Versuch einer dispositivanalytischen Betrachtung
Von Anton Meier, veröffentlicht im DISS-Journal 26 (2013)
Die Frage nach Gestaltungsräumen einer Demokratisierung geht immer mit der Frage einher, welche Widerstände einem solchen Projekt begegnen. Es geht also nicht nur um den Raum von Möglichkeiten, sondern zugleich um Grenzen, die überschritten oder zumindest verschoben werden müssen.
Diese Grenzen betreffen vielfältige Bereiche des Lebens. Sie tauchen in unterschiedlichen – sprachlich diskursiven und nicht-sprachlich diskursiven –Praktiken auf. Immer sind sie dabei Teil eines Gesamtdiskurses, der wiederum in einen Zusammenhang von heterogenen Elementen eingebettet ist, die in bestimmten Verhältnissen zueinander stehen und in denen sich Wissen in unterschiedlichen Formen zur Geltung bringt. Die Verbindung zwischen diesen Elementen lässt sich als Dispositiv auffassen. Mit Blick auf Macht- und Herrschaftsbedingungen, die sich in den aktuellen kapitalistischen Verhältnissen entfalten, lässt sich von einem neoliberalen Dispositiv sprechen. ((Unter Neoliberalismus wird hier eine „neue“ und umfassende Entwicklung des Kapitalismus verstanden, die sich nicht nur in ökonomischen, sondern auch philosophischen, juristischen, politikwissenschaftlichen, soziologischen und historischen Bereichen findet (vgl. Ptak 2008, 26). Ein alternativer Begriff zum Neoliberalismus ist der des Finanzmarktkapitalismus (vgl. Dörre 2009).))
Dieses neoliberale Dispositiv gilt es zu analysieren, um Blockaden einer Demokratisierung aufzuweisen. Doch wie ist in Anbetracht der komplexen strategischen Situation, die das genannte Dispositiv entwickelt, eine Analyse möglich? Um diese Frage zu beantworten, wird im Folgenden ein Beispiel herangezogen. Es kann zeigen, dass mit Bezug auf die theoretischen Ausführungen von Michel Foucault die Komplexität des Gegenstandes reduzierbar und für eine Analyse handhabbar gemacht werden kann.
Ausgangspunkt ist eine im Mai 2013 herausgegebene 3000fach aufgelegte Ratgeber-Broschüre des Jobcenters Pinneberg ((Vgl. Jobcenter Kreis Pinneberg 2013, www.jobcenter-kreis-pinneberg.de. [5.11.2013])). Der Inhalt dieser Broschüre kann grob als Handlungsanweisung für BezieherInnen von Arbeitslosengeld II beschrieben werden. Es finden sich darin Tipps für ein sparsameres Verhalten im Alltag. So ist etwa die Rede davon, bestimmte Lebensmittel eher zu konsumieren als andere; oder vorhandene Ressourcen, die bisher nicht entdeckt wurden, zu nutzen. Beispielsweise wird der Zielgruppe nahegelegt, ihre alten und nicht mehr verwendeten Möbel im Internet zu verkaufen. Desweiteren enthält die Broschüre Ratschläge, mit deren Hilfe der Wiedereinstieg in den Beruf gelingen soll. In diesem Kontext finden sich etwa Hinweise zum erwünschten Verhalten und Aussehen beim Bewerbungsgespräch: „gepflegte Haare und eine frische Rasur“.
Der anvisierte Adressatenkreis der Broschüre sind EmpfängerInnen von Sozialleistungen. Ihre tatsächliche Wirkung entfaltet das Dokument aber auch in anderen Bereichen, z.B. in den Medien. So wird die Schrift z.B. in der Süddeutschen Zeitung ((Vgl. Artikel von Thomas Öchsner, SZ online 18.07.2013.)) oder auch in der BILD ((Vgl. Artikel von Dirk Hoeren, BZ online 18.07.2013.)) beachtet. Die Kommentierung der Ratschläge lässt sich zum Teil als skeptisch und skandalisierend, zum Teil ironisierend beschreiben. Die Kritik, die sich darin äußert, bezieht sich aber nicht auf die Ermächtigung des Jobcenters, das Verhalten bestimmter Menschen zu regulieren, sondern allein auf die Intensität der Anweisungen. Die Abgrenzung der Arbeitslosengeld-II-BezieherInnen von der „normalen“ Bevölkerung wird unkritisch übernommen. Mehr noch wird diese Grenzziehung verstärkt, indem beispielsweise von der „Hartz-IV-Welt“ ((Artikel von Thomas Öchsner, SZ online 18.07.2013.)), in der sich die betreffenden Personen befinden, die Rede ist.
