Ein Kommentar von Urich Brieler, veröffentlicht im DISS-Journal 26 (2013)
Die herrschaftliche Anforderung an das zeitgenössische Subjekt ist unüberhörbar: „Was tun“ ist das Gebot der Epoche. Dieser Aktivitätsappell erzeugt eine ameisenhafte Betriebsamkeit – und eine elefantöse Müdigkeit. Denn unter dem Imperativ der fortwährenden Hyperaktivität hat sich längst ein Mit-dem-Strom-schwimmen eingestellt. Der Akteur wird zum braven Mitspieler, der untertänigst die Pflichtlektionen erledigt, die man ihm abverlangt. Doch der neoliberalen Anrufung kann niemand entgehen: Immer ist das Subjekt unterwegs, ohne jemals anzukommen, ein lebenslanger Arbeitseinsatz.
Das 20. Jahrhundert kannte zwei beherrschende Charakterformationen. Der autoritäre Charakter der Frankfurter Schule war ein Früchtchen der Disziplinar- und Fabrikgesellschaft. Konventionell bis in die Knochen, unterwürfig gegenüber jeder Herrschaft, rigide gegen sich selbst, aggressiv gegen die anderen, destruktiv und zynisch dem Schwachen gegenüber, bildete dieser Charakter das passende Seelenkostüm einer Gesellschaft des Mangels und der Konkurrenz. Er garantierte Arbeitseifer, Gefolgschaft und Mitläufertum.
Der narzisstische Charakter, wie ihn Christopher Lasch beschrieben hat, bildete die Antithese des Autoritären. Aber unter dem Deckmantel eines bejahenden Selbstbezuges zeigten sich bereits Züge einer starken Verunsicherung des Subjekts. Beziehungsunfähigkeit, innere Leere und Angst vor der Endlichkeit bestimmten ihn. Im sozialen Kern war der narzisstische Charakter ein Kind des Konsumismus und einer Frühform der Gesellschaft des Spektakels, geboren im „goldenen Zeitalter“ der nationalstaatlichen Kapitalismen. All das ist heute fini, d.h. es geht anders weiter.
Der neoliberale Charakter ist der legitime Erbe dieser Vorfahren, wie er gleichzeitig neuen systemischen Anforderungen erwächst. Ja, deutlicher als seine Vorgänger, spricht er von der gesellschaftlichen Total-Prägung der Subjektivität. Wo man vor kurzem noch idealistischen Flausen eines kulturellen Eigensinns und einer Autonomie der Lebenswelten lauschte, ertönt heute der harte Ruf nach Siegern im Wettbewerb, nach Eliten im Weltmarktfight.
Der neoliberale Charakter meldet seine Dringlichkeit da an, wo die hochtechnologische Produktionsweise einen Menschentypus fordert, der die eigene Verwertung autonom organisiert. Der Kern dieser Subjektivität ist die Selbst-Fixierung als Ware. Man soll es selbst tun, und es geht ums ganze Selbst. War vor nicht so langer Zeit die Behauptung: „Der Kerl verkauft sich ja!“, ein Vorwurf erster Güte, so fragt man heute: „Warum verkaufst Du Dich nicht richtig?“ Der Wettlauf zur Warenförmigkeit ist das erklärte Programm des neoliberalen Charakters.
Heute darf bei Strafe der Sofortächtung niemand mehr immobil, unflexibel, aglobal, desinteressiert sein. Man muss stets zur Verfügung stehen und gleichzeitig das Bewusstsein dieser universellen Verfügbarkeit besitzen. Vom „Motivationstrainer“ über den „Money-Coach“, vom „Typenbildner“ über den „Entspannungstechniker“, vom „Medienberater“ über den „Kommunikationsexperten“, von der „Lizenz zum Lächeln“ über die „Selbststeuerungs-Werkstätten“ der Psychoindustrie: Von überall her erklingt die Aufforderung an den neoliberalen Menschen: Du bist nichts, wenn Du nichts aus Dir machst! Kein Fetzen Leben darf sich der Verwertbarkeit entziehen.
