Der Aufstand der „social non-movements“

  • Lesedauer:10 min Lesezeit

 … und der gesellschaftlichen Linken gegen die Sparpolitik. Erste Bemerkungen zu den griechischen Wahlen von Vassilis S. Tsianos, Dimitris Parsanoglou & Pavlos Hatzopoulos. ((Übersetzung aus dem Englischen von Jobst Paul)) Erschienen in DISS-Journal 23 (2012), 24-25

Die Radikalisierung der griechischen Gesellschaft geht weit über die formelle soziale und politische Dynamik hinaus, die im Zusammenhang der zwei Runden der griechischen Parlamentswahlen (am 6. Mai und am 17. Juni) die zentrale politische Arena erfasst hat. In vieler Hinsicht werden die Wahlergebnisse durch soziale Kräfte und Antagonismen überschattet, die die vorhandene parlamentarische Politik immer weiter an ihre Grenzen bringen.

Der Versuch, die Wahlkampagne von diesen Antagonismen freizuhalten, ist wohl der letzte Atemzug des alten politischen Systems. Der Versuch war zwar erfolgreich, aber nur im Hinblick auf eine kurzzeitige Eindämmung der Stimmenverluste, doch es erscheint unmöglich, dass sich letztere noch viel länger hinauszögern lassen. In beiden Wahlen gab es keine einzige politische Partei, die sich in ihrem Programm auf die Seite des EU-Memorandums stellte – abgesehen von einigen neo-liberalen Splitterparteien, die praktisch von Medien und korporativen Vereinigungen finanziert werden und von denen keine die Schwelle von 3 % der Stimmen erreichen konnte, um Abgeordnete zu bestimmen. Alle Parteien des alten Establishments haben sich auf die Seite einer ‚Neuverhandlung des Memorandums‘ geschlagen, um die Politik Syrizas zu neutralisieren, der das Memorandum für ungültig erklären lassen will.

Das Dilemma der WählerInnen war, zwischen ‚verantwortungsbewußten multilateralen Verhandlungen‘ mit unseren europäischen Partnern und einer Politik des Alleingangs zu wählen, die – nach Meinung des Anti-Syriza-Blocks – Griechenlands Euromitgliedschaft automatisch gefährden würde, und all dies innerhalb des diskursiven Rahmens, dass das Memorandum keinen nachhaltigen Bestand habe. Entlang dieser Linien haben die herrschenden Parteien eine Strategie der Re-Nationalisierung verfolgt, wobei sie die nationale Einheit beschworen, um „das Memorandum zu verändern, so gut wir können“, und Syriza als Hindernis für die Wiederherstellung dieser nationalen Einheit verurteilten.

Dementsprechend finden sich in der gemeinsamen politischen Abmachung der drei Parteien Nea Dimokratia, PASOK, und der demokratischen Linken, die die neue Koalitionsregierung bilden, praktisch keine Verweise auf die Umsetzung von Maßnahmen des Memorandums. Der Text der Abmachung liest sich vielmehr, als wäre es das Mandat der neuen Regierung, einfach einige der vorhandenen Sparmaßnahmen außer Vollzug zu setzen (wie z.B. die Abschaffung von Tarifverhandlungen, die Kürzungen der niedrigen Pensionen, und so weiter), gepaart mit einigen allgemeinen Kommentaren zur Wirtschaftsentwicklung und der Reform des öffentlichen Sektors.

Das Primat der sozialen Kämpfe

Sogar der Teilerfolg von Syriza bei den Wahlen spiegelt die Radikalisierung des sozialen Widerstands gegen die Sparpolitik noch nicht völlig. Der Anspruch von Syriza, das Memorandum sei unabhängig vom Ergebnis der Wahl vom 17. Juni ungültig, kann auch verstanden werden als eine Art von kritischem Eingeständnis über die eigene sekundäre Rolle und als Anerkennung des Primats der sozialen Kämpfe (außerhalb der offiziellen Politik).

