Diesen Ansatz ergänzt Butter durch eine These des Historikers Geofrey Cubitt, nach dessen Auffassung Verschwörungstheorien rigide zwischen Gut und Böse unterscheiden (vgl. ebd., 22ff.). Verschwörungstheorien gehen somit davon aus, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen langfristig planen lassen und, dass alle historischen Ereignisse die Folgen intentionaler Handlungen sind (vgl. ebd., 28). Deshalb basieren Verschwörungstheorien auf einem unrealistischen Geschichts- und Menschenbild (vgl. ebd., 39). Somit bestreitet Butter nicht, dass es Verschwörungen gibt, sondern widerspricht den Grundannahmen von Verschwörungstheorien.

Neben dieser Definition schlägt Butter eine Typologie vor, die es erlaubt, Verschwörungstheorien anhand der postulierten Verschwörung voneinander zu unterscheiden. Hier geht Butter davon aus, dass sich die Elemente verschwörungstheoretischen Denkens nicht beliebig kombinieren lassen und nicht alle Kombinationen gleich häufig auftreten. Zunächst unterscheidet Butter hierfür zwischen Verschwörungen von oben und Verschwörungen von unten. Theorien, die eine Verschwörung von oben behaupten, unterstellen, dass eine mächtige Gruppe ihre Macht durch konspirative Handlungen sichern oder ausbauen will. Dagegen behaupten Theorien die Verschwörungen von unten, dass die Verschwörer soziale Institutionen infiltrieren, um an die Macht zu kommen (vgl. ebd., 30).

Als nächstes differenziert Butter zwischen Theorien, die Verschwörungen entweder von außen und von innen beschreiben. Theorien, die Verschwörungen von außen behaupten, gehen davon aus, dass die Verschwörer*innen nicht der Institution angehören, die sie unterwandern wollen. Verschwörungen von außen werden laut Butter meistens als Verschwörungen von unten beschrieben (vgl. ebd., 31). Im Gegensatz hierzu sind Verschwörer*innen, die an einer Verschwörung von innen beteiligt sind, schon immer Angehörige der Institutionen gewesen, in denen sie agieren. Jedoch haben die Verschwörer*innen irgendwann damit begonnen, innerhalb einer Institution eigene Ziele zu verfolgen (vgl. ebd., 31).

Ereignisverschwörungstheorien handeln von einem singulären, zumeist eindeutig abgrenzbaren Ereignis. Dagegen unterstellen Systemverschwörungstheorien den Verschwörer*innen für gesellschaftliche Entwicklungen verantwortlich zu sein. Superverschwörungstheorien sind nach Butter ein Konglomerat aus mehreren System- oder Ereignisverschwörungstheorien. Ein Beispiel hierfür wäre die nationalsozialistische Theorie der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, für die aus zwei Systemverschwörungentheorien eine Superverschwörungstheorie gebildet wurde (vgl. ebd., 34).

Daraus schließt Butter jedoch nicht, dass sich Verschwörungstheorien immer gegen die jeweilige Staatsdoktrin oder das legitime Wissen richten müssen. So waren Verschwörungstheorien während der McCarthy-Ära Teil des offiziellen Wissens. (vgl. ebd, 50). Da für Butter jedes Wissen ideologische Elemente besitzt, lehnt er es ab, zwischen Verschwörungstheorien und Verschwörungsideologien zu unterscheiden (vgl. ebd., 53). Butter bestreitet ebenfalls, dass Verschwörungstheorien nicht falsifizierbar wären. Im Gegenteil werden nach Butter Verschwörungstheorien ständig widerlegt, ohne dass dies ihre Anhänger*innen beeindrucken würde (vgl. ebd., 54).

