Erschienen in DISS-Journal 37 (2019)
Das diesjährige Kolloquium des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (Akademie Frankenwarte, Würzburg, 22.-24. November 2019) ist der Trias von Entfremdung, Identität und Utopie gewidmet. Damit werden gesellschaftstheoretische und gesellschaftskritische Fragestellungen aufgegriffen, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Das Kolloquium thematisiert die gesellschaftlichen und diskursiven Kontexte, in denen diese Fragestellungen aufgeworfen werden, und will die theoretische und politisch-praktische Relevanz dieser kategorialen Trias überprüfen.
1.
Der Entfremdungsbegriff (bzw. ein verwandter Begriff wie Verdinglichung) hat Konjunktur. Die Debatte reflektiert zum einen das neue Interesse an der Marx-Lektüre, das seit der Jahrtausendwende Ausdruck der Krisenprozesse ist, die die kapitalistische „Welt“ durchziehen und nach Erklärungsmustern suchen lassen. In diesem Zusammenhang wird auch das Verhältnis zwischen dem „frühen“ Marx und dem Marx der „Kritik der Politischen Ökonomie“, zwischen Entfremdungskritik und der Kritik des Warenfetischismus erneut thematisiert. Zum anderen verweist der Entfremdungsdiskurs auf die individuellen Leidenserfahrungen, die den Alltag vieler Menschen bestimmen, angefangen von finanziellen Engpässen, Armut, emotionalen Verunsicherungen, Überforderungssymptomen, Entpolitisierung bis hin zu grassierender „geistigen Obdachlosigkeit“ (Kracauer). Diese Erfahrungen schlagen sich in Reaktionen nieder, die sich gegen ‚Feinde‘ aller Art, unter Umständen aber auch gegen sich selbst (Auto-aggressionen) richten oder zu Krankheit, Depression führen. Mit der neoliberalen Regulierung des Kapitalismus sind diese Leiderfahrungen vieler Menschen intensiver geworden. Die Verabsolutierung des Verwertungszwangs, der Akkumulation von Kapital und der Konkurrenz prägen die sozialen und emotionalen Verhaltensweisen der Menschen und ihre Entwicklungen.
2.
Korrespondierend zum Entfremdungsbegriff nimmt der Identitätsbegriff einen immer breiteren Raum ein in der Debatte um die Gestaltung von nichtentfremdeten Lebensverhältnissen. ‚Identität‘ (bzw. ‚kollektive Identität‘) ist zur Chiffre geworden, unter der sich unterschiedliche Gruppen formen, denen es um eine Änderung vorherrschender Lebens- und Denkweisen geht, die sich unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen herausgebildet haben. Die jeweiligen Gemeinschaftsvorstellungen, ihre Begründungen und Handlungsstrategien werden seit einigen Jahren breit und kontrovers erörtert, dies gerade auch in den Gesellschaftsbildern rechter und linker Identitätspolitik.
Für ‚die‘ Linke stellt sich vor allem die Frage, wie Identitäts- und Klassenpolitik zueinander stehen und miteinander vermittelt werden können. Dies ist insbesondere deshalb von Bedeutung, weil sich Identitätspolitik in dem Zwiespalt bewegt, Forderungen durchsetzen zu wollen, die auf konkrete und als benachteiligt verstandene Lebenslagen bezogen sind, deren Umsetzung jedoch vielfach auf systemische Grenzen trifft. Gefragt werden muss, inwieweit die mit den Kategorien ‚Klasse‘, ‚Race‘ und ‚Geschlecht‘ gemeinten gesellschaftlichen Verhältnisse nur überwunden werden können, wenn die Struktur und die Organisation kapitalistischer Gesellschaft selbst in Frage gestellt werden.
3.
Besondere Beachtung verdienen aus Gründen der Aktualität rechtspopulistische und extrem rechte Bewegungen. Auch sie operieren identitätspolitisch, indem sie das „Deutsch-Sein“ (im völkischen Sinne) und das volksgemeinschaftliche Wir zum allein bestimmenden Identitätsmerkmal erheben. Wegweisend waren seit den 1970er Jahren Autoren wie Henning Eichberg, Bernard Willms und Hans-Dietrich Sander. Von Eichberg etwa stammt der Satz, „daß die Hauptfront des zwanzigsten Jahrhunderts verläuft zwischen Identität und Entfremdung“. Und er fährt fort: „Entfremdung, das ist Kapitalismus und amerikanischer Kulturimperialismus, multinationale Konzernstrategie und ‚Folklore’ für den Markt.“ Demgegenüber steht die „Identität, das ist das Volkslied, die Kultur des Volkes, die politische Selbstverwirklichung des Volkes. Identität, das heißt: bei sich selbst zu Hause sein, die Lieder der deutschen Stimme singen, das deutsche Deutschland schaffen“ (H. Eichberg: Nationale Identität, 1978, 110). Identität ist aus dieser Sicht immer national- und volksbezogen, Entfremdung dagegen bedeutet stets Verlust des Nationalen und des „Volkhaften“.
