Von Mark Haarfeldt. Erschienen in DISS-Journal (39) 2020
„Arbeiter, Arbeiter! Wie mag es dir ergehn? Wenn die Brigade Erhardt wird einst in Waffen stehn.“, heißt es im „Kampflied“ der Marinebrigade Ehrhardt als sie am 13. März 1920 in Berlin mit anderen Freikorps einmarschierten, um die junge Republik zu stürzen. Das Lied schmetterten bereits die Angehörigen 1919 bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik. Es markiert in diesen vier Zeilen die chaotische Situation für die junge Republik, der mittlerweile mit dem Begriff „Bürgerkrieg“ eng verbunden ist und seinen Höhepunkt zwischen März und Mai 1920 hatte. Nach den Worten folgten Taten im Ruhrgebiet.
Der Zustand für die Deutsche Republik war nach dem Ende desErsten Weltkrieges und dem Abschluss des Versailler Vertrages äußert instabil. Obwohl sich eine bürgerlich-sozialdemokratische Regierung mit einer Mehrheit nach den ersten Wahlen im Januar 1919 konstituierte, waren die ökonomischen, sozialen und außenpolitischen Folgen des Krieges für die gesamte Gesellschaft spürbar. Ständig aufflackernde Krisenherde, die von der neuen Reichsregierung kaum kurzfristig zu lösen waren, prägten den politischen Alltag. Katalysiert durch die permanente Krise entstand eine starke nationalistisch-autoritäre Opposition, die seit dem Ende 1918 gegen Bestrebungen der linken Arbeiterbewegung vorging und auf die die Reichsregierung immer wieder zurückgriff. Diese paramilitärischen Verbände der Freikorps waren eine relevante militärische Größe, um Unruhen zu unterdrücken.
Auch andere soziale Gruppen sahen in der Republik kein politisches System, das ein noch stark vorhandenes hegemoniale Bewusstsein des deutschen Nationalismus verkörperte. Eine Anerkennung der Republik fand in großen Teilen der Reichswehr, des Adels, des Unternehmertums und des agrarischen Adels nicht statt, gefordert wurde eine Revision des Versailler Vertrages. Außenpolitischer Druck, so die Drohung Frankreichs, eine Revision des Kaiserreichs mit allen Mitteln zu unterbinden, sowie der Aufschwung linker und proletarischer Strömungen, die für eine Räterepublik plädierten, drängten dieses nationalistisch-autoritäre Klientel aus ihrer gesellschaftspolitischen Machtposition in die Defensive. Die Ausrufung der Republik war eine schwere Niederlage des autoritären-nationalistischen Milieus, was jedoch nicht bedeutete, dass revisionistische Pläne nicht weiter verfolgt wurden.
Ebenso quälten die Republik massive soziale Probleme, die vor allem in den Ballungsräumen sichtbar waren und zu einem erhöhten Streikaufkommen führten. Ordnete sich die Arbeiterschaft im Krieg noch der nationalistischen Doktrin, den Krieg unter allen Umständen zu gewinnen, unter, war dieser nationalistische Gehorsam mit dem Ausbruch der Aufstände in Hamburg und Kiel und später im gesamten Reich keineswegs mehr vorhanden. Die Forderungen umfassten besonders den Ausbau der soziale Sicherungssysteme, Arbeitserleichterungen und einen qualitativen Anstieg des alltäglichen Bedarfs wie Wohnungen oder Versorgung der Bevölkerung. Die Kämpfe in Berlin sowie München 1918/19, die teilweise zu neuen politischen Verhältnissen im Lokalen führten, forderten eben nicht nur mehr politische Partizipation, sondern gleichermaßen eine Verbesserung der Lebensumstände für die Arbeiterschaft. Die katastrophale wirtschaftliche Situation stellte das Wirtschaftssystem Kapitalismus grundsätzlich in Frage und generierte Alternativen, die zwischen anarchistischen Ansätzen und der kommunistischen Theorie pendelten. In diesem Spannungsverhältnis und aufgrund der militärischen Sanktionen durch den Versailler Vertrag setzte die Reichsregierung von Beginn an paramilitärische Freikorps ein, die brutal die Aufstände in München und Berlin niederschlugen. Auf der anderen Seite gelang es der Reichsregierung nicht ansatzweise, die soziale und wirtschaftliche Notsituation zu lindern. Das soziale Konfliktpotential blieb somit eine ständige Begleiterscheinung der Republik.