Im zweiten Kapitel beschreibt Butter, wie Verschwörungstheoretiker*innen argumentieren und wie es ihnen gelingt, einen anderen Blick auf die Welt anzubieten. Da Verschwörungstheoretiker*innen hinter allem eine zentrale Ursache vermuten, fragen sie meistens, wem ein Ereignis nützt (vgl. ebd., 60). Hierzu passend postulieren Verschwörungstheoretiker*innen, dass nur ein großangelegter und langfristig verfolgter Plan ein funktionierendes Ganzes entstehen lassen kann. Um ihre Thesen zu stützen, führen Verschwörungstheoretiker*innen häufig Indizien wie geheime Dokumente oder vermeintliche Überläufer an (vgl. ebd., 65).

Verschwörungstheorien unterstellen einer Gruppe von Verschwörer*innen, sehr mächtig zu sein, Expert*innen in ihre Pläne einbinden zu können oder das Potenzial zur Täuschung zu haben. Dadurch können auch Fakten, die eine Verschwörungstheorie widerlegen, als Finten angesehen werden, mit denen die Verschwörer*innen ihre wahren Absichten verschleiern möchten (vgl. ebd., 79). Andererseits lehnen es Verschwörungstheoretiker*innen ab, von ihnen vorgetragene Indizien als Zufälle gelten zu lassen.

Neben Verschwörungstheoretiker*innen, die explizite Verschwörungstheorien formulieren, geben Verschwörungstheoretiker*innen wie der Historiker Daniele Ganser vor, Fragen zu stellen oder auf angebliche Widersprüche in der offiziellen Version hinzuweisen. In diesen Fällen wird es den Leser*innen oder Zuschauer*innen überlassen, die vermeintlichen Widersprüche zu einer Verschwörungstheorie zusammenzufügen (vgl. ebd., 83).

Indem Verschwörungstheorien Verschwörer*innen als amoralische Übermenschen darstellen, ermöglichen sie es den Verschwörungsgläubigen, sich und die eigene Gruppe moralisch aufzuwerten (vgl. ebd., 101).

Im dritten Kapitel beantwortet Butter die Frage, warum Menschen an Verschwörungstheorien glauben. Nach Butter betonen Verschwörungstheorien menschliche Handlungsfähigkeit (vgl. ebd., 104). Zudem bieten Verschwörungstheorien an, eine wenn auch defizitäre Methode Wissen zu generieren sowie Sinn und Ordnung zu stiften. Dabei kommen Verschwörungstheorien der Funktionsweise des menschlichen Gehirns entgegen. So neigen Menschen dazu, Muster zu erkennen und Ereignisse als Folgen intentionalen Handels zu begreifen (vgl. ebd., 106). Trotzdem sind Verschwörungstheorien nicht bei allen Menschen gleichermaßen populär. So beeinflussen der Bildungsgrad und das Gefühl machtlos zu sein die Affinität zu Verschwörungstheorien (vgl. ebd., 122).

Obwohl Verschwörungstheorien oft eine feindliche Fremdgruppe konstruieren, stabilisieren sie Gemeinschaften nicht zwangsläufig. Unter ungünstigen Umständen können sie dazu beitragen, dass Menschen einander misstrauen und sich nicht mehr als Teil eines Gemeinwesens sehen (vgl. ebd., 110).

Im vierten Kapitel erläutert Butter, unter welchen Voraussetzungen Verschwörungstheorien formuliert werden können und wie sich solche Theorien historisch entwickelten. Erstens lassen sich Verschwörungstheorien erst artikulieren, wenn Ideen von Zeitlichkeit und handlungsfähigen Subjekten institutionalisiert wurden. Um wirksam werden zu können, benötigen Verschwörungstheorien zweitens eine Öffentlichkeit, in der sie in Text- oder Bildform zirkulieren können. Drittens setzt dies mediale Bedingungen voraus, die es ermöglicht, solche Ideen zu vervielfältigen (vgl. ebd., 140). Dies legt nahe, dass es sich bei Verschwörungstheorien um Denkfiguren handelt, die nur in der Antike und während der Aufklärung entstehen konnten und sich durch die Kolonialisierung weltweit verbreiteten (vgl. ebd., 141). Jedoch widerspricht Butter Popper, der Verschwörungstheorien als Religionsersatz im Zeitalter der Säkularisierung beschreibt. So weist Butter darauf hin, dass Verschwörungstheorien und Religion miteinander kompatibel sind, da viele Verschwörungstheorien religiöse Inhalte aufgreifen. Zudem wurden Verschwörungstheorien bereits in der Antike formuliert (vgl. ebd., 143).

