kultuRRevolution – ein notwendiges Konzept

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Interview von Siegfried Jäger mit Jürgen Link, dem Gründer und Herausgeber der kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie. Erschienen in DISS-Journal 14 (2005)

Siegfried Jäger: Die erste Ausgabe der kultuRRevolution erschien 1982. Würdest Du der Zeitschrift auch heute noch diesen Namen geben?

Jürgen Link: Um 1980 war die mit dem Signifikanten „Revolution“ verbundene Euphorie vieler 68er aus Desillusion bereits in Reue über einen imaginären Vatermord umgeschlagen. Jedenfalls war auch dem letzten klar, dass nach den mehr oder weniger glatten „Transitionen“ in Portugal und Spanien so etwas wie „revolutionärer“ Sozialismus mindestens in der nördlichen Hemisphäre (heute würde ich sagen: in den oberen Normalitätsklassen) bis auf weiteres „abgehakt“ war. Bei vielen erfasste diese Reue sofort auch die Kombination mit dem Signifikanten „Kultur“ (wobei die Desaster in China als zusätzlicher Katalysator wirkten). In dieser Situation wollten wir die Rückbesinnung auf ein Konzept von radikalen antihegemonialen Proliferationen in kulturellen Praktiken und durch sie (das wäre aber als Titel zu lang gewesen) als Basis für entsprechende Innovationen „retten“. Das sollte induktiv durch das, was die Zeitschrift selber konkret machte (z.B. im Anschluss an Foucault, Deleuze/Guattari u.a.), geschehen, wobei wir immer wieder auch auf unseres Erachtens nicht erledigte Kreationen von 68 wie auch auf entsprechende explizite Theorien von Kulturrevolution wie die von Kluge/Negt oder Bahro (und natürlich Gramsci) verwiesen. (Übrigens griff die Hegemonie den von den konvertierten 68ern fallengelassenen Signifikanten dankbar auf und stürzte sich in „Kulturrevolutionen“ des Managements, der Verwaltung, der Steuersysteme usw., was wir durch Zitate ironisierten.)

Ist dieses Projekt (einschließlich der darin erhaltenen „Rettungs“-Komponente) heute als erfolgreich einzuschätzen? Sicher bloß partiell. Aber war nach dem zusätzlichen Reueschub durch den Kollaps des Ostblocks, der sämtliche sozialistischen und radikaldemokratischen Signifikanten symbolisch ´infiziert´ hat, mehr zu erwarten? Von seiner Notwendigkeit jedenfalls scheint mir das Konzept nichts verloren zu haben.

Daraus geht hervor, dass Du an die Notwendigkeit einer offenen und wirklich demokratischen Gesellschaft glaubst. Welchen Beitrag könnten dazu Diskursanalysen der Art, wie Du sie unermüdlich durchführst, leisten?

Nehmen wir zwei konkrete Beispiele, die aber zusammenhängen. Die symbolische Ausschlachtung des Ostblock-Kollapses durch die Hegemonie hat u. a. das „Ende aller Utopien“ und die Ultimativität unseres Typs von parlamentarischer Minimal- Demokratie bei gleichzeitiger Unantastbarkeit des Kapitalismus proklamiert. Konkret bedeutet, wie ich gezeigt habe, die erste These die Erhebung der „Normalität“ zum Telos der Geschichte. Was aber ist „Normalität“? Da kann die Diskursanalyse des Normalismus zeigen, wie Normalitäten und Normalitätsklassen funktionieren, wie sie produziert und reproduziert werden, wie z.B. konkret statistische Kurvenlandschaften in die Seelen „normaler Bürger“ umgesetzt werden. Weiter kann die Diskursanalyse z.B. zeigen, wie auch unsere Demokratie normalistisch funktioniert, indem sie durch Verfahren wie die binäre Logik der symbolischen Rechts-Links-Mitte-Extreme-Landschaft eine (abwechselnd linke oder rechte, jetzt beides) „Mitte“ privilegiert, in der die Dominanz der Hegemonie auf Dauer gestellt ist.

In kultuRRevolution tauchen häufig die Foucaultschen Begriffe Diskurs und Dispositiv auf. Foucault definiert solche Begriffe selten und wenn doch, dann eher umkreisend, sich kaum jemals wirklich festlegend. Wie definierst Du diese Begriffe, und wie machst Du das?

Ich zitiere meine letztens standardisierten Definitionen. Daran wirst Du sehen, dass ich frühere präzisiert und ergänzt habe (nicht zuletzt aufgrund erneuter Foucault-Lektüren). Wesentlich ist dabei für mich immer die Operativität – ob die Gegenstände auch so funktionieren – ich glaube, dass das auch für Foucault entscheidend war.

Also „Diskurs“: Nach Foucaults am konsequentesten systematisch angelegter Schrift Archäologie des Wissens handelt es sich bei „Diskursen“ (kurz für „diskursive Formationen“) im Unterschied zu natürlichen Sprachen um historisch-kulturell sehr viel stärker variable Einheiten, die jeweils spezifische kulturelle Sagbarkeits- und Wissensräume sowie deren Grenzen festlegen. Als konkrete Beispiele nennt Foucault in der Archäologie etwa „Diskurse wie die Ökonomie, die Medizin, die Grammatik, die Wissenschaft von den Lebewesen“ (94) bzw. den „psychiatrischen Diskurs“ oder den „ärztlichen Diskurs“ (95; im Original „discours médical“, 86, also „medizinischer Diskurs“). Gegenüber den formellen Wissenschaften handelt es sich bei den „Diskursen“ um enger mit der gesellschaftlichen Praxis verbundene Wissensgebiete bzw. Wissensräume: Es sind demnach geregelte, ansatzweise institutionalisierte Redeweisen als Räume möglicher Aussagen, insofern sie an Handlungen gekoppelt sind und dadurch Machtwirkungen ausüben.