Die Politik der Ungültigkeitserklärung des Memorandums steht für die Krise, wenn nicht sogar für den Zusammenbruch jeglicher repräsentativer Politik, von den Gewerkschaften hin zu politischen Organisationen und Parteien. Der soziale Angriff auf die Sparpolitik basiert auf einer von der gesellschaftlichen Basis ausgehenden Umformung des Widerstands, und zwar durch Werkzeuge und Handlungen, die asymmetrisch zur repräsentativen Politik stehen: direkte demokratische Verfahren, nicht-hierarchische und nicht-dauerhafte Strukturen, Vielfalt, und am wichtigsten: die Geschwindigkeit des Agierens.

Diese ephemere, aber direkte Antwort auf Herausforderungen gründet im täglichen Leben,  sowohl was ‚große‘, als auch, was die ‚kleinen‘ Probleme betrifft. Von der Antwort auf die Erschießung des 16-jährigen Schülers Alexis Grigoropoulos im Dezember 2008 durch die Polizei, bis hin zu den massiven Demonstrationen gegen die Sparmaßnahmen, von der Organisation und dem Zusammenschluss von Nachbarschaftsinitiativen, um Nahrungsmittel und Medikamente für arme Nachbarn zu sammeln und zu verteilen, bis hin zur Wiedermontage des Stromanschlusses für Leute, die die fällige Einkommensteuer nicht bezahlen konnten, die mit der Stromrechnung bezahlt wird. Besetzungen, die Befreiung von öffentlichen Räumen, die Bewegungen innerhalb der Quartiere, die lokalen Nachbarschaft-Treffen sind nur einige der vielfachen Formen der neuen ‘untergründigen’ Formen der neuen gesellschaftlichen Linken.  Der Soziologe Asef Bayat spricht im Zusammenhang der mediterranen Aufstände vom spektakulären Aufkommen der „social non-movements“, die sich nach und nach die Straße erobern. Die „non-movements“ sind auch in Griechenland während der letzten Jahre kaum wahrnehmbar und leise vorgedrungen und haben „passive Netzwerke“ gebildet, die durch die kommunikative Präsenz und beharrliche Wiederaneignung der öffentlichen Plätze und Straßen die Machtlosigkeit der öffentlichen Ordnung deutlich machen.

In einer fast karnevalesken Versammlung von Syriza, auf der auch Slavoj Zizek und Alexis Tsipras sprachen, forderte Costas Douzinas Syriza in einem feierlichen Ton auf, anzuerkennen, dass sie der „Bewegung der Quartiere“ verpflichtet sei. „Die Menschen, die die Quartiere Griechenlands besetzt halten“, fuhr er fort, „werden am 17. Juni zu einem Volk werden, dessen Stimme Syriza zur Regierung bringen wird“. Selbst wenn wir diese Bemerkung – und die Euphorie, die sie in der Versammlung auslöste,  zumindest im Hinblick auf die postoperaistische Durchdringung der Rhetorik und des Politikverständnisses Syriza’s ernst nehmen, zielt die weise Botschaft bzw. gutgemeinte Warnung Douzinas auf mehr als auf eine ephemere, kurze Transformation: Die Menge soll sich am 17. zum Volk zusammentun und sich dann sofort wieder auflösen in ihre vorherige Vielheit.

