von Guido Arnold
Am 9. April 2021 widersprach der Ethikrat dem Gesundheitsminister bei seinem Vorhaben, bereits Geimpften ‚Impfprivilegien‘ zuzugestehen. „Das wäre frühestens in Ordnung, wenn alle die Chance hatten, sich impfen zu lassen oder alternativ mithilfe von Tests Freiheiten zurückzubekommen“, so Sigrid Graumann, Mitglied des Deutschen Ethikrates. Gesundheitsministerium, Jurist:innen und Wirtschaftsvertreter:innen kontern, es gehe nicht um Privilegien, sondern um das Gewähren von Rechten (für einige), die zuvor (allen) genommen wurden. Es sei also keine privilegierte Sonderbehandlung, sondern die Beendigung einer Einschränkung, die für die derzeitige Minderheit der Geimpften nicht mehr länger virologisch begründbar wäre.
Die wissenschaftliche Basis für diese Einschätzung ist nicht einwandfrei. Doch es gibt offenkundig noch eine andere Ebene als die individuelle, virologische Ansteckungsfähigkeit: „Wenn bei 11 Prozent Geimpften darüber diskutiert wird, dass diejenigen, die geimpft sind, Dinge tun dürfen, die andere nicht tun dürfen, und gleichzeitig nicht allen ein Impfangebot gemacht werden kann, wird das zu Recht als ungerecht empfunden“, so Graumann.
Die Individualisierung der Ansteckungsgefahr, die dem juristischen Denken entspringt, hilft nicht weiter, wenn es darum geht, die Pandemie als gesamtgesellschaftliches Problem zu lösen. Die Gemeinschaft braucht Rahmenbedingungen, die den Infektionsschutz in seiner Gesamtheit befördern. Eine Ungleichbehandlung kann mit einer schwindenden Solidarität oder gar einem zu befürchtenden gesellschaftlichen Unfrieden diese Rahmenbedingungen unterminieren.
So weit so nachvollziehbar. Doch nur vier Wochen später, bei noch immer lediglich 9,6 % vollständig Geimpften sieht die Betrachtung schon ganz anders aus, obwohl sich an den Grundbedingungen nichts geändert hat. Der Diskurs hat sich über den Pandemieermüdungsdruck vieler und über eine medial aggressiv forcierte Wende hin zum „Recht des Einzelnen“ gedreht: Geimpften dürften ihre Grundrechte nicht länger vorenthalten werden. Die Befürchtung vor einer Gesellschaftsspaltung wird nicht mehr bemüht. Das zu stärkende Gemeinschaftsgefühl, zuvor als Schlüssel zur Pandemiebekämpfung geadelt, ist nun passé. Sonderregelungen für Geimpfte als Licht am Ende des Tunnels sollen sogar die Impfbereitschaft erhöhen. Das Ergebnis: Seit dem 9. Mai 2021 wurden nicht nur die Testpflicht beim Einkauf, sondern auch die Reise- und Kontaktbeschränkungen für Geimpfte per Verordnung aufgehoben. Geimpfte dürfen nun abends draußen bleiben, Ungeimpfte müssten um 22 Uhr nach Hause. Dies lässt sich nicht anders interpretieren als eine Einübung von Ungleichheit – unter Inkaufnahme eines ausgeprägten Impfegoismus.
Gesamtgesellschaftlich sinnvoll wäre es hingegen, eine Schwelle zu definieren, ab der die vulnerabelsten Gruppen komplett durchgeimpft sind und man die Pandemie mit einfachen Maßnahmen wie Masken und Abstandsregeln ausreichend kontrollieren kann. Ab diesem Punkt wären die Freiheitseinschränkungen für die ganze Bevölkerung (eines Landkreises) aufzuheben.
Der Preis der Entsolidarisierung hingegen ist hoch: Zehntausende Impfdrängler:innen pro Woche; mit falschen Berufsangaben bzw. falschen Angaben, Kontaktperson von Pflegebedürftigen zu sein, bis hin zu aggressiv auftretende Gruppen, die ihre Impfung gegen die Priorisierung anderer in Impfzentren physisch durchsetzen. Kochsalzlösungen, die statt der Impfdosis verimpft werden, und ein breit verankertes Bemühen, sich für die in Aussicht gestellte Quarantänefreiheit vor und nach dem Urlaub in eine höhere Priorisierungsgruppe zu schummeln. Im Internet bestellbare gefälschte Impfpässe sind da ein eher randständiges Problem, werden jedoch zur Legitimation der Einführung eines ‚fälschungssicheren‘ digitalen Impfpasses medial in den Vordergrund gesendet.
