Von Ismail Küpeli
Die Etablierung eines türkischen Nationalstaats im 20. Jahrhundert, einschließlich der Schaffung einer türkischen Nation, ging einher mit der Vernichtung, Vertreibung und Marginalisierung von nicht-muslimischen und nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen. Die Schaffung einer türkischen Nation wurde allerdings nicht nur durch Vernichtung und Exklusion vorangetrieben, sondern ebenfalls mit diskursiven Mitteln, nämlich mittels Narrativen und Leitbildern. Sie dienten dazu, staatliche Politiken zu legitimieren. So wurde etwa die ethnisch-religiöse Homogenisierungspolitik durch das Narrativ der fehlenden nationalen Einheit als Hindernis für eine erfolgreiche Modernisierung legitimiert. Die „ethnischen Säuberungen“, Massaker, Deportationen und Umsiedlungen sind Bestandteile dieser Strategien des türkischen Staates. Die Reduzierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen zu „Minderheiten“ ist eine Folge dieser Gewaltpolitiken. In zahlreichen Regionen hatten nicht-türkische Bevölkerungsgruppen die Mehrheit gestellt, bis dies durch Massaker und Umsiedlungen geändert wurde.
Die Kurd_innen waren als die letzte große nicht-türkische Gruppe in der neuen Republik das Haupthindernis für das kemalistische Staatsprojekt einer homogenen türkischen Nation. Das Eindringen des Staates und die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung war immer wieder umkämpft, zuletzt 1937/1938 in Dersim. Dersim als widerständige Region mit schwacher staatlicher Präsenz wurde nach langer Planung vom türkischen Staat angegriffen. Jeglicher Widerstand wurde brutal zerschlagen und die Bevölkerung getötet oder vertrieben. Danach gab es keine nennenswerten Kämpfe zwischen kurdischen Akteuren und der türkischer Armee bis in die 1970er-Jahre. So galt bis in die 1960er ein Kompromiss, der nicht ausgesprochen wurde aber trotzdem gültig war: Der türkische Staat kooptierte die loyalen kurdischen Eliten in das neue politische System, etwa durch die Gewährung von Parlamentssitzen. Die faktische Macht, die die lokalen Eliten hatten, wurde institutionalisiert und mit den Strukturen der Republik in Einklang gebracht. Im Gegenzug akzeptierten die kurdischen Eliten die offizielle Redeweise, die die Existenz der Kurden leugnete und von einem monoethnischen, türkischen Staat sprach. Sie verzichteten ebenfalls auf Forderungen wie etwa nach der Anerkennung der kurdischen Sprache oder der Schaffung eines Minderheiten- oder Autonomiestatutes für die Kurden.
Die Rede über die Kurd_innen
Der hegemoniale Diskurs der türkischen Geschichtsschreibung, wie sie sowohl in den geschichts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Hochschulen als auch von den staatlichen Wissensproduzenten hergestellt wird, entwirft spezifische Erzählungen über die Republik Türkei und ihre jeweiligen Gegner_innen. Eine dieser Erzählungen, nämlich das Narrativ über die Kurd_innen als eine rebellische und feindliche Bevölkerungsgruppe, entstand bereits vor der Gründung der Republik und ist bis heute relevant. Die Beschreibung der Kurd_innen als rebellisch und barbarisch hängt dabei unmittelbar mit der Legitimierung der staatlichen Gewaltpolitiken gegen die Kurden zusammen.
Die Erzählungen über die andersartigen Kurd_innen
Die Erzählung von den Kurd_innen als eine fremde, andersartige und nicht vertrauenswürdige Bevölkerungsgruppe ist einerseits zentral, um sie aus den Kreis der schützenswerten Staatsbürger auszuschließen und so die staatliche Gewaltpolitik gegen sie zu legitimieren. Andererseits stellt diese Erzählung den hegemonialen Diskurs selbst in Frage, weil eine andere zentrale Erzählung, nämlich die Homogenität der türkischen Nation unterminiert wird. Anders gesagt: Wenn es gar keine Kurd_innen im engen Sinne gibt und sie eigentlich ein Teil der türkischen Nation sind, der seine türkischen Wurzeln vergessen hat, wie können sie dann so grundsätzlich anders und fremd sein?
