von Helmut Kellershohn. Erschienen in DISS-Journal 36 (2018)
Die Ereignisse von Chemnitz sind ein Signal. Sie verweisen auf die spektren- und milieuübergreifende Mobilisierungsfähigkeit der rechtspopulistischen und extrem rechten Kräfte in diesem Lande. Sie demonstrierten den Schulterschluss zwischen ‚besorgten‘ Bürgern, Anhängern und Mitgliedern von AfD, NPD, den Republikanern, Neonazis aus der Kameradschaftszene, aus den Parteien „Die Rechte“ und „Der dritte Weg“, aus dem Kreis rechtsextremer Hooligans und der Rechtsrock- und Kampfsportszene sowie Pegida-Anhängern und Aktivisten der Identitären Bewegung. Und sie zeugten ein weiteres Mal von der Halbherzigkeit der staatlichen Organe, von der Polizeiführung bis hin zu Teilen der sächsischen Landesregierung, im Umgang mit extrem rechten Auftritten und Artikulationen.
Auf übergeordneter Ebene signalisierte die „Causa Maaßen“ nicht nur die Opposition von Teilen der Sicherheitsorgane gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, sondern auch die Gespaltenheit des Blocks an der Macht, repräsentiert durch den erneuten Konflikt zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer. Eine veritable Regierungskrise konnte nur abgewendet werden durch die Zustimmung des sozialdemokratischen Koalitionspartners zu einer überaus fragwürdigen „Mauschelei“(Göring-Eckert), der Beförderung des entlassenen Verfassungsschutzpräsidenten auf den Posten eines Staatssekretärs im Bundesinnenministerium, die dann nach einem öffentlichen Aufschrei wieder rückgängig gemacht werden musste, zugunsten eines „billigeren“ Arrangements.
Bemerkenswerterweise profitierte die AfD von den Ereignissen, zumindest in Ostdeutschland und dies trotz der Ausschreitungen und zahlreichen Übergriffe auf fremd erscheinende Menschen, Demonstrationsgegner und Polizisten, um deren Deutung als „Hetzjagden“ öffentlich gerungen wurde. Laut „Deutschlandtrend“ vom 06. September 2018 erreichte die AfD in Ostdeutschland 27 Prozent und lag damit erstmals vor der CDU (23 Prozentpunkte, Platz 2). Im gesamten Bundesgebiet verschlechterte sie sich dagegen um einen Punkt auf 16 Prozent.
Vor dem Hintergrund dieser Momentaufnahme ist das Interview des Bundesvorsitzenden der AfD, Alexander Gauland, von Interesse, in dem er gegenüber der FAZ seine Haltung zu den Ereignissen und seine Vision der weiteren Entwicklung seiner Partei unterbreitete (FAZ vom 05. September 2018). Nachdem er zuvor bereits in einem Interview mit der WELT die Ausschreitungen als ein „Ausrasten“, das „normal“ sei nach einer „solche[n] Tötungstat“, verharmlost und Verständnis für „Selbstverteidigung“ ((Die WELT hatte einen Tweet des AfD-Bundestagsabgeordneten Markus Frohnmaier zitiert: „Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. [Ganz einfach!] Heute ist es Bürgerpflicht, die todbríngende ‚Messermigration‘ zu stoppen!“ Auf die Frage, ob er diese Ansicht teile, interpretierte Gauland die Aufforderung Frohnmaiers als Aufruf zur „Selbstverteidigung“, die er von (strafbarer) „Selbstjustiz“ abgegrenzt wissen will.)) gezeigt hatte (Die Welt vom 29. August 2018), ging er nunmehr zum politischen Angriff über. Zum einen bezeichnete er die vorher so genannte „Tötungstat“ als „Mord“ ((Die „Gemeinsame Erklärung von Alexander Gauland, Jörg Meuthen, Alice Weidel, Georg Pazderski, Kay Gottschalk“ vom 03.09.2018 spricht von „Tötung“.)) Der sei eine „Folge der Merkelschen Flüchtlingspolitik“ und der „Protest von vielen Menschen“ legitim. Die AfD sei eine „urdemokratische Partei, geradezu anarchisch-demokratisch“ und habe nichts „mit verfassungsfeindlichen Organisationen oder nationalsozialistischen Ideen“ zu tun.