Der Kapp-Lüttwitz-Putsch
Dass bereits mit der Ausrufung der Republik im November 1918 sich nationalistisch-autoritäre Kräfte paramilitärisch formierten, war ein Indiz dafür, dass die Republik mit einer militanten Opposition zu rechnen hatte. Die Freikorps kämpften an verschiedenen Orten im gesamten Reich, prangerten die Unterzeichnung des Versailler Vertrages als Verrat am Vaterlande an und schwärmten weiterhin von einer europäischen Vormachtstellung des Deutschen Reiches. Die verschiedenen Freikorps und politischen Organisationen waren streng hierarchisch organisiert, nationalistisch eingestellt und hatten eine autoritäre Weltsicht, wie ein Staat organisiert werden sollte. Waren besonders in adligen Kreisen der Ruf nach der Rückkehr des Kaisers aus seinem holländischen Exil in Doorn ausgeprägt, wiesen bürgerliche Vertreter eine Restauration des Kaiserreiches von sich und forderten ein „Drittes Reich“, wie das 1923 erschienene Buch von Arthur Moeller van den Bruck hieß, in dem eine völkische Ordnung mit einer elitären Staatsorganisation aufgebaut werden sollte. Heldenepen aus dem Weltkrieg – besonders erfolgreich war die Publikation von Ernst Jünger „In Stahlgewittern“ – verklärten die Ereignisse im Ersten Weltkrieg und mystifizierten den Kampf des Deutschen Reiches gegen eine Übermacht an Feinden, in dem das deutsche Heer heldenhaft für ein „deutsches Ideal“ kämpfte. Die mannigfaltige Literatur zum Kriegsende und zur Kriegsschuld war durchdrungen von Relativismus und systemischer Kritik am Liberalismus und Kommunismus. Trotz der politischen Zersplitterung und kontroverser Gesellschaftsbilder einte das nationalistisch-autoritäre Milieu das Dogma vom „Deutschen Weg“, das bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges enorme Popularität hatte und auch in der Arbeiterschaft AnhängerInnen fand. Der Begriff „Deutsche Weg“ symbolisierte hierbei eine kategorische Abgrenzung zu anderen Gesellschaftssystemen. Der autoritäre Obrigkeitsstaat, der jedwede politische Debatte ausschloss, die militärische Durchsetzung der Gesellschaft und vor allem die politische Forderung, Deutschland müsse zumindest in Europa, wenn nicht gar global, eine führende Rolle einnehmen, überlebten das Ende des Ersten Weltkrieges. Zu Beginn des Jahres 1920 waren diese Kreise optimistisch, die Republik zu vernichten, um ihre autoritären Vorstellungen zu realisieren.
Am 13. März 1920 marschierten Freikorps in Berlin ein. Unter der Führung von Wolfgang Kapp und Walther von Lüttwitz sollte dies der Beginn einer restaurativen Welle werden, die das Reich in seinen alten Facetten wieder auf erleben lassen sollte. Die Reaktionen auf den Putsch waren überraschend. Die Reichsregierung flüchtete über Dresden nach Stuttgart, gleichzeitig riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik auf. Auch in den Behörden regte sich Widerstand. Anders als von den Putschisten erwartet, verweigerten die meisten BeamtInnen eine Zusammenarbeit, womit eine reibungslose Übernahme der Amtsgeschäfte nicht mehr möglich war. Nach drei Tagen brach der Putsch wieder zusammen. Die beiden Protagonisten flüchteten in das Exil. Kapp wurde 1922 von Schweden ausgeliefert, starb jedoch kurz vor Beginn seines Hochverratsprozesses. Lüttwitz ging nach Ungarn in das Exil und kehrte 1925 zurück, nachdem die Reichsregierung eine allgemeine Amnestie für die Putschisten von 1920 proklamierte. Die Marine-Brigade-Erhardt konnte nach Verhandlungen mit der Reichsregierung friedlich abmarschieren. Beim Abmarsch reagierte sie auf Unmutsäußerungen am Brandenburger Tor mit Gewehrschüssen in die Menge. Dabei starben 12 Menschen.