Impfnationalismus
Impfprivilegien von ganz anderer Tragweite werden sichtbar, wenn wir den Blick weiten und die globale Verteilung der künstlich verknappten Corona-Impfstoffe analysieren. Dass dieses Problem lange Zeit so viel weniger Beachtung im öffentlichen Diskurs fand, zeigt den Krisennationalismus und -kolonialismus deutlich.
Ein Blick nach Afrika offenbart, dass Südafrika gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung geimpft hat und nach Ansicht vieler Epidemiolog:innen kurz vor dem Beginn der dritten Infektionswelle steht. Selbst in Ländern wie Ruanda und Ghana, die sehr effektive Impfprogramme haben, konnten nur etwa drei Prozent der Bevölkerung eine erste Spritze bekommen, mehr Impfstoff ist nicht da. Und wird auch so bald nicht kommen. Die von der WHO und der Gates-Stiftung initiierte und von einigen Industrieländern unterstützte Impf-Initiative Covax hatte sich zum Ziel gesetzt, bis Ende des Jahres 20 Prozent der Menschen in den ärmsten Ländern zu versorgen – das erscheint derzeit unmöglich. Das Programm sollte die meisten seiner Impfdosen vom Serum Institute in Indien bekommen, das AstraZeneca in Lizenz herstellt. Indien wurde wie kein anderes Land derart heftig von einer neuen Infektionswelle überrollt, dass die Regierung alle Impfstoff-Lieferungen ins Ausland einstellte. Die afrikanischen Länder sind nun erst einmal von Nachschub abgeriegelt. Zudem hat sich herausgestellt, dass die Wirksamkeit von Astra Zeneca gegen die südafrikanische Mutante B1.351 nur bei 20 % liegt. Auch der Corona-Impfstoff von Biontech wirkt gegen die südafrikanische Virusmutation etwa zwei Drittel weniger effektiv.
Viele Regierungen in Afrika scheinen überdies deutlich mehr für eine Impfdosis zu zahlen als die europäischen Länder. Ein geleakter Vertragsentwurf aus dem Februar sieht im Falle Ugandas einen Preis von sieben Dollar pro Dosis AstraZeneca vor. Begründung: Das Land habe sich, anders als z.B. die EU, nicht an der Erforschung und Erprobung des Impfstoffs beteiligt.
Bis in Afrika ausreichend Impfstoff vorhanden ist, wird noch viel Zeit vergehen. Bis dahin droht die Gefahr neuer Virusmutationen, neuer Infektionswellen – und damit eine Tragödie wie derzeit in Indien.
Aufhebung der Patente
Die Menschenrechtsorganisation Medico International fordert die Aussetzung des Patentschutzes, um die Herstellung von Impfstoffen anzukurbeln. Indien und Südafrika haben im Herbst bei der Welthandelsorganisation um eine zeitweilige Aufhebung des Patentschutzes nachgesucht, bisher ohne Erfolg. Denn andere Länder blockieren, auch Deutschland. Dort setzt man auf „freiwillige Lizenzen“.
Dabei sieht das sogenannte TRIPS-Abkommen seit 2001 (fortentwickelt unter dem Druck von Südafrika, das angesichts der Aids-Epidemie dringend Zugang zu bezahlbaren Medikamenten benötigte) die Erteilung von Zwangslizenzen, also die zeitweilige Aussetzung des Patentrechts gegen den Willen der Pharmaunternehmen explizit vor. In Deutschland etwa hat der Bundesgerichtshof 2017 im „öffentlichen Interesse“ eine vorläufige Zwangslizenz auf ein Aids-Medikament gebilligt. Die Behandlung einer Person mit HIV kostet mit patentgeschützten Medikamenten ungefähr 10.000 US-Dollar pro Jahr – mit freigegebenen Generika 150. Andere Staaten haben ähnliche Vorschriften erlassen.
