Eine Rezension von Alexandra Graevskaia. Erschienen in DISS-Journal 33 (2017)
Was wissen wir über die Lebenssituation von Roma und Sinti in Deutschland? Nicht viel. Und das was wir wissen, ist oft durch Stereotype geprägt. Damit will der vom „Verband für interkulturelle Arbeit – VIA e.V.“ herausgegebene Sammelband brechen.
Aus einer rassismuskritischen Haltung vermitteln die Autor_innen des Bandes Informationen über die Lebenssituation von Roma und Sinti in Deutschland mit politischen, historischen, soziologischen und (sozial)-pädagogischen Perspektiven und richten sich dabei an das „fachlich interessierte[…] Publikum“ (8). Die aus diesen unterschiedlichen Perspektiven verfassten elf Beiträge haben eins gemeinsam: Sie veranschaulichen immer wieder, wie heterogen die Gruppe der Sinti und Roma ist und gleichzeitig auch, dass die Sicht auf alle von der Dominanzgesellschaft als „Zigeuner“ markierte Menschen durch eine Gemeinsamkeit – den Antiziganismus – geprägt ist. Ob am eigenen Leib erfahren oder in den familiären Erinnerungen aus dem Nationalsozialismus und der Diskriminierung danach, die einzelnen Individuen mussten jeweils einen eigenen Umgang damit finden.
Wie dies Einfluss auf die Identitätsbildung nimmt, zeigt Merfin Demir in seinem Beitrag über Empowerment-Arbeit mit Roma-Jugendlichen. Dabei betont er: Es sind in erster Linie Jugendliche und erst an zweiter Stelle Roma. Neben der sozial-pädagogischen Perspektive auf das Thema Empowerment erläutert er auch, was hinter den Bezeichnungen „Sinti_za“ und „Rom_nja“ steht und warum diese kein Synonym zum „Z-Begriff“ darstellen. Letzteres benutzt Demir als Abkürzung für die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ „um die Reproduktion der rassistischen Konstrukte, die mit dem Begriff ‚Zigeuner‘ verbunden sind, auf das Minimum zu reduzieren“ (44). Solange rassistische Konstrukte in den Köpfen existieren, ist jedoch fraglich, ob eine Abkürzung stigmatisierender Begriffe in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen zum erwünschten Ziel führt. So sehen es wohl auch andere Autor_innen des Bandes, die den „Zigeuner“-Begriff in kritischer Distanz benutzen um seine Rolle im Antiziganismus zu analysieren (vgl. u.a. 104f., 117).
In diesem Umgang spiegeln sich die unterschiedlichen Theorien und Herangehensweisen in der Antiziganismusforschung wieder – der Sammelband gibt den Leser_innen damit einen Denkanstoß sich weiter zu informieren und eine eigene Meinung zu bilden. So vielfältig die Perspektiven des Sammelbandes sind, kann er natürlich nicht alle Aspekte zum Thema Antiziganismus erfassen, jedoch bietet er durch eine Fülle an Informationen mehr als nur einen groben Überblick über die verschiedenen Blickwinkel auf Antiziganismus aus Wissenschaft und Praxis.
Die im Titel angekündigte Kontinuität des Antiziganismus setzt sich Stück für Stück bei der Lektüre der einzelnen Beiträge im Kopf der Leser_innen zusammen, wird aber auch im Beitrag von Anne Klein, die auf Erinnerungskultur und Pogromstimmung in der BRD eingeht und Linien von damals zu heute zeichnet, besonders deutlich.
In den Sammelband fließen sowohl historische Erzählungen, wie bspw. die Biographie des Boxers Johann Wilhelm „Rukeli“ Trollmann, an der die Verfolgung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus exemplarisch erläutert wird, als auch tagesaktuelle Ereignisse, wie beispielsweise die Zwangsräumungen von Wohnungen in Duisburg, durch die Roma-Kindern und -Jugendlichen die Chance auf eine Teilhabe an der Gesellschaft genommen wird, ein. Antiziganistische Stigmatisierung und Ausgrenzung in Duisburg thematisiert auch Zakaria Rahmani in seinem diskursanalytischen Beitrag über die lokale Berichterstattung, die „von rassistischen Ressentiments durchwachsen ist“ (126).
Das sprachliche Niveau der Beiträge ist nicht einheitlich. Während Jens Kortkamp die Bedeutung des Begriffs „Heimat“ bei der Ausgrenzung ethnischer Minderheiten in mit wissenschaftlichen Begriffen durchdrungener Sprache erläutert, berichtet Michael Fröhlich anschaulich in verständlicher Sprache über das Jugendprojekt „Angekommen! Roma-Jugendliche in Dortmund und Duisburg“ (AIDD). Was die Beiträge gemeinsam haben, ist die Strukturierung in kurze Unterkapitel, die das Lesen deutlich erleichtern.
Nicht nur die Inhalte, sondern auch die aufwendig gestalteten Illustrationen (vgl. http://www.bosoremsky.de/roma.html) laden dazu ein, das Buch in seine Sammlung aufzunehmen, wobei man sich über die Lesefreundlichkeit bronzefarbener Fußnoten streiten kann. Insgesamt überzeugt der Sammelband durch seine gut strukturierten und interessanten Beiträge, die leider nicht alle in dieser Rezension gewürdigt werden können. Die Stärke des Sammelbandes ist es, dass er unterschiedliche Perspektiven vereint, so dass auch diejenigen, die sich bereits mit Antiziganismus auseinander gesetzt haben, etwas neues lernen können.
Ulrich Steuten (Hg.)
Für immer „Zigeuner“
Zur Kontinuität des Antiziganismus in Deutschland
Duisburg: 2017, 159 S., 14,80 €
Alexandra Graevskaia ist Mitarbeiterin des DISS.