Es liegt also ein Dokument vor, das von staatlicher Seite verfasst ist ((Hierbei ist anzumerken, dass die betreffenden Einrichtungen sowohl vom Bund als auch kommunal verwaltet werden.)) und mit dem das Handeln eines bestimmten Personenkreises beeinflusst werden soll. Die Personen sollen sich verändern, um ihr ökonomisches Potential effizienter nutzen zu können. Es ist naheliegend, dass die Erfüllung der Ratschläge nicht nur auf das Wissen und Handeln der angesprochenen Personen abzielt, sondern auch auf eine Kosteneinsparung des Jobcenters. Die Resonanz auf diese Broschüre in nicht unbedeutenden Medien markiert dabei einen wichtigen Punkt der Analyse, auf den noch zurückzukommen ist. Zwar tritt die Resonanz medial auf, ist durch ihre breite Wirkung aber an die Öffentlichkeit rückgekoppelt.
Stellt man die Broschüre in den Kontext des neoliberalen Dispositivs, so kann ihre Analyse einen wichtigen Beitrag leisten. In diesem Zusammenhang stellt das Dokument ein Diskursfragment im Rahmen einer Dispositivanalyse dar.
Es ist davon auszugehen, dass die Macht des neoliberalen Dispositivs sich an verschiedenen Orten der aktuellen gesellschaftlichen Situation auffinden lässt. Im Anschluss an Foucaults theoretischen Ansatz beinhaltet das Dispositiv eine Strategie mit bestimmten Zielen und Absichten ((Vgl. Foucault 1978, 120ff.)). Die Machtausübung an den jeweiligen Orten kommt aber ohne einen Urheber oder Erfinder aus ((Die Machtausübung kann aber vom Staat, von Institutionen oder Personen instrumentalisiert werden.)). Insofern steckt hinter der Strategie ein anonymes Kalkül.
Die strategische Situation lässt sich als ein Netz begreifen, das verschiedene Elemente, die Punkte der Machtausübung darstellen, miteinander verbindet. In jedem dieser Punkte gibt es eine Machtbeziehung. Im Falle von Herrschaft sind die Machtbeziehungen blockiert, sodass die Verhältnisse durch die Individuen nur bedingt veränderbar sind. Die Gestaltung der Elemente wird zusätzlich dadurch erschwert, dass Herrschaft nicht (nur) durch Zwang oder Gewalt funktioniert, sondern im Prozess der Subjektbildung auch ins Bewusstsein der Individuen einfließt.
Festzuhalten ist, dass ein Dispositiv in der Regel eine anonyme Kraft entfaltet. Vor diesem Hintergrund sind Praktiken der Wissensproduktion und Handlungsregulierung durch staatliche Institutionen (wie ein Jobcenter) zwar an einen bestimmten Urheber gebunden. Dabei wird aber lediglich eine Kraft instrumentalisiert, die zuvor bereits existierte. Die Anonymität der Kraft stellt auf den ersten Blick ein Problem für die Analyse dar. Das Problem lässt sich aber lösen. Wenn nämlich die Kraft in Form einer hegemonialen Macht wirkt, wie im Falle des neoliberalen Dispositivs, ist die Wirkung, die sie an einer Stelle entwickelt, repräsentativ für das ganze Netz. Anders ausgedrückt, genügt bei der Analyse das Eintauchen an einer Stelle, um die Gegebenheiten an anderen Punkten zu ermitteln.