Der politische Erfolg von Syriza basiert auf genau dieser Tatsache, dass Syriza diese Vielheit nicht repräsentieren konnte und dies auch gar nicht versucht hat, eine Vielheit, die während der letzten Jahre so beharrlich und so intensiv in den öffentlichen Raum eingedrungen ist. In den meisten Kämpfen, die vorgekommen sind, konnten die Kader von Syriza, wie die der meisten anderen organisierten Kräfte der Linken – abgesehen von der national-bolschewistischen kommunistischen Partei KKE, die beständig ihrem eigenen einsamen Pfad folgt – gar nicht anders, als einigermaßen diskret aufzutreten und nicht zu versuchen, irgendeine Hegemonie über die Bewegungen anzustreben. Auch wenn heimische und internationale, politische und wirtschaftliche Eliten und Medien versucht haben, Syriza als Vertreter der ‘gefährlichen politischen Klassen’ und des kommenden Aufstandes darzustellen – in der Praxis werden die Widerstände und Interventionen weit außerhalb der repräsentativen Politik bzw. oft gegen deren symbolische und normative Ordnung und ihre pazifizierende Parteienkultur organisiert.

Die extreme Rechte

Die Radikalisierung der griechischen Gesellschaft geht in mehrere Richtungen – sie betrifft nicht nur Linke und Anarchist_innen, sondern auch Nationalist_innen und Rassist_innen. Das wird anschaulich durch den Aufstieg der Neonazi-Partei ‘Goldene Morgendämmerung’, die in den Wahlen vom Mai und Juni 7 % der Stimmen erhalten hat.

Das neonazistische extreme Rechte etablierte sich zunächst auf lokaler Ebene, bevor sie auf nationaler Ebene ins Blickfeld trat, wobei sie auf eine Politik baute, die Ordnung wieder herzustellen, d.h. die Arbeit zu tun, die der Staat oder die Eliten” nach der Revolte im Dezember 2008 nicht getan hätten.

Nach und nach hat der Neofaschismus Aghios Panteleimonas erobert, ein Stadtviertel, das ein Paradox darstellt, in dem Sinn, dass es ein historisches Arbeiter-Wohnquartier ist, wo soziale Probleme wie Rauschgift und Kriminalität usw. viel weniger akut sind als in anderen Gebieten. Und dennoch ist das Viertel zum Symbol für die „Rückeroberung/Wiederbesetzung unserer Städte“ geworden, um einen Ausdruck zu verwenden, der wiederholt vom neuen Premierminister verwendet wird, dem alle EU-Regierungen während der Wahlkampagne so große Zuneigung entgegen gebracht haben.

Abgesehen vom Slogan „den Platz vom Dreck befreien“ („Για να ξεβρωμίσει ο τόπος“, ein Slogan der ‚Goldenen Morgendämmerung‘), haben die Neofaschisten in anderen Bezirken versucht, alternative informelle Sozial-Dienste und Strukturen für diese Dienstleistungen einzurichten, wobei sie gezielt, medienbewusst und durch lokale Polizeieinheiten geduldet an das allgemeine Gefühl der urbanen Unsicherheit anknüpften: Sie begleiten alte Damen, wenn diese Geld an den Geldautomaten abheben, sie mischen sich ein in Kindergärten von Migranten, vertreiben Migranten aus von diesen besetzten Gebäuden und – natürlich – attackieren farbige Leute in den Straßen und in der U-Bahn.

Das war manchmal erfolgreich, wie im Bereich des Attiki-Platzes, und manchmal erfolglos, wie im Bereich des Amerikis-Platzes, wo sie von Anarchist_innen aus Lela Karagianni vertrieben wurden, einer der ältesten Besetzungen, die in der Nähe des Platzes existiert. Sie waren auch erfolglos in dem autonom geleiteten Park von Kyprou und an der Patission-Straße, der von den Einwohner_innen Anfang 2009 gegen die Pläne des Bürgermeisters geschaffen wurde, die Bäume zu fällen und einen Parkplatz zu bauen.

Wir gehen auf die von rechtsextremen Gruppen verwendeten Methoden ein, um auf eine qualitative Verschiebung hinzuweisen, die die Bekämpfung des Rassismus noch schwieriger macht. Gewöhnlich tummeln sich rassistische und nationalistische politische Akteure im Feld des Ideologischen, wobei sie versuchen, mit Politiken der Angst und mit einem mit Hass verbundenen Stolz der Leute zu spielen. Das Hauptschlachtfeld der neofaschistischen Politik ist das der Ideologie, wobei es das Hauptziel ist, ihren Diskurs an die Strukturen eines allgemein verbreiteten Gefühls anzukoppeln.