Erst der Holocaust führte dazu, dass Verschwörungstheorien delegitimiert und stigmatisiert wurden (vgl. ebd., 151). Nach 1945 wurden Verschwörungstheorien mit zwei Argumenten verworfen. Ein psychologisches Argument klassifizierte Verschwörungstheoretiker als pathologisch, wogegen ein epistemologisches Argument die Widersprüche in Verschwörungstheorien benannte (vgl. ebd., 153). Da Verschwörungstheorien inzwischen nicht mehr kulturell anerkannt sind, deuten Verschwörungstheoretiker ihren Status als Außenseiter positiv um oder weisen den Vorwurf zurück, Verschwörungstheorien zu verbreiten (vgl. ebd., 158).

Im fünften Kapitel erläutert Butter, dass Verschwörungstheorien in letzter Zeit durch das Internet etwas populärer geworden sind. Allerdings sorgte das Internet nicht dafür, dass Verschwörungstheorien so populär wurden, wie häufig angenommen wird (vgl. ebd., 180). Auch wenn Verschwörungstheorien in letzter Zeit nicht den Status legitimen Wissens errungen haben, können sie dazu führen, dass die Öffentlichkeit fragmentiert wird, was die Grundlagen demokratischer Debatten untergräbt. So können Verschwörungstheorien die Öffentlichkeit in Teilöffentlichkeiten spalten, in denen Verschwörungstheorien jeweils akzeptiert oder abgelehnt werden (vgl. ebd., 181). Besonders deutlich wird dies in den USA, wo die Anhänger der Republikaner und Demokraten auseinanderdriften (vgl. ebd., 194).

Im Schlussteil diskutiert Butter, ob Verschwörungstheorien gefährlich sind und wie gegen sie vorgegangen werden kann. Herr Butter möchte nicht pauschal sagen, dass Verschwörungstheorien gefährlich sind. Leute, die an Verschwörungstheorien glauben, müssen nicht zwangsläufig gewalttätig sein, wogegen Terrorgruppen, die sich nicht auf Verschwörungstheorien beriefen wie die IRA, tödliche Anschläge verübten (vgl. ebd., 222). Zusätzlich hält Butter nicht alle Arten von Verschwörungstheorien für gleichermaßen gefährlich. So hält er Verschwörungstheorien, die sich gegen Minderheiten richten, für gefährlicher als Theorien, die Eliten beschuldigen, hinter Verschwörungen zu stecken (vgl. ebd., 223). Da Menschen, die psychologische oder sozialwissenschaftliche Kenntnisse besitzen, seltener an Verschwörungstheorien glauben, schlägt Butter vor, entsprechendes Wissen in der Schule zu vermitteln (vgl. ebd., 229).

Butters Argumentation weist einige Widersprüche und Leerstellen auf. Dadurch kann sein Buch nicht durchgängig überzeugen. Butter legt allerdings plausibel dar, dass Verschwörungstheorien auf einem unrealistischen Gesellschafts- und Menschenbild basieren. Dadurch suggerieren sie ihren Anhängern Handlungsfähigkeit und wecken bei ihnen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dies erklärt auch, warum Verschwörungstheorien in stark individualistischen und aufgeklärten Ländern wie den USA Anklang finden (vgl. ebd., 211). Seine Warnung, dass Verschwörungstheorien dazu beitragen können, die Öffentlichkeit zu fragmentieren, ist ebenfalls schlüssig.

Jedoch bleibt unklar, warum Verschwörungstheorien falsifizierbar sein sollen. Wie Butter anhand zahlreicher Beispiele zeigt, deuten Verschwörungstheorien Komplotte als „Urwahrheit“ im Sinne Ecos (Eco 2020, 31). Demnach können auch Gegenbeweise, die die Verschwörungstheorie widerlegen, Teil der Verschwörung sein. Da in solchen Fällen nicht angegeben werden kann, welche Beobachtungen solchen Theorien widerlegen, sind solche Theorien nicht falsifizierbar und besitzen somit keinen Informationsgehalt (vgl. Diekmann 132ff.).

