Die Debatten um die Silvester-Ereignisse im Kontext von Postfeminismus
Von Isolde Aigner. Erschienen im DISS-Journal 31 (2016)
Die Debatten um die Silvester-Ereignisse haben nur wenig emanzipatorisches Potential freigesetzt. Eine sich daran anschließende mögliche und notwendige Auseinandersetzung mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für Frauen gab es kaum. Stattdessen wurde der sich artikulierende Sexismus und die sexualisierte Gewalt rassistisch instrumentalisiert und ins „Außen“ verlagert, in dem sie vor allem Einwanderern und Geflüchteten, also den „Anderen“ zugeschrieben wurde. Die These dieses Artikels ist, dass die Debatten und ihre Auslassungen im Kontext einer von Postfeminismus geprägten Gesellschaft stattfinden. Im Folgenden soll dieser These nachgegangen werden. Dazu soll in einem ersten Schritt kurz skizziert werden, was unter Postfeminismus zu verstehen ist.
Postfeminismus und die Abwicklung des Feminismus
Die Soziologin Angela McRobbie legte 2010 eine Studie über die gegenwärtige Verhandlung von Feminismus im Kontext neoliberaler Entwicklungen vor. (Angela McRobbie (2010): Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. Wiesbaden: VS Verlag)) Sie zeigte auf, dass die Gesellschaft von Postfeminismus geprägt ist. Das bedeutet, dass ein neoliberaler Selbst- und Lebensentwurf propagiert wird, der sich vor allem an gebildete, junge Frauen richtet. Ehemals feministische Postulate wie ‚Ermächtigung’ und ‚Wahlfreiheit’ werden in Karriere, Planungssicherheit, Leistungsfähigkeit, selbstauferlegte Weiblichkeitsnormen und (vermeintlich) sexuelle Freiheit umgedeutet.
Zugleich wird von den Frauen eine Retraditionalisierung im ‚Privaten’ eingefordert sowie eine Dankbarkeit für von der hiesigen Gesellschaft gewährte Freiheiten, die im ‚Gegensatz’ zu der Situation von Frauen in sogenannten ‚rückständigen‘ Kulturen gesetzt werden. Gleichzeitig bleibt den Frauen jedoch eine gleichberechtigte Teilhabe an allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen verwehrt.
Postfeminismus geht insofern mit einer Abwicklung des Feminismus einher. Denn er suggeriert erstens, dass eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen bereits erreicht sei. Deshalb habe ein Feminismus, der Sozialkritik formuliert, statt nur die Verbesserung der Position von Frauen in einer ansonsten weitgehend unverändert gebliebenen sozialen Ordnung einzufordern, ausgedient. Junge Frauen sollten deshalb im Zuge ihrer erfolgreichen Lebensentwürfe auf feministische Politik verzichten. Auf diese Weise wird Feminismus und feministischen Kämpfen die Schlagkraft genommen. Zweitens geht eine solche Abwicklung des Feminismus mit Prozessen der Desartikulation einher: Für gruppenübergreifende, solidarische, politische Initiativen bestünde keine Notwendigkeit mehr, so dass hier eine „aggressive Demontage gerade jenes Bewusstseins vorangetrieben [wird], das junge Frauen dazu ermutigen würde, eine gemeinsame Stimme zu finden […]“, so Robbie. Benachteiligte Gruppen, die sich zusammenschließen könnten, rücken so weiter auseinander und machen Bündnisse und Allianzen immer unwahrscheinlicher: „So verschärft beispielsweise die Wahrnehmung junger Frauen in westlichen Kulturen als glückliche Teilhaberinnen an den sexuellen Freiheiten des Westens den Gegensatz zwischen dieser Gruppe und den Geschlechterordnungen anderer Kulturen, in denen die weibliche Sexualität spezifischen anderen Formen der Überwachung und Kontrolle unterworfen ist“.
Die Silvesterereignisse im Kontext von Postfeminismus
Während das Wissen um eine Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung in der Mehrheitsgesellschaft z.B. innerhalb der „Sexismusdebatte“ von 2013 vehement zurückgewiesen oder gar verhöhnt wurde, zeigte sich nach Silvester das Gegenteil: Eine (vermeintliche) Empörung über sexuelle Gewalt wurde verbunden mit massivem Rassismus gegen die mutmaßlichen Täter. Auf diese Weise konnte der Sexismus nach „Außen“ verlagert werden, um die Logik einer gleichberechtigten Gesellschaft aufrecht zu erhalten, die es nicht nötig hat, sich mit der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung in der eigenen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Der Ruf nach Abschiebungen und eine verschärfte Abschiebepolitik nach Silvester implizierte, dass „einheimische Frauen“ dankbar sein können, in einer Gesellschaft zu leben, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verteidigt, ohne dabei länger auf feministische Politiken angewiesen zu sein. Entsprechend wurden kaum feministische Potenziale freigesetzt: Feministisches Wissen, das die Silvester-Ereignisse in einen Zusammenhang mit Geschlechterverhältnissen betrachtet, in denen die bestehende Geschlechterhierarchie immer wieder stabilisiert wird – verbunden mit einer Entrechtung und Diskriminierung von Frauen und queeren Personen – wurde kaum rezipiert. Entsprechend gab es kaum Aufrufe zu selbstermächtigenden, feministischen Kämpfen und solidarischen, gruppenübergreifenden Bündnissen. Auch die medienwirksame, feministische Initiative Ausnahmslos gegen eine rassistische Instrumentalisierung der Silvester-Ereignisse fokussierte sich vor allem auf Maßnahmen, z.B. im Frauenberatungsbereich.
Feministische Interventionen nach Silvester
So herausfordernd diese postfeministischen Logiken sind, so zeigen sie auch auf, wie nach Silvester emanzipatorisches Potenzial freigesetzt werden kann und sollte: Notwendig ist eine offensive Intervention, bei der Sexismus und sexualisierte Gewalt – entgegen der postfeministischen Trends – politisch verortet statt individualisiert wird. Es müssen die damit verbundenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausgeleuchtet und aufgebrochen werden. Zugleich sind feministische, selbstermächtigende und gruppenübergreifende Kämpfe notwendiger denn je.
Feministische Solidarität ist dabei der wichtigste Ausgangspunkt dieser Kämpfe. In diesen Kämpfen müssen die Stimmen stark gemacht werden, die bisher wenig gehört werden, z.B. die von geflüchteten Frauen. Es sollten Strategien von Selbstermächtigung entwickelt werden, um Sexismus zurückzudrängen – anstatt dies allein dem Staat zu überlassen. Es braucht feministische Offline-Räume, um feministische Praxen zu erproben – inklusive geschützter Räume, in denen über Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung gesprochen werden kann. Um es mit den Worten der taz-Autorin Charlotte Wiedemann zu sagen, die nach den Silvester-Ereignissen riet: „Es ist nötig, einen Feminismus der Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln, mit neuen Allianzen – und mit einer Vision von Emanzipation, die über die Grenzen von Religion, Hautfarbe und Lebensstil hinweg verbindend sein könnte.“ (taz vom 23.10.2016: Auf der Kippe))
Isolde Aigner leitet die diskurswerkstatt im DISS.