Das im Kern völkische Denken der Neuen Rechten enthält ein Versprechen, dass die geforderte Unterordnung unter das gemeinschaftliche Wir – insofern konträr stehend sowohl zum Freiheitsversprechen des (Neo-)Liberalismus als auch zu egalitären Visionen linker Provenienz – vergolten wird durch die Stabilisierung und Stärkung singulärer Persönlichkeiten: Identitätsgewinn durch autoritäre Identifikation. Wie dem politisch zu begegnen ist, ist eine zentrale Herausforderung für die Linke in den nächsten Jahren.
4.
Joachim Fest sprach 1991 von einem „Ende des utopischen Zeitalters“, Francis Fukuyama 1989 gar vom „Ende der Geschichte“. Von diesen Ansagen, seien sie konservativer oder neoliberaler Provenienz, kann gewiss keine Rede mehr sein. Bereits ein kurzer Blick auf die von Globalisierungskritikern, Gewerkschaften und zahlreichen Initiativen (beispielsweise Aktion Mensch: „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“) geführten Debatten zeigt: Vorstellungen von einer anderen, besseren Welt haben Konjunktur.
Seit Karl Mannheim und Ernst Bloch wird Utopie nicht mehr primär als ein literarisches Genre („Staatsromane“, „soziale Utopien“), sondern als eine Denkform, als „utopisches Bewusstsein“ (Karl Mannheim) betrachtet, die es für kultur- und sozialwissenschaftliche Analysen fruchtbar zu machen gilt. Gefragt wurde danach, inwieweit sich Utopie von Ideologie unterscheiden lässt, sowie allgemein nach der sozialen Funktion von Utopien angesichts der seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmenden Bedeutung sozialer Bewegungen (z. B. Lebensreform oder Frauenbewegung) und angesichts der Ausdifferenzierung klassischer utopischer Diskurse hin zu Teildiskursen, die keine gesamtgesellschaftlichen Entwürfe mehr, sondern diverse Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in den Mittelpunkt stellen: Schul- und Bildungsutopien, Frauenutopien, ökologisch orientierte Utopien etc..Mit Blick auf das Korrespondenzverhältnis von Entfremdung und Identität wäre also erstens zu fragen, inwieweit der Begriff des Utopischen geeignet ist, im Spannungsverhältnis von Gesellschaftskritik und zukunftsgerichteter praktischer Umgestaltung der Gesellschaft eine motivierende, mobilisierende und verändernde Kraft zu entfalten. Und zweitens: Wie grenzt ein solcher Begriff ab von der neoliberalen Vision einer von allen Hemmnissen befreiten „freien Marktwirtschaft“ auf der einen und der völkischen Vision einer nationalen „Wiedergeburt“ auf der anderen Seite?
Referenten/-innen
• Marvin Chlada (Duisburg): Utopisches Denken. Anmerkungen zum Utopie-Begriff in den Sozialwissenschaften
• Stefanie Graefe (Jena): Aktuelle Konfliktlinien innerhalb der Linken. Zur falschen Entgegensetzung von Klassenpolitik und Identitätspolitik
• Peter Höhmann (Mülheim/Ruhr): Identitätspolitik. Herausbildung, Deutungsformen und kollektive Bewegung
• Wolfgang Kastrup (Duisburg): Von der Entfremdungskritik zum Fetischbegriff. Karl Marx‘ gesellschaftskritische Kategorien und ihre kontroversen Deutungen
• Helmut Kellershohn (Duisburg): „Die Hauptfront des zwanzigsten Jahrhunderts verläuft zwischen Identität und Entfremdung.“ Über rechte Entfremdungskritik und Identitätspolitik
• Andreas Kemper (Münster): Gewalt – Autonomie – Utopie
• Jutta Meyer-Siebert (Hannover): Die Bestimmung „notwendiger Arbeit“ als Kampffeld für „revolutionäre Realpolitik“?
• Marvin Müller (Münster): Neuere Entfremdungstheorien bei Rahel Jaeggi, Hartmut Rosa und Axel Honneth
• Eleonora Roldán Mendívil/Bafta Sarbo (Berlin): Klassenkampf statt Diversity-Programme
• Jörg Senf (Rom): „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen“ – Ein Plädoyer für Mehrsprachigkeit
• Lea Susemichel (Wien): Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken