Ein Debattenbeitrag von Moshe Zuckermann. Erschienen in DISS-Journal 28 (2014)
Man ist irritiert: Es bricht ein Krieg zwischen Israelis und Palästinensern aus, und bald tut sich der Unmut, die Wut, der Hass auf die Israelis im Antisemitischen kund. Es fragt sich freilich, wer genau irritiert ist. Zunächst einmal die Israelis selbst, denn sie haben sich nach eigenem Verständnis doch nur gegen palästinensischen Terror gewehrt; sie meinen auch nicht, unproportional reagiert zu haben, und ohnehin hätten die Palästinenser sich selbst zuzuschreiben, was über sie hereingebrochen ist. Irritiert sind auch die Juden außerhalb Israels, die sich mit Israel solidarisieren und die israelische Rechtfertigung für die unmäßige Gewaltanwendung des jüdischen Staates gegen die Palästinenser entsprechend verinnerlicht haben; für sie ist alles, was gegen Israel geht, gegen Juden per se gerichtet, mithin also zwangsläufig antisemitisch. Irritiert sind zudem die Nichtjuden, die sich mit Israel solidarisieren; zwar sind sie nicht blind gegenüber der israelischen Gewalt, bringen aber Verständnis für sie auf oder identifizieren sich gar mit ihr, weil sie Juden mögen, Palästinenser/Araber/ Moslems hingegen umso mehr hassen zu sollen meinen.
Man mag allerdings irritiert sein über diese Irritation. Denn was genau entgeht den Israelis und den sich mit ihnen solidarisierenden Juden und Nichtjuden bei ihren Irritationen? Haben sie wirklich nicht verstanden, wie es zum diesmaligen Krieg gekommen ist? Haben sie wirklich nicht begriffen, wie ideologisch ausgerichtet die gegenwärtige israelische Regierungskoalition ist, die die letzte Gewaltrunde vom Zaun gebrochen hat? Ist ihnen nicht bewußt, wie die Gewaltverhältnisse zwischen Israelis und Palästinensern beschaffen sind; dass Israels Politik der letzten Jahre (und nicht nur dieser) dazu angelegt ist, jede noch so kleine Chance, den Konflikt zu lösen, den Friedensweg zu beschreiten, systematisch zu unterwandern; welchen Anteil Israel an der Heraufkunft der Hamas im Gazastreifen und der Paralysierung der PLO im Westjordanland hatte? Wenn schon der ehemalige israelische Premierminister Ehud Barak in einem Moment ehrlicher Einsicht zuzugeben vermochte, dass er selbst als sechzehnjähriger Palästinenser wohl Terrorist geworden wäre – was ist dann so irritierend daran, dass man mit Entsetzen, mit Wut und mit Hass darauf reagiert, daß Israels Gewaltreaktion so unmäßig ausfällt, so barbarisch ist, den Tod von so vielen palästinensischen Frauen und Kindern beim Waffengang in Kauf zu nehmen?
Nun sind freilich die allermeisten Israelis (und ihr außerisraelischer Anhang) nicht wirklich irritiert, denn ihnen ist es längst zur Selbstverständlichkeit geworden, dass alle Kritik an Israels militärischem Verhalten, alle gegen Israel gerichteten Proteste, politischen Maßnahmen und Wutreaktionen nichts anderes seine können als Resultate eines immer schon aktiven Antisemitismus. Sie stellen den Kausalnexus zwischen Israels Politik und die wütend-kritische Reaktion auf diese infrage, weil sie das a priori bestehende Ressentiment gegen Juden für die Ursache besagter Reaktion erachten und nicht etwa Israels Handlungsweise und Verhalten. Weil der Staat Israel seit seinem Bestehen den Anspruch erhebt, die Belange aller Juden in der Welt zu vertreten, und dies eben als zionistischer Staat tut, ist ihnen die Identifizierung von Judentum, Zionismus und Israel zur Gewissheit geronnen. So wollte es die zionistische Ideologie seit jeher, und so erzog sie auch nicht nur die Staatsbürger Israels, sondern auch die sogenannten diasporischen Juden, die zwar nicht in Israel leben, aber (zumindest in der Vergangenheit) Gewissensbisse darob entwickelten. Es gehört zu den Lebenslügen vieler außerhalb Israels lebender Juden, sich mit Israel abstrakt zu solidarisieren, und zwar blindlings, ohne dass sie an den realen Geschicken Israels teilzunehmen gedenken. Und weil sie Judentum, Zionismus und Israel gleichsetzen, leiten sie davon auch die negative Gleichsetzung von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik ab. Besonders verwunderlich ist, dass diese ideologische Indoktrination auch bei vielen Nichtjuden die Blüten falschen Bewusstseins gezeitigt hat. Viele Deutsche etwa erweisen sich als unfähig, die Kategorien auseinanderzuhalten: Weil sie von der Schuld des von Deutschen an Juden Verbrochenen angetrieben sind, meinen sie, sich auch mit dem zionistischen Israel, welches sie (wie viele Juden) als logisches Resultat der Menschheitskatatrophe ansehen, solidarisieren zu sollen, und zwar unabhängig davon, wie sich Israel im Konflikt mit den Palästinensern gebärdet.