In Griechenland ist das genau Entgegengesetzte geschehen. Die ideologische Legitimation des Rassismus kam nach der räumlichen Verankerung/Befestigung durch Alltagspraktiken, durch eine systematische Ausbreitung dessen, was Gilles Deleuze und Felix Guattari ‚Mikrofaschismus‘ genannt haben. Tatsächlich wurde die ideologische Legitimation der neonazistischen Agenda erst möglich, als die Regierung, d.h. besonders zwei Minister, in einen bereits polarisierten öffentlichen Diskurs hinein intervenierten, indem sie eineinhalb Monate vor den Mai-Wahlen – gegen die „hygienische Bombe, die Einwanderer und besonders die migrantischen Sex-Arbeiterinnen darstellen“ – die Einrichtung von 30 Jugendstrafanstalten im ganzen Land und ‚Nulltoleranz‘-Maßnahmen ankündigten.

Nach dem Ergebnis der ersten Runde der griechischen Wahlen (am 6. Mai) wurde klar, dass die zweite Runde die bisher am meisten ‚europäisierte‘, nationale Wahl werden würde. Die Europäisierung der Wahl am 17. Juni hat die Grenzen der Politik der internationalen Solidarität veranschaulicht. Wir wollen nicht zu viel auf die ‚Politik der Angst‘ eingehen, die mit diesem Prozess von Europäisierung viel zu tun hat. Denn sie wurde von den wichtigsten Medien als ‚Nachricht‘ und von militanten Medien in der Form der Kritik eingehämmert, wobei man weitergab, europäische politische und ökonomische Eliten wollten in den Wahlkampf eingreifen, um – koste es, was es wolle – einen Wahlsieg von Syriza zu verhindern.

Am Tag nach den Maiwahlen, als die Gespräche für eine Regierungsbildung  zusammengebrachen, stellte Alexis Tsipras fest, die neuen Wahlen könnten zum kritischen Auslöser einer ‚Europäisierung von unten‘ werden, wobei er behauptete, die Neuwahlen könnten die Bühne für einen sozialen pan-europäischen Angriff gegen die Sparpolitik werden. Unverzüglich unterfütterte er diese Behauptungen, indem er nach Paris und Berlin reiste und einen Brief an die Europäische Kommission schickte, in dem er seine Auffassung darlegte.

Was die griechischen Wahlen betrifft, wurde der Ruf nach ‚Europäisierung von unten‘ gegen die Sparpolitik in ziemlich formalistischer Weise umgesetzt. Es gab formelle Sitzungen, die stattfanden (Tsipras-Mélenchon) oder die verweigert wurden (Tsipras-Oland). Es gab einige Solidaritätsadressen für Syriza durch andere linke, europäische Parteien aus ganz Europa. Und eine eindrucksvolle Mobilmachung von Aktivisten – hauptsächlich von radikalen Intellektuellen-Netzwerken in ganz Europa, die ihre Solidarität und Unterstützung ausdrückten und die vielleicht das Bedürfnis unterstrichen, die Ausbildung transnationaler Netzwerke und Mobilisierungen zu stärken. Es ist jedoch klar, dass all dies noch kein konstitutiver Baustein zum Aufbau einer solchen Bewegung war.

Immerhin ist Tsipras’ Vorstoß wegen seiner inneren Widersprüchlichkeit wertvoll. Er wirft das Problem auf, wie man die sich konstituierenden Bewegungen lokal, regional und national, bis hin zur ‘Europäisierung von unten’, außerhalb des Horizonts der repräsentativen Politik der oligarchischen Demokratien der EU organisiert.