EU-Migration und Bettelei in Schweden
Von Cordelia Heß. Erschienen in DISS-Journal 32 (2016)
Die schwedische nationale Identität speist sich mehrheitlich nicht aus kulturellen Faktoren, sondern aus politischen: Stolz auf Demokratie, Wohlfahrtsstaat, Gleichberechtigung, Friedenseinsätze und, nicht zuletzt, humanitäre Hilfe. Die Schließung der Grenzen im Juni 2016 und die Reduktion der Asylgesetzgebung auf den europäischen Mindeststandard hätte ein Schock sein müssen – ein großer gesellschaftlicher Aufschrei aber blieb aus. Die Schließung der Grenzen durch eine rot-grüne Minderheitsregierung beendete abrupt die stetig steigenden Umfragewerte der rechtspopulistischen Sverigedemokraterna (SD) und muss als Anpassung an deren Forderungen gesehen werden: Das Land benötige eine „Atempause“ von den Geflüchteten. In einer anderen migrationspolitischen Debatte ist jedoch in der sozialdemokratischen Argumentation die Perspektive auf die Opfer deutlich präsenter, die Resultate aber ähneln ebenfalls den Forderungen der Rechtspopulisten: den Debatten um EU-Migrant*innen, die sich in Schweden von Bettelei ernähren. Hier trifft sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat-Romantik auf tief verwurzelten Rassismus und Antiziganismus.
Seit 2007, mit dem Eintritt Rumäniens und Bulgariens in die EU, prägen diese Migrant*innen den öffentlichen Raum in den schwedischen Großstädten. Viele Roma nutzten die Visafreiheit, um Armut und Diskriminierungen in den Balkanländern zu entgehen. Die gleichzeitige Finanzkrise zwang viele derjenigen, die in den Nachbarländern Südeuropas Saisonarbeit gefunden hatten, sich in die reicheren Länder im Norden zu begeben. Schweden ist noch immer ein Land mit relativ hohen wohlfahrtsstaatlichen Standards. Sichtbare Armut gibt es kaum: In der 1,5-Millionenstadt Stockholm gab es bis 2008 ungefähr 360 Obdachlose. Zum letzten Mal waren Bettler*innen dort, einige Hundert, in den 90er Jahren gesehen worden, was sofort zu einer Untersuchung durch die Kommune führte. Damals handelte es sich um Einheimische mit Drogen- oder psychischen Problemen. Dass es sofort zu politischen und sozialarbeiterischen Gegenmaßnahmen kam, zeigt wie inakzeptabel in Schweden sichtbare Armut und Obdachlosigkeit sind. Bettelei ist in der historisch tief verankerten sozialdemokratischen und protestantischen Ethik entwürdigend für die Bettelnden und nimmt ihnen die Möglichkeit, zum Gemeinwohl beizutragen – was gleichzeitig empörend für die anderen, nützlichen Mitglieder der Gesellschaft ist.
Auch 2015 wurde eine Untersuchung in Auftrag gegeben – die zu dem Ergebnis kam, die Bevölkerung aufzufordern, den Bettler*innen kein Geld mehr zu geben und stattdessen für Hilfsprojekte in Schweden und in deren Heimatländern zu spenden. Die Parallelen zur Forderung der SD, Geflüchtete in ihren Heimatländern zu unterstützen, anstatt sie in Europa aufzunehmen, ist offensichtlich, ebenso die paternalistische Idee, dass schwedische Hilfsprojekte besser für die Betroffenen sorgen könnten als diese für sich selbst.