Anzuvisieren sind allerdings auch die israelfeindlichen Reaktionen, die der Krieg mit den Palästinensern diesen Sommer gezeitigt hat. Es ist davon auszugehen, dass viele der Proteste sich gegen Israels Politik und Militäraktionen gerichtet haben – mit nicht geringer Berechtigung, wie sogleich hinzugefügt sei –, ohne sich gegen Juden oder den Zionismus per se zu richten. Aber es ist auch unabweisbar, dass sich in diese anti-israelischen Demonstrationen antisemitische Elemente integriert haben, die entweder von einem bereits bestehenden Antisemitismus angeregt waren oder in einen solchen umkippten, je massiver Nachrichten und entsetzliche Bilder aus dem Gazastreifen die Medien überschwemmten (wobei auch diese wohl von einem durch die Ereignisse angerührten latenten antisemitischen Ressentiment herrührten). Gemeinhin ist die politische Klasse Israels sehr zufrieden mit derlei Antisemitismen; man braucht sie, um jegliche Kritik an der Politik des zionistischen Staates abzuschmettern. Das darf sogar als ein Grundzug des Zionismus seit jeher gelten: Er wollte den Antisemitismus nie bekämpfen, weil er ihn als reale Motivation für die Auswanderung der Diaspora-Juden aus ihren Heimatländern nach Israel ansah. Antisemitische Ereignisse waren ihm instrumentell stets willkommen; nichts besseres konnte ihm in propagandistischer Hinsicht widerfahren. Bekannt ist Ariel Sharons Spruch vor etwa zehn Jahren, daß jegliche aus Europa kommende Kritik gegen Israel antisemitisch sei; sie mache auch klar, wie es zum Holocaust kommen konnte. Von selbst versteht sich, dass dieses apodiktische Diktum im Zusammenhang mit dem Lebenswerk Sharons zu sehen ist, der monströsen Siedlungsaktivität, die er im Westjordanland initiiert, gefördert und politisch dirigiert hat, welche heute als zentraler Faktor bei der Entstehung der fatalen Sackgassensituation im israelisch-palästinensischen Konflikt und seiner Lösung gelten darf.
Und doch kann nicht übersehen werden, dass die antisemitische Protesthaltung gegen Israel sich derselben Matrix bedient, die auch vielen Israelis und ihrer ideologischen Anhängerschaft zupasskommt. Sie unterscheidet eben nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel und tobt sich am “Jüdischen” aus, wo es weder um Juden noch um den Zionismus zu gehen hätte, ja nicht einmal grundsätzlich um Israel, sondern um seine friedensfeindliche Politik und seine barbarische Militäraktivität. Ob der Antisemit fähig ist, diese kategoriale Unterscheidung zu vollziehen, bleibe hier unerörtert; er hörte auf, Antisemit zu sein, wenn er dies zu bewerkstelligen vermöchte. Als solcher, als Antisemit, ist er zu überführen und unerbittlich zu bekämpfen. Man hüte sich gleichwohl, daraus ein über jegliche Israelkritik verhängtes Tabu zu extrapolieren. Ein solches wäre nichts als ideologische Perpetuierung der Antisemitismus-Falle, vor allem aber muß sich ein solches Tabu um Israels eigene Zukunft willen strikt verbieten.
Moshe Zuckermann ist Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv.