Vorläufige Anmerkungen zum Fluchtdiskurs 2015/2016 in den Medien
Von Margarete Jäger, Regina Wamper und Isolde Aigner. Erschienen in DISS-Journal 31 (2016)
Seit dem Sommer 2015 untersucht die Diskurswerkstatt im DISS den medialen Fluchtdiskurs. Dabei werden vor allem die Kommentare der Frankfurter Allgemeine Zeitung, der tageszeitung, der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in die Betrachtung aufgenommen. Auch wenn damit nicht die gesamte Breite der Debatte erfasst wird, so kann der Blick auf die thematischen Schwerpunkte, die innerhalb der Kommentare vorgenommen werden, die grundsätzliche Perspektive des medialen Diskurses verdeutlichen. Im Folgenden sollen einige wenige Aspekte dieses medialen Diskurses dargestellt werden. ((Es handelt sich um Zwischenergebnisse der angesprochenen Untersuchung, die in der Diskurswerkstatt diskutiert wurden.)) Festzustellen ist, dass sich die Debatte um Migration und Flucht innerhalb weniger Monate entscheidend verengt hat.
Dass es Verschiebungen gibt, können zwei Zitate schlaglichtartig aufzeigen: Am 17.8.2015 war in der SZ zu lesen:
„Grundrechte sind nicht aus Seife; sie werden nicht durch ihren Gebrauch abgenutzt. Die Würde des Menschen steht nicht unter dem Vorbehalt, ‚es sei denn, es sind zu viele Menschen‘. Und die Probleme, die es in Fluchtländern gibt, verschwinden nicht dadurch, dass man diese Länder zu ‚sicheren Herkunftsländern‘ definiert; Probleme lassen sich nicht wegdefinieren.“ (SZ vom 17.8.2015)
Zwei Monate später lesen wir in der taz:
„Es ist linker Größenwahn, zu glauben, ein so reiches Land könne einfach mal so jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen und ihnen menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen bieten. […] In jedem Solidarsystem, das die Flüchtlingshilfe am Ende ja auch ist, sind die Kapazitäten begrenzt. Man muss über Obergrenzen streiten dürfen. […] Gäbe es in Deutschland eine Debatte über die Abschaffung des Asylrechts in der bisherigen Form und über selbst gesetzte Obergrenzen, wären die anderen EU-Länder wohl kooperationsbereiter. […] Ein Szenario: Deutschland schafft das Grundrecht für alle auf ein Asylverfahren ab, nimmt aber nach wie vor nach einem EU-Schlüssel jährlich ein sehr großes Kontingent an Flüchtlingen auf, aber eben nicht mehr alle, die herkommen. […] Ist es unmoralisch, über ein solches Szenario nachzudenken? Nein. Die Debatte über Obergrenzen muss erlaubt sein, das O-Wort darf kein Tabu mehr sein.“ (taz 9.10.2014)
Die beiden Aussagen markieren nicht nur eine zentrale Verschiebung, sie machen gleichzeitig auch deutlich, wohin die Reise geht: Es wird einer restriktiven Ausrichtung der Asyl- und Einwanderungspolitik das Wort geredet. Dabei lassen sich verschiedene Techniken ausmachen, mit denen diese Verschiebung vollzogen wurde. Eine davon war die sukzessive Differenzierung in legitime und illegitime Geflüchtete. Noch im Sommer wurde z.B. der Antiziganismus, denen Roma nicht nur auf dem Balkan ausgesetzt sind, in der SZ als ein möglicher Fluchtgrund angesehen. (SZ 17.8.2015) Im Laufe der Monate wurde dann jedoch die Gruppe der ‚echten Flüchtlinge’, die häufig als die „wirklich Schutzbedürftigen“ tituliert wurden, immer kleiner. Diese Entwicklung wurde in der taz angesprochen und kritisiert:
„Die Liste der sicheren Herkunftsländer wird […] mit Segen der Grünen immer länger. Jetzt aber sind auch die Syrer keine guten Flüchtlinge mehr. Nicht, dass sich in ihrem Herkunftsland ein Ende von Krieg und Terror abzeichnet. Es sind einfach zu viele, die nach Deutschland kommen.“ (taz 10.11.2015)
Die Verengung des Sagbarkeitsfeldes konnte sich auch deshalb vollziehen, weil die angesprochenen Debatten durch die eingesetzten Kollektivsymbole ein Bedrohungsszenario entstehen ließen, dass Deutschland insgesamt in einen Zustand von Denormalität verortete. Dies wurde unterstützt durch den Einsatz von Kollektivsymbolen, die Effekte von Unsicherheit und Angst hervorrufen (können). Es ist von Flüchtlingsströmen, von Wellen, von Lawinen, von Sturm und Flut und deren notwendige Eindämmung die Rede.