Zahlen über diese Form der kaum registrierten Migration sind unsicher und schwer zu bekommen. Im November 2015 sollen sich etwa 4700 obdachlose EU-Migrant*innen in Schweden aufgehalten haben. Da die meisten in den Zentren von Stockholm, Göteborg und Malmö leben und dort betteln, waren die Veränderungen im Stadtbild enorm. Auch die individuellen Reaktionen sind heftig – körperliche Angriffe, Brandanschläge auf Wohnwagen und Zeltlager, Angriffe mit Macheten auf Zelte mit schlafenden Menschen, Übergießen von Personen mit Benzin. Verlässliche Zahlen gibt es darüber nicht, da vor allem die Roma wenig Vertrauen in den Staat haben und Angriffe nur selten zur Anzeige bringen. Von den angezeigten Fällen werden etwa 3% vor Gericht gebracht, obwohl es meist wegen des öffentlichen Charakters der Übergriffe gute Täter*innenbeschreibungen gibt. Dass 2013 bekannt wurde, dass die Polizei in Südschweden seit Jahren Roma, auch solche mit Aufenthaltsgenehmigung, in einem illegalen Register „zur Verbrechensverhütung“ führte, ist nur ein Schlaglicht darauf, wie in der Betteleifrage antiziganistisches Ressentiment und ein spezifisches Verständnis des Wohlfahrtsstaats zusammenkommen. Das schwedische Modell sieht nicht vor, Armut durch Bettelei zu bekämpfen – es sieht durchaus vor, die Armut von Menschen aus anderen Ländern durch Verbote unsichtbar zu machen. Armut ist insgesamt inakzeptabel – aber ein Zugang der EU-Migrant*innen zu sozialstaatlichen Leistungen, die Einheimische vor Bettelei und Obdachlosigkeit bewahren, ist ebenfalls inakzeptabel.
Mittlerweile sind ungefähr 56% der Bevölkerung dafür, Bettelei ganz zu verbieten, entweder nach dänischem Vorbild mit landesweitem Verbot und bis zu sechs Monaten Gefängnis bei der zweiten Verwarnung, oder nach norwegischem Vorbild, wo die Kommunen autonom Verbote aussprechen können. Die sozialdemokratische Regierung untersucht entsprechende Möglichkeiten.
Es gibt vereinzelte zivilgesellschaftliche Projekte, die die Roma in ihren Bedürfnissen ernster nehmen und nicht nur als Objekte staatlicher Reglementierungsbemühungen sehen, so die Gruppe HEM, die Hilfsleistungen mit Aufklärungsarbeit und kulturellem Austausch verbindet. Der schwedische Staat dagegen implementiert mittlerweile alle zur Verfügung stehenden Zwangsmaßnahmen. Die Polizei führt unter der Kampagne „Ein Bürgersteig für alle“ unter dem Vorwand, sitzende Personen machten das Vorankommen unmöglich, faktische Vertreibungen von Bettler*innen aus dem öffentlichen Raum durch. Zeltlager werden wiederholt geräumt, ohne dass den Betroffenen eine Alternative angeboten wird. Die Kinder der Migrant*innen dürfen in der Regel nicht in die Schule, um nicht weitere Familien zu ermuntern, ihre Kinder mitzubringen. Der Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen und Gesundheitssystem ist für diese EU-Bürger*innen ohne Aufenthaltsgenehmigung ebenso unmöglich wie für Geflüchtete ohne Papiere. Die Rechtspopulisten versuchen, das Thema rassistisch aufzuladen und schüren zudem Angst vor „organisierter Bettelei“ und Menschenhandel. Die Debatte und Praxis um Bettelei verdeutlichen jedoch, dass eine restriktive Migrationspolitik nicht immer eine Reaktion auf rechtspopulistische Forderungen sein muss: Auch wohlfahrtstaatlich-paternalistische Ansätze können Ursache und Argument für Entrechtung von Bettler*innen sein. Die Herkunft der Bettelnden ist nicht zwangsläufig das ausschlaggebende Merkmal – und die Rechtspopulisten sind nicht zwangsläufig die Stichwortgeber für Vertreibung und Kriminalisierung.
Cordelia Heß, Universität Göteborg, Department für historische Studien. cordelia.hess@gu.se