Dieser Widerspruch wird durch die Erzählung gelöst, dass die einfache kurdische Bevölkerung von ihren Anführern absichtlich in Unfreiheit und Barbarei gehalten werde. Folgerichtig sollen die Kurd_innen von ihren Scheichs und Stammesführern befreit werden, um echte Staatsbürger und Teil der türkischen Nation zu werden. Diese Erzählung von dem Stammesführern und einem feudalen System, denen die Kurd_innen unterworfen sind und aus denen sie befreit werden sollen, wurde in den ersten Jahrzehnten der Republik immer wieder verwendet, um die aktuelle Kurdenpolitik zu legitimieren. Im hegemonialen Diskurs der türkischen Geschichtsschreibung wird die Erzählung immer noch verwendet, wenn es um diese Jahrzehnte geht. Allerdings wird heutzutage die gegenwärtige Kurdenpolitik nicht mehr darüber gerechtfertigt, weil mit den sozialen Veränderungen in den kurdischen Gebieten der Türkei die Rede über Stammesführer und Scheichs keine Überzeugungskraft mehr besitzt. Eine Variante dieser Erzählung ist zu beobachten, wenn etwa der kurdischen PKK vorgeworfen wird, die Kurd_innen hinter das Licht zu führen und in Wirklichkeit eine armenische Verschwörung gegen die Türkei und die Kurd_innen zu sein – das Beispiel ist nicht ausgedacht.
Die Erzählung über die Verschwörung der fremden Feinde gegen die Türkei
Die Darstellung der kurdischen Aufstände im hegemonialen Diskurs ist neben der Zuschreibungen an die Kurd_innen zusätzlich davon gekennzeichnet, dass die kurdischen Akteur_innen zu Werkzeugen von feindlichen fremden Mächten gemacht werden. Die Kurd_innen sind also nicht nur fremd, barbarisch, nicht vertrauenswürdig und andersartig (was negativ konnotiert wird), sondern zugleich nur Objekte, die benutzt werden. Die Feindschaft der fremden Mächte wiederum wird als absolut und fast schon zeitlos gesetzt. Es ist eine Feindschaft, die schon seit Jahrhunderten existiert und von Kräften weltweit getragen wird. Die Methoden der Feinde sind heimtückisch, schwer zu erkennen und zielen darauf, die Türkei zu schwächen, zu unterminieren und schließlich zusammenbrechen zu lassen. Dazu bedienen sie sich den nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen in der Türkei. Diese Erzählung wird fortlaufend aktualisiert und reproduziert und gewinnt in Krisenzeiten zunehmend an Bedeutung – wie etwa seit dem Beginn der Afrin-Offensive am 20. Januar 2018. Auch hier dient die Erzählung von den fremden und feindlichen Mächten, die mit nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen gegen die Türkei zusammenarbeiten, der Legitimierung der eigenen Gewaltpolitik.
Aufarbeitung der Geschichte als Wegbereitung des Friedens
Der hier skizzierte Diskurs der türkischen Geschichtsschreibung mit Erzählungen über die Kurden als das „Andere“ und von der grundsätzlichen Feindschaft zu den „Anderen“ ist sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik hegemonial. Das ist allerdings nicht „nur“ ein Problem für eine adäquate wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Republik Türkei, sondern hat auch ganz handfeste Folgen für die politische und gesellschaftliche Lage in der Türkei und im Nahen und Mittleren Osten. Die Politik der Türkei, die bis heute auf die Negierung der Kurd_innen als eine Bevölkerungsgruppe mit dem Anspruch auf politische, soziale und kulturelle Autonomie setzt und sogar außerhalb der eigenen Landesgrenzen jedes Bestreben der Kurd_innen eine solche Autonomie oder gar nationale Unabhängigkeit zu erreichen als einen Angriff auf die Türkei selbst versteht, ist nicht zu trennen von diesen Erzählungen über die Türkei und der türkischen Nation. Eine friedliche und nachhaltige Lösung der sogenannten „Kurdenfrage“ ist nur durch eine adäquate und kritische Aufarbeitung der türkischen „Kurdenpolitik“ in der Vergangenheit und Gegenwart zu erreichen.
Ismail Küpeli schreibt derzeit eine Dissertation über die „Kurdenfrage” in der Türkei an der Universität zu Köln. Die Promotion wird durch ein Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert.
Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.