Der Einsatz solcher Symbole zeitigt nicht zu unterschätzende Effekte, weil diese Sprach- und wirklichen Bilder bestimmte Logiken vermitteln und eben auch Handlungsoptionen nahelegen. Durch die starke kollektivsymbolische Aufladung der Berichterstattung wurde eine Bedrohungssituation inszeniert, die durch permanente Prognosen, wie sich denn wohl die Willkommenskultur in der Bevölkerung entwickeln werde, ergänzt wurde. Ständig wurde die Frage danach gestellt, ob und wann die Stimmung kippt. Auch durch provokante Feststellungen wurde auf einen Stimmungsumschwung angespielt. Die FAZ konstatiert z.B. unter dem Titel: Deutschland muss Deutschland bleiben, dass eine Integration der Flüchtlinge „nur mit einem Notstandsregime zu erreichen sein (wird). Da geht es nicht um Brandschutz und Baurecht. […] Wann kommt es zu den ersten Zwangseinweisungen von Flüchtlingen? Häuser und Wohnungen können schließlich auch enteignet werden.“ (FAZ 12.9.2015)
Nach solchen Warnungen ist es nur logisch, dass in der taz am 19.10.2015 der Stimmungsumschwung in der Bevölkerung als vollzogen gemeldet und dies durchaus medienkritisch begründet wird:
„Sollten Historiker in Zukunft einmal ergründen wollen, wie die Stimmung in Deutschland in der Flüchtlingsfrage so schnell kippen und Merkel so unter Druck geraten konnte, werden sie nicht umhinkommen, sich die Rolle der meinungsbildenden Medien anzuschauen. Und dabei dürften sie zu dem Schluss kommen, dass diese den Stimmungsumschwung kräftig herbeigeschrieben haben.“ (taz 19.10.2015)
So ist festzuhalten, dass sich der Fluchtdiskurs innerhalb von wenigen Monaten auf die Politik der Großen Koalition verengt hat. Einen Beleg dafür liefert die taz vom 14.4.2016. Dort wird Angela Merkel gegenüber den Kritiker_innen des Abkommens mit der Türkei in Schutz genommen und betont:
„Es braucht kein Konzept links von der Kanzlerin […] Es reichte schon, wenn sich eine humanitär orientierte Öffentlichkeit sich (sic!) für jene Teile ihrer Politik starkmachen würde, die unterstützenswert sind.“ (taz 14.4.2016)
Die Debatte um Flucht und Migration ähnelt durchaus der in den 1990er Jahren – ebenso wie die Massivität rechter Gewalt an diese Zeit erinnert. Dennoch gibt es Unterschiede: So hören wir heute nicht nur Abschreckungsrhetoriken, sondern auch eine human gewendete Rhetorik, die durch Angela Merkel und ihre Unterstützer_innen vertreten wird. Dadurch fallen aber die erheblichen Verschärfungen des Asylrechts weitgehend aus dem Blick bzw. werden mit dem Verweis auf eine Willkommenskultur gerechtfertigt. Die Äußerung von Angela Merkel „Wir schaffen das“ und ihre menschenrechtliche Rhetorik geben der tatsächlich herrschenden restriktiven Asylpolitik einen antirassistischen bzw. humanen Anstrich. Dabei werden in der Debatte einige Themen unterbelichtet oder ganz ausgeblendet. ((Einschränkend soll hier allerdings angemerkt werden, dass in der von uns vorgenommenen Untersuchung vor allem Kommentare und Leitartikel analysiert wurden. Diese Textsorten sind nicht dazu geeignet, ausführliche Positionen zu formulieren. Diese finden sich eher in Hintergrundberichten, Reportagen und Essays. Es geht hier also nur darum, dass die Thematiken in den Kommentaren kaum angesprochen wurden.)) Selten finden sich Hinweise auf die deutsche Geschichte. Wenn auf deutsche Geschichte angesprochen wird, werden damit eher die Fluchtbewegungen und Integrationsleistungen nach dem 2. Weltkrieg oder die Flüchtlinge aus der ehemaligen DDR thematisiert.
Die Perspektive von Geflüchteten ist ebenfalls ausgesprochen unterbelichtet. Die Geflüchteten werden vorrangig unter dem Gesichtspunkt betrachtet, dass sie sich mit dem zufrieden geben sollten, was die deutsche Gesellschaft ihnen bietet.
Vor diesem Hintergrund ist es erwartbar, dass eine Kritik an institutionellen rassistischen Praktiken kaum formuliert wird. Im Gegenteil. Die kritischen Diskussionen um Residenzpflicht von Flüchtlingen, um Sachleistungen und Gutscheinsysteme für Flüchtlinge sowie racial profiling sind nahezu verstummt.
Und schließlich findet über die aktuell kriegerischen Konflikte in den Ländern der Flucht hinaus keine Analyse der Fluchtursachen statt. Am Rande werden zwar durchaus die Zerstörungen thematisiert, die durch militärische Interventionen des Westens und Waffenlieferungen entstanden sind. Es wird auch auf Armut in den Herkunftsländern verwiesen, keinesfalls aber auf die globale Ungleichverteilung von Ressourcen.
Auch die Rolle Deutschlands in vorhandenen neokolonialen Konfigurationen wird nicht diskutiert. Dort, wo nach Antworten gesucht wird, wie die Situation in den Herkunftsstaaten positiv verändert werden könne, wird auf eine vermehrte wirtschaftliche und militärische „Verantwortung“ von Deutschland verwiesen. In der SZ wird zwar die Frage aufgeworfen, welche Einwirkungsmöglichkeiten „die reiche EU auf die Afrikanische Union“ habe, „in deren Reihen Staaten regelrecht ausbluten?“ Es wird aber nicht danach gefragt, was die reiche EU mit dem „Ausbluten“ dieser Staaten zu tun hat. Neokolonialismus ist kaum ein Thema im aktuellen Flucht- und Migrationsdiskurs.
Dabei dürfte ein Slogan von Karawane und The Voice doch eigentlich auch der mediopolitischen Klasse bekannt sein. Er lautet: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.“