Duisburg im „Strudel“ des Nationalsozialismus

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Diskurstheoretische Überlegungen.
Ein Artikel von Robin Heun, erschienen im DISS-Journal 25 (2013).

 

Der Nationalsozialismus eine Naturkatastrophe?

Auf unterschiedliche Art und Weise wird man im öffentlichen Raum mit der Geschichte des Nationalsozialismus (NS) konfrontiert (Denkmäler, Stolpersteine, Informationstafeln). In Duisburg befinden sich zum Beispiel auf der ersten Plattform der U-und Straßenbahnhaltestelle „König-Heinrich-Platz“ 24 bunte an der Wand befestigte Informationstafeln, die stichpunktartig Ereignisse und Eckdaten der Duisburger Stadtgeschichte – vom Frühmittelalter bis zum Jahr 1986 – anführen. Sechs dieser Tafeln beschäftigen sich mit der NS-Zeit und ihren Folgen, zwei davon mit der jüdischen Verfolgungsgeschichte und vier mit den Auswirkungen des Luftkrieges und dem städtischen Wiederaufbau. Die Formulierungen auf diesen Tafeln legen ein beredtes Zeugnis darüber ab, wie der/die Autor_in dieses Kapitel der Stadtgeschichte einordnet. So leitet die erste Infotafel den Themenkomplex folgendermaßen ein:

„Wie ganz Deutschland geriet auch Duisburg in den Strudel der NS-Zeit“

Der Nationalsozialismus wird als ein Strudel beschrieben, in dem die Stadt Duisburg „wie ganz Deutschland“ hineingeraten sei. Mit dem Kollektivsymbol des Strudels wird die NS-Geschichte vereinfacht und als eine Naturgewalt (um)gedeutet. ((Es gehört zu den Eigenschaften von Kollektivsymbolen, dass sie von allen Gesellschaftsmitgliedern gedeutet und verstanden werden. Zu den Funktionen von Kollektivsymbolik vgl. Jäger/Zimmermann, 70-71.)) Es wird suggeriert, dass der NS nicht durch menschliches Handeln entstanden und sein Ursprung dementsprechend in der außergesellschaftlichen Natur zu verorten sei, womit der NS letztlich als ein Naturphänomen externalisiert wird. Die Stadt Duisburg nimmt in diesem Akt der vermeintlichen Naturkatastrophe eine passive Opferrolle ein. Die Anmerkung, dass Duisburg „wie ganz Deutschland“ in den Strudel der NS-Zeit geriet, unterstreicht zudem die vermeintliche Hilflosigkeit der Stadt gegenüber diesem „Strudel“. ((Der Zustand der „Normalität“ wurde also von außen angegriffen. Die eigene Verantwortung kann durch die erzwungene Passivität ausgeblendet werden.))

Damit wird zum einen unterschlagen, dass die Stadt Duisburg nicht am 30. Januar 1933 vom NS urplötzlich „überrascht“ worden ist ((1929 waren z.B. in allen Kommunalparlamenten Abgeordnete der NSDAP vertreten. Vgl. Barbian/ Kraume/ Praetorius, (Hg.) 2009, 23.)) und zum anderen, dass es – trotz der gewaltsamen Unterdrückung des politischen Widerstands – bis Ende 1935 sozialdemokratische und kommunistische Widerstandsgruppen gab, dessen AktivistInnen von den Mitarbeitern der Polizei, Gestapo, SA, SS und des Justizapparates verfolgt, verurteilt, gefoltert und zum Teil ermordet wurden. ((Vgl. Ebd., 34))

Nachkriegsdiskurs aktualisiert

Dieses Deutungsangebot steht stellvertretend für einen Diskurs, der bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit bespielt wurde, indem der NS mit einer Naturkatastrophe verglichen wurde, die über Deutschland hereingebrochen sei, ohne dass die Deutschen sich dagegen hätten wehren können. (Vgl. Elvert 2002, 87.) 1946 erschien mit Friedrich Meineckes Buch „Die deutsche Katastrophe“ eine der ersten NS-Erklärungsversuche eines deutschen Historikers. „Die Natur-Implikation des Begriffes ‚Katastrophe‘, seine gedankliche Nähe zum Passiven, zum Ausgeliefert-Sein und zur Sphäre von Sturm, Erdbeben oder Überschwemmung wurde von Meinecke und anderen immer wieder aktualisiert“. (Berg 2003, 65)

Die Deutung des NS als eine Naturgewalt ist kein Einzelfall. Im Jahr 2005 gestaltete eine Theatergruppe im Kölner NS-Dokumentationszentrum unter dem Titel „Im Strudel des Nationalsozialismus“ szenische Collagen zur rheinländischen NS-Geschichte. Nicht selten werden der NS und der Neonazismus in Medienberichten als „brauner Sumpf“ umschrieben. Sehr häufig ist auch vom „Ausbruch“ des zweiten Weltkriegs die Rede. Neben der Verwendung der Naturgewalt-Metaphorik lassen sich oftmals auch biologistische Deutungsangebote („brauner Virus“) konstatieren. Für die Analyse und Interpretation des NS und des Neonazismus sind solche Natur- und Krankheitsvergleiche nicht hilfreich, da sie erheblich zur Strukturierung von Diskursen beitragen, welche die gesellschaftlichen Ursachen und die politische Ideengeschichte des NS verschleiern und in eine außergesellschaftliche Sphäre entsorgen.