Zudem gilt: Jeder muss für sich allein stehen, jeder ist sich selbst der nächste, jeder muss das Bewusstsein dieser Konkurrenz-Isolation als Tugend vermarkten. Der neoliberale Charakter besitzt daher im eigentlichen Sinne keine soziale Dimension, es sei denn eine a-soziale. Denn er ist allein und muss es sein. Er repräsentiert das verlassene Subjekt einer universellen Konkurrenzgesellschaft. Keine Eintracht freier Menschen, sondern Zwietracht entfesselter Gegner. Während man die Messen der Toleranz und der Freundlichkeit singt, steht jeder Gewehr bei Fuß. Das ständige Auf – der – Hut – sein biegt die äußere Unsicherheit ins Verhaltenstechnische. Gefahr droht allerorten. Die Versicherung gegen das Prekäre verleiht dem neoliberalen Charakter einen antisozialen Grundzug: Jeder kann dein Gegner sein. Wenn alles Emphatische gelöscht, wenn jeder dem anderen der Deubel ist, erst dann ist die Utopie der Konkurrenzgesellschaft vollendet. Der neoliberale Charakter arbeitet daran.
Von dem Vorstandsvorsitzenden eines großen Unternehmens hörte man die Empfehlung, 10 % der leistungsschwächsten Mitarbeiter per anno zu entlassen. Das Spartanische der Menschenauslese hat dieser Philanthrop jedenfalls besser verstanden als die allgegenwärtigen Orthopäden der Moral.
Der neoliberale Charakter existiert als ein System von Spaltungen im Subjekt. Er lebt im Widerspruch, existiert als Versuch, das Nicht-Integrierbare zu leben: Sei mobil, aber kümmere dich um Familie und Gemeinwesen, sei teamfähig, aber denke an dein Vorwärtskommen, konsumiere, bis die Schwarte kracht, aber sorge für das Alter vor, misstraue dem Staat, aber gehorche seinen Gesetzen, verachte das Alte, aber schätze die Traditionen, erlerne die Tugenden, aber brich die Regeln, vertraue dem Markt, aber akzeptiere seine Unberechenbarkeit, plane weitsichtig, aber riskiere stets alles. Wer diesen kategorischen Imperativen gehorcht, lebt prekär.
Wenn etwas ständig beschworen wird, ist Gefahr im Verzug. Niemals wurde so viel vom Subjekt gesprochen wie im Zeitalter seiner massenhaften Aufhebung. Der neoliberale Charakter ist die zeitgenössische Verfallsfigur der bürgerlichen Subjektivität. In einer Geschichte der Verdinglichung wäre er deren jüngste Erfindung.
Einstmals war der Kern bürgerlicher Subjektivität die Kraft der Welt zu widerstehen. Tatsächliche Autonomie behauptete sich gegen systemische Ansprüche, Zweifel und Skepsis waren die Begegnungsformen dem Zustand der Dinge gegenüber. Der neoliberale Charakter höhlt diese Eigenart aus. Oder wie eine Wirtschaftspsychologin meinte: „Wichtig ist zunächst, dass Sie das, was geschieht, so akzeptieren können, wie es ist.“ Niemals käme dem so Geformten die Frage in den Sinn, ob das alles in Ordnung ist. Das Ensemble der neoliberalen Technologien der Menschenführung löscht das aufgeklärte Subjekt schlicht auf. Was das Leben sein soll, wird durch Lifestyle-Magazine, Managementknigges und Anleitungen zum Glücklich-Sein diktiert, aber vor allem und allem als Grundlage dienend durch die alltägliche Einreihung ins Unvermeidliche einer käuflichen Existenz.
Was Adorno für das Kapitalunternehmen behauptete, dass das Risiko des Konkurses das moralische Gütesiegel des Profits ausstellt, hat sich ins Wesen des bürgerlichen Subjekts verlagert. Die allgegenwärtige Angst vor dem Scheitern rechtfertigt seine Einfassung ins Gegebene. Die neue systemische Subjektivität kennt nichts Anderes mehr. Autonome Entfremdung ist der Grundzug der Zeit. Der neoliberale Charakter wird uns noch viel Freude bereiten.
Prof. Dr. Ulrich Brieler lehrt an der Universität Leipzig.