Englischsprachige Forschungsliteratur

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Ein Überblick von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 32 (2016)

Sklaverei und Kapitalismus

Edward E. Baptist
The Half Has Never Been Told
Slavery and the Making of American Capitalism
New York Basic Books, 2014. 498 pp. ((Ich referiere hier die wichtigsten Aspekte der Rezension von Fatjon Kaja (City College New York), online unter https://www.hnet.org/reviews/showrev.php?id=46708.))

Seit langem stellen HistorikerInnen der amerikanischen Sklaverei diese als wirtschaftlich ineffiziente Institution dar, bei der Gewinn nur ein sekundärer Anreiz war, nicht aber eine treibende, kapitalistische Kraft. Baptists Darstellung zeigt nun, wie sich der amerikanische Kapitalismus schrittweise entwickelte, wie er in alle Aspekte des amerikanischen öffentlichen Lebens eindrang und wie er insbesondere mit dem System der Sklaverei zusammenhängt.

Das Buch deckt die Spanne von 1783 bis 1861 ab, wobei in der Einführung und im Nachwort zusätzlich die Phase bis 1937 angesprochen wird. Um den Aspekt der Ausbeutung zumindest symbolisch augenfällig zu machen, hat der Autor Körperteile als Kapitelüberschriften gewählt („Feet“ / „Heads“ / „Right Hand“ / „Left Hand“ / „Tongues“ / „Breath“ / „Seed“ / „Blood“ / „Backs“ / „Arms“).

Das Buch zeigt eindrucksvoll die Verknüpfung des ökonomischen Kalküls mit Diskursen der Religion, von Männlichkeit und deren Verschränkung mit der lokalen und nationalen Politik auf. Mit Blick auf die Entwicklung der amerikanischen Ökonomie geht es dann letztlich ganz konkret um Produktionszahlen, um den Handel zwischen den US-Staaten und um die Logistik des Sklavenhandels, um das Zusammenspiel zwischen den Ökonomien der Nord- und der Südstaaten, um entlohnte und um leibeigene Sklaven, vor allem aber auch um die extreme systemische Gewalt der Sklaverei.
Nach herkömmlicher Auffassung wurden sowohl der Norden als auch der Westen von einem fortschrittlichen, an Gewinn und Wachstum orientierten Kapitalismus geleitet, während der Süden durch seine Abhängigkeit von der Sklaverei an einer feudalen, rückständigen Ökonomie festhielt, in der es wenig Raum für Gewinnkalküle und wirtschaftliche Entwicklung gab. Dies habe, so die These weiter, zum Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg geführt.

Mit anderen Worten: Die auf Sklaverei aufgebaute Ökonomie der Südstaaten sei von vornherein dem Untergang geweiht gewesen, da sie sich vom Hauptkurs der amerikanischen Wirtschaftsentwicklung entfernt habe.

Baptist zeigt nun auf überzeugende Weise, wie der unternehmerische Lohnkapitalismus im Norden und Westen und der Sklaven-Kapitalismus im Süden synergetisch zusammenspielten, wie sie sich gegenseitig beflügelten und wie sie sich selbstverständlich beide an Gewinn und Entwicklung orientierten. Die Sklaverei war danach keineswegs ein dem Untergang geweihter Verrat am amerikanischen Lehrbuchkapitalismus, sondern im Gegenteil eine wichtige Funktion innerhalb dieses Kapitalismus.

Die Falle des Binarismus

Amy L. Brandzel
Against Citizenship
The Violence of the Normative
Urbana: University of Illinois Press, 2016. 236 pp. ((Ich referiere hier die wichtigsten Aspekte der Rezension von Ilgin Yorukoglu (Borough of Manhattan Community College), online unter https://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=46908 ))

Wie können sich Kritik allgemein, engagierte Zivilgesellschaft, parteiische Kampagnen und kritische Wissenschaft in brisanten sozialen Debatten positionieren, ohne selbst in die binäre Falle der Schwarz-Weiß-Stereotypen zu gehen und am Schneeball-System der Ausgrenzungen zu partizipieren?

