Rezension von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal (39) 2020
Im Vorfeld von US-Wahlen, seien sie lokal oder national, wie in wenigen Monaten bei den Präsidentschaftswahlen, gibt es für Nicht-US-Beobachter immer wieder Anlass zum Staunen: Nachrichtenredakteure und Kommentatoren überbieten sich in ihren exakten Kenntnissen der soziologischer Daten und Entwicklungen in den unzähligen Distrikten des US-Kontinents, in dem immerhin fast 320 Millionen Menschen wohnen: Die Daten auch noch der kleinsten Gemeinde werden umgewälzt und gewogen, um Wahlausgänge hochzurechnen, bzw. um jenen Distrikt zu ermitteln, der ‚wahlentscheidend‘ sein wird.
Dass dieser journalistische Breitensport nicht allein mit der Leistungsfähigkeit der US-Verwaltungen und mit demokratischem Ethos zu tun hat, zeigt Brent Tarter in seiner Untersuchung Gerrymanders: How Redistricting Has Protected Slavery, White Supremacy, and Partisan Minorities am Beispiel von Virginia. ((Ich stütze mich auf die Rezension von Tonnia L. Anderson (University of Science and Arts of Oklahoma) unter http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=54723.)) Es geht um gerrymandering – einen Begriff, der sich auf Elbridge Gerry, einen US-Gouverneur um 1812 bezieht, der seinen Wahlbezirk entsprechend der Wohnorte seiner Anhänger so zurechtschnitt, dass die groteske Form eines Salamanders herauskam.
In der Tat manifestiert sich in den USA im gerrymandering der politischen Akteure bis heute einer der offensichtlichsten Widersprüche zwischen demokratischem Ideal und machtpolitischer Wirklichkeit. Hinzu kommt, dass diese Manipulationen zugleich versuchen, bestimmte Wählergruppen von der Wahrnehmung ihres Wahlrechts abzuschrecken, sie zu behindern oder sie aufgrund fadenscheiniger Bestimmungen davon auszuschließen. Beliebt sind hier z.B. ‚Sprachtests‘, die vor allem die sozial Benachteiligten und Migranten treffen, oder die Positionierung der Wahllokale dort, wohin nur Autobesitzer kommen können.
Präsident Barak Obama wies 2016 auf die Erosions-Effekte dieser Praktiken hin, die ganze Bevölkerungsschichten entmutigen und den Reichen und Mächtigen freie Hand ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist das geringe Interesse der Forschung an gerrymandering erstaunlich, die es einerseits nicht als Breitenphänomen anerkennen will und lediglich bei Kongresswahlen hellhörig wird, und die andererseits keinen Machtmissbrauch, sondern viel Zufall am Werk sehen möchte – die also, kurz gesagt, alle Augen zudrückt.
Brent Tarter’s Untersuchung ist letztlich die erste überhaupt, die die Praktik und eine ganze Reihe ihrer Vertreter seit der Entstehungsphase bis heute in einer Fallstudie abdeckt und ins Bewusstsein rückt. In Fortsetzung einer früheren Untersuchung (Grandees of Government 2013), in der er bereits den Gründen für die Unverrückbarkeit der tiefen undemokratischen Strukturen in Virginia nachspürte, zeigt er im vorliegenden Band in zwölf kurzen Kapitels ganz konkret auf, wie sich historisch die politischen Akteure ihre Wähler beschafften, und nicht umgekehrt die Wähler ihre Vertreter wählten. Es ist keine Überraschung, dass sich dabei als Profiteure die Landbesitzer, die Sklavenbesitzer, weiße Rassisten und Interessengruppen untereinander abwechselten.
Dass die Demokraten im 20. Jahrhundert tonangebend waren, überrascht dann doch, während sich die Republikaner im 21. Jahrhundert und bis heute revanchieren. Das Ziel des gerrymandering im Blick kommt immer ausgeklügeltere Technik zum Einsatz, um Bevölkerungsdaten und Wählerverhalten in den Distrikten und sogar in den noch kleineren Verwaltungseinheiten zu ermitteln, wobei sich die Grenzen zwischen politischen und ‚Lebensstil’-Daten wohl längst verwischt haben. Daran partizipiert freilich auch der Journalismus, der auf diesem Weg mit der Lupe ganz nah an die (statistischen) Lebensbedingungen der Menschen heranrückt.
Im Vorfeld der kommenden Präsidentschaftswahl kommt nun hinzu, dass sich das US-Verfassungsgericht mit seiner konservativen, teilweise von Trump lancierten Mehrheit aus der Frage heraushält. Denkwürdig ist auch die Tatsache, dass Tarter’s Buch zu einem Zeitpunkt erscheint, da die Virginia General Assembly sich anschickt, die Wahlbezirke für die Senatswahlen und fürs Repräsentantenhaus neu zu bestimmen.
Jobst Paul ist Mitarbeiter im DISS mit den Themenschwerpunkten Diskurs-, Rassismus- und Antisiemitismusforschung
Brent Tarter
Gerrymanders
How Redistricting Has Protected Slavery, White Supremacy, and Partisan Minorities in Virginia. Charlottesville 2019: University of Virginia Press
vii + 130 pp. $19.95 (cloth)
ISBN 978-0-8139-4320-6.