Von daher ist nicht schlüssig, warum es Butter ablehnt, zwischen Verschwörungstheorien und Verschwörungsideologien zu unterscheiden. Auch wenn jedes Wissen ideologische Bestandteile aufweist, bestehen Verschwörungstheorien zur Gänze aus Fantasiegehalten. Deswegen kann diese Weltsicht nur defizitäres Wissen generieren. Da Verschwörungstheorien nur dazu beitragen können, ein positives Selbstbild zu bewahren, erfüllen solche Ideologien die gleichen Funktionen, die Olivier Roy (2018) religiösen Fundamentalismen zuspricht. Nach Roy haben sich Fundamentalisten aus zumeist narzisstischen Motiven dafür entschieden, radikal zu sein (vgl. ebd., 104). Wenn sich Verschwörungstheoretiker aus ähnlichen Motiven vom wissenschaftlichen Weltbild abgewandt haben, ist fraglich, ob sozialwissenschaftliche Bildung dabei helfen kann, dies zu ändern.

Auch die Aussage, Verschwörungstheorien könnten sowohl Links als auch Rechts entstehen (vgl. Butter 2020, 176), kann nicht überzeugen. Davon abgesehen, dass Butter einen Satz später einräumt, dass Verschwörungstheorien ein gewisser Konservativismus inhärent wäre, verwischt er mit dieser Behauptung die Unterschiede zwischen rechtem und linkem Denken. Mit Sicherheit gibt es auch in linken Bewegungen Leute, die verschwörungstheoretisch argumentieren. Linke Sozialtheorien sprechen sozialen Verhältnissen jedoch eine Eigendynamik zu, die es schwierig macht, gesellschaftliche Entwicklungen als Folge eines langfristig angelegten Plans zu deuten. Zudem liegt nach linkem Politikverständnis die Ursache sozialer Konflikte in Widersprüchen, die einer Gesellschaftsordnung immanent sind. Dadurch können sich die Kontrahenten trotz gegensätzlicher Interessen weiterhin als Mitglieder eines Gemeinwesens begreifen. Dies verringert das Risiko, dass soziale Konflikte die politische Öffentlichkeit zerstören.

Butter fordert, Leuten, die an Verschwörungstheorien glauben, realitätsgerechtere Deutungsangebote zu unterbreiten. Jedoch lässt er offen, ob linke Gesellschaftstheorien Leuten, die sich in etablierten Narrativen übergangen fühlen, Alternativen zu Verschwörungstheorien bieten. Weiterhin bleibt dadurch unklar, ob die steigende Popularität von Verschwörungstheorien eine Folge der Internetnutzung ist, ober ob Verschwörungstheorien populärer wurden, weil linke Narrative nach dem Zusammenbruch des Ostblocks delegitimiert wurden.

Zwar verweist Butter auf empirische Studien. Jedoch erläutert er nur oberflächlich, von wem und in welchem Ausmaß an Verschwörungstheorien geglaubt wird. Deshalb gelingt es ihm nicht immer, seine Aussagen empirisch zu fundieren. Ein Beispiel hierfür ist seine Aussage, Verschwörungstheorien wären im Internetzeitalter populärer geworden, seien aber nicht mehr so populär wie früher (vgl. ebd., 180).

Dirk Diluweit ist Sozialwissenschaftler, lebt in Darmstadt und forscht zu sozialer Ungleichheit, Ethnizität und Migration.

Literatur:

Butter, Michael 2020: Nichts ist wie es scheint. Über Verschwörungstheorien, Berlin.

Diekmann, Andreas 2000: Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendung, Hamburg.

Eco, Umberto 2020: Der ewige Faschismus, München.

Roy, Olivier 2018: Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod. Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors, Bonn.

 

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.