Zurück zu den Infotafeln…

Nach der einleitenden ‚Strudelgeschichte‘ geht es auf der ersten Tafel wie folgt weiter:

„Vier Duisburger Gewerkschafter wurden 1933 ermordet; 1938 gingen die Synagogen und jüdischen Gebetshäuser in Flammen auf.“

An dieser Formulierung fällt zunächst auf, dass es sich um Passivkonstruktionen handelt. Die historischen Akteure, also die Täter, bleiben unsichtbar – es gibt nur Opfer. Mit Hinblick auf den Novemberpogrom erscheint diese Formulierung besonders skurril, da nicht deutlich wird, weshalb die Synagogen und Gebetshäuser eigentlich „in Flammen aufgingen“. Für die Leserschaft wäre es vielleicht interessant zu wissen, dass erstens der Antisemitismus die handlungsleitende Ideologie des staatlich organisierten Pogroms bildete und zweitens die Brandstifter überwiegend in Zivil gekleidete SA-Männer waren, und die Duisburger Feuerwehr die Brände planmäßig nicht löschte, und die Polizei vorschriftlich/absichtlich nicht nach den Pogromisten ermittelte. ((Zum Novemberpogrom vgl. Heun 2011.)) Stattessen wird von dem/der Autor_in der Textbausteine vorausgesetzt, dass die Leser_innen wissen, dass ‚die Nazis‘,– und somit auch Duisburger Bürger_innen – für die genannten Verbrechen mitverantwortlich sind.

Farbgestaltung und Polysemie

Beachtet man die Textbausteine der einzelnen Infotafeln, dann wird deutlich, dass die Tafeln eigentlich von oben nach unten gelesen werden sollten. Dies ergibt sich zum einen aus der chronologischen Darstellung (Jahreszahlen) und zu anderen aus solchen Textbausteinen, die tafelübergreifend gestaltet sind. Andererseits ist die Farbgestaltung der Tafeln so konzipiert, dass die gleichfarbigen Tafeln intuitiv als leseleitende Sinnabschnitte erscheinen.

Im Hinblick auf die beiden unteren weißen Tafeln (siehe Foto), die sich dadurch von den oberen beiden gelben Tafeln abgrenzen, ergibt sich aus dem folgenden Textbaustein eine besonders bizarre Lesart.

„Viele jüdische Bürger flüchteten ins Ausland; wer blieb wurde ab 1941 in die Konzentrationslager verschleppt, viele wurden ermordet, die jüdische Gemeinde – wie schon einmal 1349 geschehen – ausgelöscht. [Beginn der zweiten Tafel] Auch die Bevölkerung erlitt im Krieg hohe Verluste. Ein großer Teil verließ die Stadt. Die Einwohnerzahl sank von 433.530 auf 141.000. Am 13.4. war schließlich der Krieg für Duisburg zu Ende.“

Diese Lesart wird aber nicht nur durch die farbliche Markierung nahegelegt. Das einleitende Adverb „auch“ stellt einen Bezug zur Verfolgungsgeschichte der Juden her. Das Leid der Bevölkerung wird somit praktisch der Verfolgungsgeschichte der jüdischen Gemeinde gegenübergestellt und die Duisburger Jüdinnen und Juden außerdem von „der Bevölkerung“ – wie im NS-Staat geschehen – exkludiert. ((Ferner erfährt man nichts darüber, warum „schließlich der Krieg für Duisburg zu Ende
war“. Wurde der Krieg gewonnen, wurde er verloren oder befreiten amerikanische Truppen die Stadt von der NS-Diktatur?)) Wenn man die Tafeln allerdings von oben nach unten liest (siehe Bild) dann steht das „auch“, also das Leid der Bevölkerung, nur noch in Relation zu den rein materiellen Zerstörungen des Luftkriegs.

Insgesamt zeigt diese (diskurstheoretische) Analyse, dass durch den Einsatz der Naturgewalt-Metaphorik (Kollektivsymbolik) bestimmte Deutungen des Nationalsozialismus vorgenommen werden und dieser quasi zum Naturereignis stilisiert wird. Zum anderen wurde deutlich, dass durch die Farbgestaltung der Infotafeln sich verschiedene Lesarten auftun, die bei den Rezipient_innen im günstigsten Fall zu Irritationen führen.

Natürlich ist die Gestaltung solcher Infotafeln mit Blick auf die knapp bemessene Zeichenanzahl für Historiker_innen eine schwierige Herausforderung.

Gerade deshalb aber sollten sie aber sehr sorgfältig darauf achten, nicht in diskursive Fallstricke zu geraten, mit denen die möglichen Mythen der Vergangenheit reproduziert werden.

 

Literatur:

Barbian, Jan-Pieter / Kraume, Georg Hans/ Praetorius, Sigurd (Hg.) 2009: Nationalsozialismus in Duisburg 1920 – 1945. Eine Einführung mit Bibliografie und Fotografien der Zeit, Essen: Klartext

Berg, Nicolas 2003: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker: Erforschung und Erinnerung. Göttingen: Wallstein, S. 65.

Elvert, Jürgen 2002: Geschichtswissenschat. Zur Forschungslage, in: Hausmann, Frank-Rutger (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaten im Dritten Reich 1933 – 1945, München: Oldenbourg: 87-95.

Heun, Robin 2011: Der Novemberpogrom 1938 in Duisburg, in: DISS-Journal 22 (2011), 23-25

Jäger, Siegfried / Zimmermann, Jens 2010: Lexikon Kritische Diskursanalyse. Eine Werkzeugkiste, Münster: Edition DISS im Unrast-Verlag