Die Lage im Ruhrgebiet
Im Ruhrgebiet fanden schon im Ersten Weltkrieg Arbeitskämpfe statt, die die katastrophale Versorgungslage und Arbeitsverhältnisse anprangerten. Der starke Organisationsgrad der drei großen Arbeiterparteien ab 1919 sowie anarchistischer Gruppen in den Stahlwerken und Zechen war eine Ausgangssituation, die zu einer hohen Beteiligung bei Arbeitskämpfen führte. Angrenzend an das besetzte Rheinland, besaß das Ruhrgebiet noch einen Sonderstatus, weswegen militärische Einheiten der Reichswehr nicht zum Einsatz gegen Unruhen kommen konnten. Organisierte und wilde Streiks prägten das Leben im Revier und waren bis zum Kapp-Lüttwitz-Putsch ein markantes Merkmal der Arbeitswelt. Die präsente Apathie gegenüber autoritären Mustern, die von Adligen und Unternehmen unterstützt wurden, waren ein weiteres wichtiges Motiv, dass der Generalstreik im Ruhrgebiet eine sehr hohe Resonanz erfuhr und eben auch Vorurteile bestätigte, die Reichsregierung arbeite mit den reaktionären Kräften zusammen. Die Entstehung der Roten Ruhrarmee Mitte März 1920 hatte somit den Anspruch, eine sozialistische Politik zu etablieren und gleichzeitig sich gegen den autoritär-nationalistischen Putsch zu schützen.
Schon zum Tag des Putsches fanden Demonstrationen im Ruhrgebiet statt. Allein in Bochum gingen 20.000 Menschen auf die Straße. Ein Tag später gab es in Elberfeld ein Treffen zwischen SPD, USPD und KPD, auf dem beschlossen wurde, weitgehende Maßnahmen gegen den Putsch zu initiieren. Die gemeinsame Erklärung zur „Erringung der politischen Macht durch die Diktatur des Proletariats“ und die Proklamation zum Generalstreik ermutigten in einzelnen Städten Arbeiterformationen, die Regierungsgewalt an sich zu ziehen. Mit der Entmachtung lokaler Behörden wie Polizei und Stadtverwaltung entstanden Vollzugsräte, die die administrativen Aufgaben übernahmen. Die Gründung der Roten Ruhrarmee sollte die Ordnung garantieren und galt gleichzeitig als Schutz vor dem möglichen Einmarsch von Freikorps.
Der Kampf um das Revier
Schon am 15. März 1920 kam es zu ersten Gefechten in Wetter an der Ruhr. Eine Abteilung des Freikorps Lichtschlag, das am Putsch von Lüttwitz und Kapp beteiligt war, marschierte auf die Stadt zu und traf auf Widerstand. Das Gefecht konnten die ArbeiterInnen gewinnen, dies aber war gleichzeitig ein Signal für die Führung der Freikorps, die Schlagkraft der Roten Ruhrarmee nicht zu unterschätzen. In den kommenden Tagen folgten weitere Gefechte in anderen Städten des Ruhrgebiets. Innerhalb von zwei Wochen konnten die meisten Städte von der Roten Ruhrarmee besetzt werden. Größere Gefechte mit lokalen Bürgerwehren, Polizeieinheiten und Freikorps fanden in Dortmund und im nördlichen Ruhrgebiet statt. In Dortmund wurden 600 Freikorps-Angehörige verhaftet. Die Rote Ruhrarmee begann danach mit dem Aufbau eigener Verwaltungsstrukturen, auch wenn der Kapp-Lüttwitz-Putsch bereits beendet war und die Reichsregierung ihre regulären Amtsgeschäfte wieder aufgenommen hatte. Eine Zentrale wurde zuerst in Hagen und später zusätzlich in Essen errichtet, um die Aktivitäten der Roten Ruhrarmee zu koordinieren, sowie die Versorgung der Bevölkerung sicher zu stellen.
Für die Reichsregierung stellte die Situation im Ruhrgebiet eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Wenngleich der Putsch von rechts glimpflich für sie verlief, konnte sich das Ruhrgebiet zum Ausgangspunkt einer größeren Erhebung entpuppen, sofern die Rote Ruhrarmee nicht gewillt war, die politische Verantwortung wieder abzugeben. Verhandlungen mit Freikorps, für die Reichsregierung in das Ruhrgebiet einzumarschieren und den Aufstand niederzuschlagen, wurden bereits geführt. In einem Ultimatum, das bis zum 30. März 1920 lief, forderte die Reichsregierung die Rote Ruhrarmee auf, ihre Aktivitäten vollständig einzustellen und die Macht wieder an die Reichsbehörden zu übergeben. Das Ultimatum hatte politische Sprengkraft, schließlich war in der Reichsregierung auch die SPD, von der Mitglieder sich auch im Ruhrgebiet an der Roten Ruhrarmee beteiligten. Dennoch blieb die Parteiführung bei der politischen Forderung, dass der Aufstand an der Ruhr sofort einzustellen sei, ansonsten würden paramilitärische Verbände in das Revier einmarschieren. Die Rote Ruhrarmee sowie die Zentralen in Hagen und Essen lehnten es ab, die Gewalt wieder in staatliche Hände zu übergeben. Mit dem Ablauf des Ultimatums der Reichsregierung marschierten somit Freikorps in das Ruhrgebiet ein, womit ein Rachefeldzug begann.