Von Bedeutung ist auch ein weiterer Aspekt, auf den Foucault hinweist. Das Dispositiv führt zu zwei Prozessen, die aufeinander bezogen sind: Die Einwirkung der Macht einerseits und die Reaktion auf die Machteinwirkung andererseits. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von „funktionaler Überdeterminierung“ und „Readjustierung“. ((Vgl. Foucault 1978, 121.)) Die Kraft des Dispositivs bewirkt eine bestimmte sozio-historische Konstellation der Gesellschaft. Gleichzeitig ist die entstehende Konstellation instabil, weil die Veränderung „Lücken“, bzw. neuen Handlungsbedarf hervorbringt. Dieser Handlungsbedarf lässt erneut ein Dispositiv entstehen, das seine Kraft entfaltet und in sämtliche Machtbeziehungen einfließt. In diesem Kontext ist eine Dispositivanalyse nicht nur auf die Wirkung der Macht fokussiert, sondern auch auf den Notstand, auf den das Dispositiv antwortet. Foucault zeigt, dass Notstände im Verlauf der Geschichte immer wieder auftauchen: Eine solche Notstandssituation „hat zum Beispiel die Resorption einer freigesetzten Volksmasse sein können, die einer Gesellschaft mit einer Ökonomie merkantilistischen Typs lästig erscheinen musste: es hat da einen strategischen Imperativ gegeben, der die Matrix für ein Dispositiv ergab, […]“ ((Foucault 1978, 120.)).
Auch die angesprochene Broschüre kann als Antwort auf einen Notstand verstanden werden. Es liegt nahe, dass mit ihr freigewordene Lücken der Verwertbarkeit geschlossen werden sollen. Zu fragen ist, worin diese Lücken aktuell bestehen. Hier kommt beispielsweise das „unternehmerische Selbst“ ins Spiel. Es lässt einen Handlungsdruck beim Subjekt entstehen, sich selbst ökonomisch besser zu verwerten ((Die Wiederauffüllung der Lücken, wie im Falle des unternehmerischen Selbst, kann auch als neue Landnahme im Sinne der ursprünglichen Akkumulation nach Marx verstanden werden (vgl. Dörre 2009, 67).)). Der Mensch als “Selbstunternehmer“ ist dabei nicht frei von fremden Handlungsdirektiven. Wie etwa die Analyse von Ratgeberliteratur zeigt, ist ein wichtiges Ziel der Selbststeuerung, in bestimmten Aspekten Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Personen zu erlangen. ((Vgl. Spilker 2010, 75ff.)) Gesundheit, Aussehen, Persönlichkeit oder auch soziale Kontakte – all dies steht auf dem Prüfstand der Verwertbarkeit. Eine Marktorientierung ist in diesem Kontext nicht zu übersehen. Die vermeintlich freie Entscheidungsfindung ist auf die Erfordernisse des Marktes ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund ist die umfassende und eindringliche Wirkung des Dispositivs zu betonen.
Im Sinne des genannten Notstands entsteht Handlungsdruck in verschiedenen Situationen, bzw. in den einzelnen Elementen des Dispositivs. Die Entladung des Druckes bzw. das Wiederauffüllen der Lücken erfolgt mitunter durch staatliche Institutionen, die einen Teil der Elemente im beschriebenen Netz darstellen. Im Falle des Jobcenters wird der Handlungsdruck beispielsweise mit Hilfe der genannten Broschüre umgesetzt. Dabei erfolgt im Wirkungsfeld ein gewisses “zu viel“ des Krafteinsatzes, bzw. die Überdeterminierung des Wirkungsfeldes. Der mediale Nachklang auf die Broschüre zeigt diesen “Bruch“ deutlich an. Für die Dispositivanalyse ist die genannte Resonanz von Bedeutung. Denn die hegemoniale Macht lässt sich an der Stelle, auf die sich die Resonanz bezieht, bzw. wo der Bruch auftaucht, untersuchen. Und hier ist die Analyse der Medien von großer Bedeutung, weil sich in den Medien der Diskurs auffinden lässt, der das Wissen der Einzelnen und der Bevölkerung strukturiert.
Diese Strukturierung erfolgt in Wechselwirkung mit der Regulierung des Verhaltens. Eine Analyse der Wissensproduktion lässt also auch Aussagen über die damit verbundene Verhaltensregulierung zu. Insofern ist die Diskursanalyse ein wichtiger Bestandteil der Dispositivanalyse. In diesem Kontext liefern Schriftstücke, wie die genannte Broschüre, wichtige Anknüpfungspunkte zur Untersuchung des hegemonialen Diskurses. So kann etwa die systematische Ausgrenzung von Menschen, die mit Hilfe bestimmter sprachlicher Mittel erfolgt, aufgedeckt werden. Zu betonen ist, dass das einzelne Dispositivelement aufgrund seiner Repräsentativität bedeutsam ist.
