Bioethik, Alltag und Macht im Internet. Rezension von Dorothee Obermann-Jeschke. Erschienen in DISS-Journal 18 (2009)
Wie denken die Leute auf der Straße u. a. über Klone, Gentests und Behinderung? Diesem „Alltagswissen“ in der bioethischen Diskussion eine Öffentlichkeit zu geben, ist das Ziel des von der „Aktion Mensch“ koordinierten Internetforums „1000 Fragen zur Bioethik“.
In der vorliegenden Studie „Das Wissen der Leute“ werten Anne Waldschmidt, Anne Klein und Miguel Tamayo Korte die Beiträge dieses Internetforums quantitativ und qualitativ aus. Dabei berücksichtigen sie besonders partizipationstheoretische und wissenssoziologische Aspekte. Um das umfangreiche Corpus auswerten zu können, entwickelt das Forschungsteam einen innovativen Methoden-Mix aus Qualitativer Inhaltsanalyse, grounded theory und der Interdiskurstheorie Jürgen Links. In der Vielfalt von Beiträgen expliziert es eine spezifische Diskursordnung: Im Forum haben die Beteiligten im Gegensatz zu den Spezialdiskursen der Fachwissenschaften die Möglichkeit, ihr subjektives Erfahrungswissen einzubringen. Durch diese Wissensformen werden andere Muster in der Diskursstruktur hervorgebracht als die Verwendung von Spezialwissen. Im Internetforum nehmen „Betroffene“ und „Experten“ jeweils legitime Sprecherpositionen ein, die sich in der jeweiligen Wissensform diametral gegenüberstehen. Auch wenn sie die gleichen Themen und Begrifflichkeiten verwenden, bestehen zwischen ihnen Unterschiede in der Konstruktion von Gegenständen und Subjektivitäten.
Die Forscherinnen kommen zu dem Ergebnis, dass sich im Forum eher Moralisierungen und weniger Pragmatismus finden lassen. Exemplarisch weisen sie in der Rede über Klone, Behinderung und Selbstbestimmung diskursive Grenzverschiebungen nach. Mit der Diskursfigur des „behinderten Kindes“ dominiert beispielsweise in der Rede über Behinderung ein mitleidiger, sozial distanzierender Blick. Die nachgewiesene Tendenz zur Infantilisierung spricht dafür, dass der behindertenpolitische Paradigmenwechsel, der in der Umbenennung von „Aktion Sorgenkind“ zu „Aktion Mensch“ zum Ausdruck gebracht wird, nicht im .Wissen der Leute. angekommen ist.
Weiter trägt die Studie wesentlich dazu bei, ein für Internetforen spezifisches Setting vielfältiger Wissensformationen sichtbar zu machen. Wie bedeutungsvoll dieser Einblick ist, wird in Anbetracht des steigenden Anteils der Internet-Nutzer (Deutschland 2009: 67,1 %) und der zunehmenden Diskussionsforen deutlich. In Bezug auf dieses Portal ist interessant, dass die bis dahin im bioethischen Diskurs unterdrückten Wissensformen und -bestände – wie subjektive Erfahrungen und Gefühle der Leute – greifbar werden. Ob dies deren Chance auf machtrelevante Teilhabe erhöht, wie sich dies „Aktion Mensch“ erhofft, gilt es weiter nach zu verfolgen. Inwieweit das Internetforum, das in der Studie als „alltagsnah“ charakterisiert wird, mit dem Alltagswissen als einer diskursanalytisch relevanten Kategorie assoziiert werden kann, gilt es zu überprüfen. Denn gerade dieses Forum bildet eine spezifische mediale Öffentlichkeit mit spezifischen Wirklichkeitskonstruktionen und Diskurspraktiken ab. So werden den zentralen Fragen Paten zugeordnet, die in einem Statement „erklären, warum sie gerade diese besonders wichtig finden.“ Als Paten agieren „Persönlichkeiten“ aus Politik, Film und Wissenschaft. Weiter konzipierte „Aktion Mensch“ in Zusammenarbeit mit dem Gen-ethischen Netzwerk begleitend zum Forum eine Informationsbroschüre für Schülerinnen, die .viele Anregungen und Denkanstöße. gibt, damit diese sich eine eigene Meinung bilden. Ein entsprechendes Begleitheft für Lehrerinnen kann man ebenfalls downloaden. Dieses Agieren über die Internetplattform hinaus zeigt, dass hier bestimmte Wissensformationen institutionalisiert werden sollen. Leider fallen diese Broschüren nicht in die Erhebung der vorliegenden Studie. Sie zeigen aber, dass sich im Kontext dieses Forums eine diskursanalytisch höchst interessante Zirkulation und Transformation unterschiedlicher Wissensformationen entwickelt hat. Um dieses Setting weiter fassen zu können, ist es unabdingbar, die Begriffe Interdiskurs und Alltagsdiskurs diskurstheoretisch genauer abzugrenzen. In diesem Ensemble muss das Internet in seiner Spezifität diskurstheoretisch verortet werden. Damit weist die Studie nicht nur ein klares Aufgabenfeld für die Weiterentwicklung diskursanalytischer Forschung auf, sondern liefert selbst bereits konkrete und lohnenswerte Ansätze. Gerade aus diskurstheoretischer und -methodischer Perspektive ist diese Studie äußerst anregend und unbedingt lesenwert.
Anne Waldschmidt / Anne Klein / Miguel Tamayo Korte
Das Wissen der Leute
Bioethik, Alltag und Macht im Internet
2009 Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
ISBN 978-3-531-15664-4
323 S., 39,90 €