Wie 1918 und 1919 untermauerte die Reichsregierung, dass eine klare Abgrenzung zu reaktionären und nationalistisch-autoritären Kräften nicht vorhanden war. Wenngleich einige paramilitärischen Verbände von Parteimitgliedern der SPD geführt wurden, standen Intention und politische Haltung im krassen Gegensatz zur Arbeiterschaft im Ruhrgebiet. Der Führung der Roten Ruhrarmee war klar, dass hier skrupellose Einheiten vorrückten, die keinerlei Gnade gegenüber den KämpferInnen der Roten Ruhrarmee hatten. Dies war eine Erfahrung aus den ersten beiden Jahren der Republik und sollte sich wiederum im Ruhrgebiet bestätigen. Da die Rote Ruhrarmee kaum militärische Ausrüstung und taktisches Wissen im Führen von Großverbänden hatte, es waren schließlich ArbeiterInnen und keine Soldaten, war eine Niederlage fast unausweichlich. Die Kämpfe dauerten nicht lang an, so das nach wenigen Wochen das Ruhrgebiet vollkommen von den Freikorps besetzt war. Die Verfolgung von Angehörigen der Roten Ruhrarmee hielt wochenlang an und wurde bis Anfang Mai 1920 von den Freikorps durchgeführt. Standrechtliche Erschießungen, selbst von SanitäterInnen, und Folterungen, waren in manchen Städten des Ruhrgebiets alltäglich. Die Freikorps hatten hierbei freie Hand, legitimiert von der Reichsregierung. Die genaue Anzahl der Opfer lässt sich im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren. Definitiv liegt die Zahl im vierstelligen Bereich, einige ForscherInnen sprechen sogar davon, dass die Bevölkerung im Ruhrgebiet durch die Strafmaßnahmen der Freikorps fast 10.000 Opfer zu beklagen hatte.
Folgen des Ruhrkampfes
Die Niederschlagung der Bewegung im Ruhrgebiet bedeutete eine Zäsur in der kurzen Geschichte der Republik. Damit endete der Versuch einer basisdemokratischen Konstitution, die bereits im November 1918 begann und von der Reichsregierung konsequent unterbunden wurde. Der Ruhrkampf 1920 war der letzte große Versuch, zumindest regional, solche Strukturen aufzubauen. Im Nachgang sorgte er gleichermaßen für einen tiefen Riss in der linken Arbeiterschaft, der Gräben vertiefte und Misstrauen verstärkte. Dass SPD und KPD 1933 mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler nur punktuell zusammenarbeiteten, hatte durchaus Gründe, die im Zeitraum 1918-1920 lagen. Die Risse konnten selbst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges nicht gänzlich überwunden werden. Im Ruhrgebiet gab es zwar zur Zeit der Republik bis 1933 ein aktives Gedenken an die Gefallenen, doch nach 1945 verschwand das Gedenken an 1920 fast vollständig. Nur vereinzelt fanden Gedenkveranstaltungen oder Informationsabende statt. Dies sollte sich 2020 zum 100. Jahrestag ändern. Verschiedene Gruppen, Institutionen und Einzelpersonen planten vielfältige Aktionen, die ab dem März 2020 stattfinden sollten. Durch die Corona-Pandemie konnte leider keine einzige Veranstaltung durchgeführt werden. Einzig der Twitter-Account „Ruhrkampf 1920“ ließ die Ereignisse von damals noch mal einem breiteren Publikum Revue passieren. Sofern die Krise überwunden ist, sollen viele Veranstaltungen 2021 nachgeholt werden. Der Ruhrkampf gehört in das kollektive Gedächtnis des Ruhrgebiets.
Mark Haarfeldt, Dr. phil., ist Historiker und Bildungsreferent beim DGB-Bildungswerk BUND sowie Mitglied im Arbeitskreis Rechts des DISS