Neben der Diskursanalyse bieten sich aber noch weitere Aspekte für die Untersuchung der Wirkungen des neoliberalen Dispositivs. Im Falle des Jobcenters ist es z.B. möglich, auch Verhalten und Gegenstände, die diskursiv erzeugt werden, zu untersuchen. Von Interesse wäre in diesem Zusammenhang beispielsweise die Art der Bearbeitung der “Fälle“ im Jobcenter ((So zum Beispiel die Gespräche und Handlungen der “KundInnen“ mit den SachbearbeiterInnen vor Ort.)). Dabei ist neben methodischer Vielseitigkeit auch der Bezug zu anderen Wissenschaften hilfreich ((Vgl. Jäger 2012, 75.)). Angesichts der komplexen Genese des neoliberalen Dispositivs dürfte es kaum möglich sein, eine Analyse vorzunehmen, ohne etwa auf Wissen der Geschichtswissenschaft oder der Ökonomie zurückzugreifen. So ergibt sich insgesamt ein analytischer Blick für das hegemoniale Wirkungsnetz und dessen Effekt im einzelnen Dispositivelement. Bereits die Untersuchung der Wirkungen im Element ist als kritisch zu verstehen, da die Konstruktion von Wahrheiten aufgedeckt wird ((Vgl. Jäger 2012, 151.)).
Hinter der Analyse verbirgt sich aber ein weiteres kritisches Moment: Wie bereits dargestellt, verursachen die Machteffekte dort, wo sie auftreten, eine Intensität, die mit Ungereimtheiten und Widersprüchen einhergeht. Es dürfte unstrittig sein, dass angesichts der geringen Ressourcen, der Isoliertheit und der Orientierungslosigkeit, in der sich viele Menschen befinden, die zur ökonomischen Verwertbarkeit angespornt werden, eine gewisse Ohnmacht herrscht. Diese Ohnmacht zu überwinden, setzt voraus, dass Zusammenhänge erkannt werden und dass das Wirkungsgeflecht von Institutionen, politischen Entscheidungen, Diskursen, Gesetzen, Aussagen und anderen Elementen in seiner Komplexität reduziert wird. Vor diesem Hintergrund kann die wissenschaftliche Arbeit eine wichtige Funktion erfüllen. Die verantwortungsvolle Aufgabe einer (Kritischen) Wissenschaft liegt darin, als Vermittlerin zu dienen ((Vgl. dazu auch den Artikel von Siegfried Jäger https://www.diss-duisburg.de/2013/11/vom-nutzen-kritischer-wissenschaft-fuer-demokratische-politik/.)) und einen Prozess zu unterstützen, in dem Ohnmacht durch ein Bewusstsein über die herrschenden Verhältnisse überwunden wird und sich schließlich in wirksame Macht und Widerstand verwandeln kann. So werden letztendlich die Gestaltungsräume für eine Demokratisierung der Gesellschaft wahrnehmbar und damit auch erweiterbar.
Literatur
BILD v. 18.7.2013: http://www.bild.de/politik/inland/hartz-4/sollen-besser-sparen-31386480.bild.html [31.10.2013].
Dörre, Klaus 2009: Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus. In: Dörre, Klaus; Lessenich, Stephan; Rosa, Hartmut: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 21-86.
Foucault, Michel 1978: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve.
Jäger, Siegfried 2012: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. 6., vollständig überarbeitete Auflage, Münster: Unrast.
Jobcenter Kreis Pinneberg 2013: www.jobcenter-kreis-pinneberg.de/index.php/service/aktuelles/item/download/109_960b0517167661cd41286d8b4c2653df [31.10.2013]
Ptak, Ralf 2008: Grundlagen des Neoliberalismus. In: Butterwegge, Christoph; Lösch, Bettina; Ptak, Ralf: Kritik des Neoliberalismus. Wiesbaden: VS Verlag, 13-86.
Spilker, Niels 2010: Die Regierung der Prekarität. Zur neoliberalen Konzeption unsicherer Arbeitsverhältnisse. Münster: Unrast.
SZ-online vom 18.7.2013: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/spartipps-fuer-hartz-iv-empfaenger-gehen-sie-nie-hungrig-einkaufen-1.1724883 [31.10.2013]