Zum anderen skizziert er sein Demokratieverständnis unter Bezugnahme auf die „friedliche Revolution“ von 1989. ((Die Interviewer hatten die Frage gestellt, ob man sich nicht Sorgen müsse, wenn in der AfD eine „zweite ‚friedliche Revolution‘ wie 1989 gefordert [werde], also ein Systemsturz“.)) Kern seiner Argumentation ist die Unterscheidung zwischen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FDGO) und dem „politische[n] System im Sinne des Parteiensystems“. Obwohl diese Unterscheidung hinsichtlich der Parteien im Grundgesetz keine Grundlage hat, diese vielmehr (Art. 21GG), soweit sie in „ihre[r] innere[n] Ordnung […] demokratischen Grundsätzen entsprechen“ (Abs. 1), als substanzieller Bestandteil der „freiheitliche[n] demokratische[n] Grundordnung“ (Abs. 2) deklariert werden, hält es Gauland für angebracht, „dass das politische System im Sinne des Parteiensystems geändert werden“ müsse, ja, „dass dieses politische System wegmuss“, nicht aber die FDGO. Auf die Nachfrage hin, ob eben das nicht eine Revolution sei, die die grundgesetzlich verbürgten Institutionen angreife, versucht Gauland zu präzisieren: Er sei gegen das „politische System“, gegen „die Parteien, die uns regieren“, gegen „das System Merkel“, gegen die, „die die Politik Merkels“ mittrügen – das seien „auch Leute aus anderen Parteien und leider auch aus den Medien“; die wolle er „aus der Verantwortung vertreiben“. Und das könne „man eine friedliche Revolution nennen“, sei „aber kein Umsturz der grundgesetzlich garantierten Ordnung“, die vielmehr „Ausdruck dessen [sei], was wir erreichen wollen“.
Gaulands Argumentation beruht auf einer für einen Juristen bemerkenswerten begrifflichen Unschärfe und Doppelbödigkeit. Einerseits spricht er das politische System als verfassungsrechtlich verankerter institutioneller Rahmen des Politischen (Parteiendemokratie) an, andererseits das politische System als eine bestimmte Parteienkonstellation („Altparteien“) und Regierungsweise („System Merkel“). Einerseits beruft er sich auf die FDGO als Maßstab des eigenen politischen Strebens; andererseits unterstellt er, dass die nach Maßgabe eben dieser FDGO korrekt zustande gekommene Regierungskonstellation in Wirklichkeit ein undemokratisches Regime („Merkel-Diktatorin“ ((Zit. nach FAZ vom 05.06.2016 („Gauland nennt Merkel ‚Kanzler-Diktatorin‘“). )) sei, demgegenüber die AfD als einzige „urdemokratische“ Kraft das Recht habe, dieses Regime zu „vertreiben“. Diese Vertreibungsphantasie rekurriert assoziativ auf das Vorbild und das heißt auch auf die Mittel der „friedlichen Revolution“ von 1989. Gauland bringt damit zum Ausdruck, dass der Gang zur Wahlurne bei Parlamentswahlen alleine nicht ausreicht, um dem von der AfD in ihrer populistischen Rhetorik immer wieder beschworenen ‚Volkswillen‘, den exklusiv zu vertreten man vorgibt, Geltung zu verschaffen. Die Palette reicht von „Selbstverteidigungs“-Aktionen à la Chemnitz über die Delegitimierung der (anderen) Parteien, denen die „Ausbeutung des Staates“ zum Vorwurf gemacht wird, bis hin zur Propagierung eines plebiszitär-autoritären Staates, in dem Parteien allenfalls noch eine residuale Bedeutung beigemessen wird. ((Zur „Ausbeutung des Staates“ durch die Parteien – eine Denkfigur Carl Schmitts – vgl. das AfD-Grundsatzprogramm 2016, 11; zum Konzept des plebiszitär-autoritären Staates im Grundsatzprogramm vgl. Helmut Kellershohn: Nationale Wettbewerbsstaat auf völkischer Basis, in: Ders./Wolfgang Kastrup (Hg.): Kulturkampf von rechts, Münster 2016, 24-25.)) Dieser Umbau des Staates wäre allerdings gleichbedeutend mit einer Zerstörung des institutionellen Gefüges des politischen Systems – und nicht nur eine Zerstörung des „System Merkel“. FAZ-Herausgeber Berthold Kohler, dem man keine Vorliebe für die politische Linke nachsagen kann, hat Gauland in einer Kommentierung seines Interviews den Titel eines „Brandstifter[s] im Biedermann-Sakko“ (FAZ vom 05.09.2018) verliehen. Das ist treffend.