Anhand einer Reihe von Fallstudien deckt Brandzel’s Against Citizenship auf, wie schnell sich gerade kritische Ansätze, die aus guten Gründen Partei ergreifen, in falsche Dichotomien verstricken. Die Autorin zeigt z.B. am Begriff der Staatsbürgerschaft auf, wie dieser ein Wettrennen um Zugehörigkeit auslöst, dessen TeilnehmerInnen (in der Regel benachteiligte, diskriminierte Minderheiten, aber eben auch ihre FürsprecherInnen) stillschweigend hinnehmen, dass sie im Erfolgsfall andere Nicht-Zugehörige zurücklassen oder erst definieren. Teilweise sehen sich Minderheiten genötigt, andere als weniger benachteiligt zu definieren und Hierarchien der Benachteiligung zu vertreten, um selbst bevorzugt zu werden. Über das Prinzip der Staatsbürgerschaft können daher Bevölkerungen nach dem Motto ‚Teile und herrsche‘ kontrolliert werden.

Darüber hinaus zwingt es Minderheiten, sich selbst essenziell zu definieren – sich selbst auf Alleinstellungs-Merkmale zu reduzieren, da nur über sie im System der Staatsbürgerschaft das Szenario der Diskriminierung und damit das gleiche Recht auf Zugehörigkeit reklamiert werden kann. Dies aber bedeutet, dass das System der Staatsbürgerschaft eine intersektionelle Perspektive unterbindet – und damit Koalitionen, d.h. einen Machtzuwachs bei den generell von Ausschluss Betroffenen. Sie sind aus der Perspektive der Inhaber der Staatsbürgerschaft Bürger zweiter Klasse und werden nicht nur mit den entsprechenden Katalogen von (negativen) Eigenschaften belegt: Letztlich ist die Entscheidung über Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit mit dem Szenario des Lebenlassens oder des Sterbenlassens der Nicht-Zugehörigen notwendig verknüpft.

Brandzel bietet allerdings keine taktischen Lösungen für das Dilemma. In ihren drei Fallstudien zu “same-sex marriage law, hate crime legislation, and Native Hawaiian sovereignty and racialization” zeigt sie lediglich auf, wie Binarismus rhetorisch und propagandistisch funktioniert und dementsprechend nur über die Analyse, Offenlegung und Entzauberung dieser Prozesse bekämpft werden kann. Auch engagierte, Partei ergreifende Positionen müssen dies bedenken.

Potenzielle Pulverfässer

Stephen M. Saideman, R. William Ayres
For Kin or Country
Xenophobia, Nationalism, and War
New York: Columbia University Press, 2015
xi + 288 pp., ISBN 978-0-231-14479-7 ((Ich referiere hier die Hauptpunkte der Rezension von Anna Batta (Air War College) unter  http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=45654))

Nach dem Ende der Balkan-Kriege (1995) sah es so aus, als ob die durch Pan-Ideologien (Irredentismus) ausgelösten Konflikte zumindest in Europa an Bedeutung verloren hätten. Dementsprechend schilderten Stephen M. Saideman und R. William Ayres in der ersten Fassung ihres Buchs (2008) Russland, Ungarn und Rumänien als nicht (mehr) akute Schauplätze von Annexionspolitik. Doch Russlands Annexion der Krim (2014) und seine Ost-Ukraine-Politik waren der Anlass, erneut nach der potenziellen Dynamik von Schauplätzen zu fragen, in denen Pan-Ideologien historisch latent sind, die also auf „die Zusammenführung möglichst aller Vertreter einer bestimmten Ethnie in einen Staat mit festen Territorialgrenzen“ zielen. ((https://de.wikipedia.org/wiki/Irredentismus))

Die Autoren stoßen auf eine erschreckend lange Reihe potenzieller ‚irridentistischer‘ Kandidaten, aber auch auf die Frage, warum die einen friedlich (‚Schläfer‘) bleiben, andere in aggressive Modi geraten oder geraten sind. Die Autoren verweisen zunächst auf die beiden Weltkriege, auf die großserbische Ideologie und auf Hitlers ‚Heimholung‘ der Sudeten, um das ungeheure destruktive Potenzial solcher Konflikte zu umreißen. Als vergangene und gegenwärtige Hot-Spots gelten Kosovo, die Kaschmir-Region zwischen Indien und Pakistan und die Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan.