Am 5. Mai hat sich die USA überraschend hinter die Forderung von mehr als 100 ärmeren Ländern zur Aussetzung des Patentschutzes für Covid-19-Impfstoffe gestellt. Damit könnten Hersteller in aller Welt die Impfstoffe ohne Lizenzgebühren produzieren.
Die EU hingegen sieht in dem US-Vorschlag zur Freigabe von Patenten keine Lösung für den weltweiten Mangel an Corona-Impfstoffen. „Wir denken nicht, dass das kurzfristig eine Wunderlösung ist“, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel nach Beratungen der Staats- und Regierungschefs in Porto. Die Bundeskanzlerin hatte eigentlich schon vor einem Jahr versprochen: „Es handelt sich um ein globales öffentliches Gut, diesen Impfstoff zu produzieren und ihn dann auch in alle Teile der Welt zu verteilen.“ Doch in einer verstörenden Wortmeldung vom 7.5.21 konstatierte Angela Merkel nun, dass es niemand wollen könne, wenn China die moderne, im Westen von
Biontech und Moderna entwickelte mRNA-Technik erhalte. Anders als afrikanische Länder verfüge nämlich die Volksrepublik über entsprechende Produktionskapazitäten. Ähnliche Sorgen werden hinter vorgehaltener Hand auch in Brüssel geäußert – schließlich soll mRNA im Kampf gegen Krebs helfen.
Die traurige, virologisch katastrophale und moralisch verwerfliche Bilanz der weltweiten ‚Impfkampagne‘: Auf die zehn reichsten Länder entfallen nunmehr 80 Prozent der bislang verfügbaren Dosen. Diese sichern sich (wie z.B. Israel und die USA) bereits die Zweit- und Drittimpfung für die gesamte Bevölkerung, während die ärmsten Länder gerade mal 0,3 % aller derzeit verfügbaren Impfdosen erhalten haben. Hundert Länder des globalen Südens müssen noch bis zu zwei Jahre auf eine Erst-Versorgung mit Covid-Vakzinen warten – ein Skandal, der die Forderung der WHO auf Freigabe der Patente und die lang geforderte Entkopplung der Impfstoff-Entwicklung von der Produktion überfällig macht.
Die Hoffnung von Covax schwindet, dass derart überversorgte Länder in dem Moment, wo mehrere Impfstoffe zugelassen sind, auf ihre Kaufoptionen verzichten. Falls doch, dann lediglich in einem pseudo-caritativen Akt der Gnade – eine ‚faire‘ Lösung insbesondere im Hinblick auf zukünftige Pandemien sieht anders aus.
Das Absurde daran: Selbst unter der Maxime einer möglichst effizienten Pandemiebekämpfung (nur) für die „eigene Bevölkerung“ ist der Impfnationalismus kontraproduktiv, da es mehr mutierte Virusrückkopplungen gibt, je länger das Virus in einem anderen Land unbekämpft residiert. Eine möglichst hohe Gleichzeitigkeit der globalen Bekämpfung von viralen Pandemien ist eine absolute Grundvoraussetzung in einer hoch vernetzten Welt, in der die Abschottung eines Landes nur in den zutiefst unsozialen Vorstellung von No- und Zero-Covid-Anhänger:innen denkbar ist.
Während der Impfstoffhersteller Moderna einer temporären Aussetzung seiner Patente zustimmte, betonte Biontech, dies sei „weder sinnvoll noch notwendig“. Biontech feiert derweil eine phänomenale Umsatzsteigerung: Im ersten Quartal 2021 betrug der Umsatz 2,05 Milliarden Euro. Das ist mehr als 70 Mal so viel wie im entsprechenden Zeitraum 2020 (27,7 Millionen). Und das ist keine Eintagsfliege, da global weitere Impfungen zur Immunauffrischung und zur Anpassung an das sich rasch verändernde Virus notwendig sein werden. „Unser Ziel ist es, zum globalen Machtzentrum der Immuntherapie im 21. Jahrhundert zu werden“, sagte Vorstandschef Uğur Şahin am 10.5. bei der Vorstellung der Quartalszahlen. Ein trauriger Umsatzrekord angesichts Hunderttausender (bei einer Aussetzung der Patente) vermeidbarer Tote.
11. Mai 2021
Guido Arnold ist promovierter Physiker und arbeitet im DISS zum Thema Entsolidarisierung durch digitale Transformation des Gesundheitssystems.
Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 41 vom Juni 2021. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.