„Dispositiv“: Es handelt sich um ein spezifisches, historisch relativ stabiles Kopplungs-Kombinat aus einem spezifischen interdiskursiven Kombinat (´horizontal´) sowie einem spezifischen Macht-Verhältnis (´vertikal´). Diese sozusagen gleichrangige Berücksichtigung der ´vertikalen´ Macht-Dimension ist die entscheidende Innovation der Genealogie gegenüber der Archäologie. Dabei umfaßt das interdiskursive Kombinat Wissenselemente aus operativen Spezialdiskursen, insbesondere aus natur- und humanwissenschaftlichen einschließlich der spezifischen Techniken, während das ´vertikale´ Machtverhältnis sich längs einer Polarität von disponierender und disponierter Subjektivität aufbaut: Justiz/Polizei-Krimineller, Arzt-Patient, Psychiater-Neurotikerin, Pädagoge-Zögling, allgemein Experte- Laie. Gleichzeitig damit expliziert Foucault im Begriff des Dispositivs also die ´vertikale´ Dimension der Sagbarkeit als Wissensmonopol monopolistischer Sprecher (Experten) – so wie er die subjektbildende Effektivität der Diskurse betont, was ebenfalls die ´vertikale´ Dimension einschließt: das disziplinierte oder sexualisierte Subjekt als freiwilliges Ansatzprofil spezifischer Machtwirkungen (sujet als Subjekt und Unterwerfungsobjekt gleichzeitig).

Du bist von Hause aus Literaturwissenschaftler, und sehr oft konzentrieren sich Deine/Eure Analysen auf literarische Werke (natürlich auch auf die Medien). Welchen gesellschaftspolitischen Stellenwert hat Deiner Ansicht nach die Literatur und was versprichst Du Dir von einer diskursanalytischen Befassung mit Literatur (und Medien)?

Wenn es einen Konsens zwischen sämtlichen aktuellen Soziologien gibt, dann den über die Tendenz zu wachsender Spezialisierung in modernen westlichen Gesellschaften. Diskurstheoretisch bedeutet das Diskursspezialisierung, Wuchern der Spezialdiskurse. Da denke ich seit langem (u. a. kontrovers zu Luhmann), dass mit dem Trend zur Spezialisierung ein Gegentrend zur partiellen, exemplarischen, symbolischen Reintegration einhergeht (bei Luhmann „Entdifferenzierung“ genannt, was er für „vormodern“ und überholt hält). Aus meiner Sicht erfüllt dieser, von mir „interdiskursiv“ genannte, Gegentrend eine absolut notwendige Funktion, indem er symbolische Brückenschläge zwischen verschiedenen Spezialdiskursen für die Subjekte und deren „Identität“ applizierbar macht. Die wichtigsten Interdiskurse sind heute der mediopolitische und der mediounterhaltende. Aber auch der literarische (in weitem Sinne einschließlich filmischer Narrationen) spielt weiter eine große Rolle. Die so verstandene Literatur ist weiter das Labor der kreativsten Kombination der Symbole. Also nicht zuletzt ein Labor für kulturrevolutionäre Inventionen und Interventionen. Ich zitiere dabei gern Hölderlins Formulierung (wichtiges Äquivalent des Titels der Zeitschrift): „Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird.“

Das ist natürlich eine genuin kulturwissenschaftliche Herangehensweise. Wie aber wäre die totale Beratungsresistenz unserer Politiker gegenüber kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen aufzubrechen?

Der härteste aufzubrechende Riegel dieser Resistenz dürfte in der Überzeugung bestehen, dass operationale Wissenschaft gleich Naturwissenschaft und dass beides gleich Kapitalismus ist. Ich würde die erste Gleichung zunächst einmal heuristisch so stehen lassen: Sie ist tatsächlich in wesentlichen Punkten richtig. Aber die zweite Gleichung ist absurd: Das kapitalistische Funktionieren der Wissenschaft, gerade auch der Naturwissenschaft im weiten Sinne, läuft absolut nicht gut, wie augenblicklich alle Betroffenen von der kapitalistischen Universitäts-„Reform“ laut oder leise zähneknirschend erfahren. Das Maximalprofit- und Konkurrenzsystem ist eben nicht wissenschaftsfreundlich, sondern wissenschaftsfeindlich. Das schreit nach Alternativen, sogar ziemlich direkt nach kulturrevolutionären. Hier liegt eine wichtige Interventionsmöglichkeit der Kulturwissenschaften.

Welchen Themen wird sich die kultuRRevolution in den nächsten Heften widmen?

Fortsetzung der Debatten im „Dreieck Foucault-Bourdieu-Luhmann“; Argentinien – kulturrevolutionäre Inventionen aus der Krise? (Arbeitstitel); Peter Sloterdijks „Sphären“: Denkstil und As-Sociationstheorie (dito); Internet und Interdiskurs; Strukturen und Funktionen der „MacWorld“-Kultur. Außer solchen Schwerpunkten gibt es aktuelle kairologische Analysen sowie unsere „Dauerbrenner“: Diskurs- und Interdiskurstheorie; Kulturwissenschaft und Kulturrevolution; Normalismus und Normalitätsklassen; Initiative Intelligente Deeskalations- Strategie und Resistenz gegen Globalmilitarismus; Multikulturen; binärer Regierbarkeitsparlamentarismus (Rechts-Links-Mitte-Extreme- Topik). Wir freuen uns am meisten über Einsendungen und Vorschläge, die sich ein bisschen (ruhig kontrovers) auf unser ja keineswegs scheuklappen-enges Projekt einlassen.