Nach Auffassung der Autoren ist Irredentismus grundsätzlich vom Vorhandensein vorgeschichtlicher Hass-Erzählungen abhängig, aber auch vom Kalkül führender Eliten, was ihrem Machterhalt (nicht was dem Land) mehr nützt. In aller Regel nehmen sie eine recht rationale Nutzen-Kosten-Rechnung vor, bevor sie irridentistische Konflikte lostreten. Wenn der Preis hoch sein könnte, etwa auch durch die Destabilisierung des eigenen Landes, werden sie zurückschrecken. Ebenso, wenn die Vorteile durch übernationale Allianzen (EU, Nato) viel höher sind. Wenn diese Gegengründe nicht vorliegen, werden betreffende Eliten auch gegen die Interessen ihres Landes Konflikte anzetteln.
Die Autoren illustrieren ihre Thesen anhand einer ganzen Reihe von Fallstudien, u.a. zu Kroatien, Serbien, Nagorny-Karabach, Ungarn, Rumänien, und im Fall der russischen Minderheiten in verschiedenen Ländern, die – anders als im Fall der Krim und der Ostukraine – bisher kein Interesse an der ‚Heimkehr‘ hatten. Derzeit fallen auch Ungarn und Rumänien unter die Kategorie der nicht-akuten Staaten. Als das größte Wunder betrachten die Autoren, dass die russischen Eliten den Zerfall der Sowietunion hinnahmen, ohne zu irridentistischen Strategien zu greifen. Das Buch stellt insgesamt ein neues politologisches Messinstrument bereit.

Diskurse und Gegendiskurse

Robert Vitalis
White World Order, Black Power Politics
The Birth of American International Relations. The United States in the World Series
Ithaca: Cornell University Press, 2015. 288 pp.

Robert Vitalis untersucht in den neun kompakten Kapiteln seiner Untersuchung die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der für die USA typischen akademischen  Disziplin der „American International Relations“ Er schildert das Fach als eine Mischung aus Politologie, Soziologie und als Rekrutierungsfeld für spätere Beamte oder politische Berater im Bereich der US-Außenpolitik. Für seine Untersuchung wertete Vitalis Zeitschriften, Konferenzpapiere, internationale Berichte, Lehrbücher, politische Strategiepapiere und sogar Tagebücher von Forscherkollegen zwölf US-Archive, aus.

Nach Vitalis bedeutete ‚international relations‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Begründer des Fachs schlicht ‚Rassenpolitik‘. Die Transformation des (‘wissenschaftlichen’) Rassismus des 19. Jahrhunderts in (‘wissenschaftlichen’) Imperialismus diente letztlich dem Ziel, das 20. Jahrhundert zum ‚weißen‘ Jahrhundert zu machen. Die Leitfrage für diese Forschergeneration war es vor allem, effiziente Formen der kolonialen Verwaltung zu entwickeln, dabei aber ‚Rassenkriege‘ zu verhindern, die das ‚weiße‘ Projekt bedroht hätten. Thematische Schwerpunkte waren hier atlantische Schauplätze (Kuba, Puerto Rico), die West-Indischen Inseln und der pazifische Raum (Guam, die Philippinen, Hawaii). Nach 1945, bzw. in der Ära des Kalten Kriegs, kam es zu einer massiven Stärkung dieses akademischen Arms des Imperialismus durch ein Labyrinth privater und öffentlicher Sponsoren.

Und doch gab es auch ein Zentrum des Gegendiskurses. Es fand sich in einer Kerngruppe schwarzer Howard-University-Professoren (“Howard School”), darunter W. E. B. DuBois und E. Franklin Frazier, die die imperialistische Ausrichtung von International Relations, bzw. den Konnex zwischen Rasse und US-Außenpolitik zum Thema machten. Zwar wurde die Howard School aus der reaktionären Mitte des Fachs heraus marginalisiert, u.a. über exotistische Charakterisierungen. Dennoch konnte die Howard Gruppe eine nachhaltige diskursive Gegenposition aufbauen, nicht zuletzt, indem sie den von der US-Außenpolitik betroffenen schwarzen, bzw. indigenen Bevölkerungen in der ganzen Welt eine Stimme gab, aber auch der schwarzer Minorität im eigenen Land. Howard hatte sich so, auch wenn die Mittel knapp waren, bereits bis 1969 zum machtvollen Raum für alternative Konzeptionen des Fachs entwickelt. Das Buch entfaltet die spannende Entwicklung des Konflikts und der Emanzipation der Howard School.