Apocalypse Now?

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Diskursanalytische Überlegungen zur Bild-Berichterstattung unmittelbar nach dem 11.9.2001. Von Iris Bünger. Erschienen in DISS-Journal 9 (2001)

Die Bild-Zeitung berichtete am 12.9.01, dem Tag nach dem Anschlag von Selbstmordkommandos auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington auf sieben Sonderseiten. Als symbolische Antwort auf die Solidaritätsbekundung des früheren amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy: „Ich bin ein Berliner“  integrierte Bild vom 13.9. bis zum 18.9.01 die amerikanische Flagge in ihr Logo und machte damit deutlich: „Wir sind alle Amerikaner.“ Da Bild ein diskursmächtiges Medium darstellt, das in der Lage ist Sagbarkeitsfelder und Applikationsvorgaben zu produzieren, kann eine Analyse dieser Diskursstrategie Aufschluss darüber geben, welche politischen Ziele diese Diskursstrategie implizieren.

Terror versus Krieg

Auf rotem Grund erscheint am 12.9.01 die Überschrift zum Haupttitel – „Tausende Tote in Amerika! Die Welt in Angst! Gibt es Krieg?“ Hier werden bereits die wichtigsten Bedeutungsfelder umrissen: Tod, Angst, Krieg. Die Schlagzeile selbst – ein Stoßgebet: „Großer Gott, steh uns bei!“

Das Stichwort „Krieg“ wird auf der gleichen Seite im Kommentar wieder aufgenommen: Die Terrorakte seien eine „Kriegserklärung an die Menschheit“. Amerika wird hier als Pars pro toto verwendet, es steht für die ganze Welt, d.h. der Angriff auf die Menschen in Amerika ist ein Angriff auf die Menschheit.

Im Text wird das Geschehene als „der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte der Menschheit“ beschrieben. „… um 8.48 Uhr attackierten Terroristen das Herz der Welt.“ Der moslemische Extremist Osama bin Laden, der zurückgezogen in den Bergen Afghanistans das Gastrecht der Taliban genieße, wird als Drahtzieher der Anschläge benannt. Die Reaktion des deutschen Bundeskanzlers wird zitiert: „Er bezeichnete die Terroranschläge als ‚Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt‘.“

Durch Verengung und Erweiterung der Perspektive – von Amerika auf die gesamte Welt, dann auf Deutschland – wird eingeschworen auf eine Erkenntnis, die für das weitere Vorgehen der USA von grundlegender Bedeutung ist: Es handelt es sich hier nicht um „bloßen“ Terror, hier handelt es sich um Krieg.

Das eskalierende Kriegsszenario

Einen Tag später, am 13.9.01, beschwört Bild geradezu den Krieg mitsamt Deutschlands Rolle in vorauseilendem Gehorsam und gibt den Nato-Verteidigungsfall bekannt, der dann tatsächlich erst am 2.10.01 beschlossen wurde. Dies zeigt deutlich, mit welcher Dringlichkeit „Krieg“ zeitlich nah zu den Terroranschlägen diskursiviert wurde. Unter leichter Rücknahme dieser Dringlichkeit – vermutlich, weil der Militärschlag vorerst nicht erfolgte – befragt Bild den deutschen Kanzler, der beruhigt: „Wir haben keinen Krieg“. Das übereilt entworfene Kriegsszenario wird sodann durch ein stärker rechtsstaatliches Szenario begrenzt, bei dem nun „Beweise“ gegen die Terroristen in Vordergrund stehen (21.09.01). Unter diesen Aspekten wird das Kriegsszenario aber in den folgenden Tagen wiederbelebt: „Der Countdown läuft – Nur noch 24 Stunden bis zum Schlag gegen Afghanistan“ (1.10.01), „Angst vor neuen Anschlägen nach US-Angriff“ (2.10.01). (( Am 07.10.01 haben die USA mit Angriffen auf Afghanistan begonnen und bekannt gegeben, der Kampf gegen den Terror sei „in eine neue Phase getreten.“ (FR, 8.10.01, S. 1).))

„Wir und die Anderen“

Der Titel der Bild -Zeitung vom 12.09.01 verweist aber auch auf eine weitere Ebene, die an der Schnittstelle der Diskussion um „den Krieg“ liegt – die Polarisierung der Welt: „Großer Gott, steh uns bei!“ Da stellt sich die Frage: Wer spricht hier? Durch das Personalpronomen „uns“ wird in Zusammenhang mit der im Text fortgeführten Gegenüberstellung binärer Oppositionen die Welt reduziert auf die „freie, westliche, zivilisierte“ Welt und eine Gegenwelt, die es zu bekämpfen gilt: die „unfreie, unzivilisierte“ Welt – eben der Westen und der Rest, Wir und die Anderen, die Christen und die Moslems.

Der Feind und das Feindbild

Die Frage nach den Schuldigen beantwortet die Bild-Zeitung am 12.09.01 sehr prompt: „Die USA vermutet die Terror-Organisation des Moslem-Extremisten Osama bin Laden hinter den Anschlägen.“ Zitiert werden Mitteilungen über geplante Anschläge und ein religiöser Erlass vom Februar 1998: „Wir rufen mit Gottes Hilfe jeden Moslem, der an Gott glaubt und der belohnt werden will, weil er an Gottes Gebote glaubt auf, die Amerikaner zu töten und ihr Geld zu rauben, wo immer es ist.“ Das kann nicht der Gott sein, den „wir“ auf der Titelseite angerufen haben. Der Feind ist benannt, das Feindbild personalisiert in bin Laden, jedoch auch schnell übertragbar auf eine Religion, die solche Anschläge möglich macht – die Moslems geraten so in die Ziellinie der notwendigen Bekämpfung, ist es doch ihr Gott, der dazu beitragen soll, die Amerikaner, also „uns“ zu töten.

In dem Zusammenhang von Extremismus und Feindbild steht auch die Berichterstattung „Palästinenser-Extremisten tanzten auf den Straßen“. Es werden jubelnde und tanzende Kinder gezeigt, aber auch der Palästinenser-Präsident Jassir Arafat mit dem Hinweis: „Verurteilt offiziell den Anschlag.“ Hier wird die Frage nach der „inoffiziellen“ Version aufgeworfen, die die Palästinenser auf die Seite der terrorbereiten „Anti-Amerikaner“ stellt. Die Mitteilung „Die demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und die radikal-islamistische Palästinenserorganisation „Hamas“ bestritten Meldungen über eine Tatbeteiligung“ (12.9.01, 6) stellt Meldung und Widerspruch in einen Dialog, der freie Interpretationen zulässt und rückt den möglichen Netzwerkcharakter bzw. lose Allianzen eines islamistischen Extremismus in den Vordergrund.

Die Vorstellung von einem globalen Netzwerk des Terrorismus weicht das personalisierte Feindbild ‚Osama bin Laden‘ teilweise auf. Dies wird auch in der Berichterstattung über sein Verschwinden oder seine mögliche äußere Veränderung deutlich. „Sogar den Bart abrasiert? Bin Laden spurlos verschwunden.“ (Bild 24.09.01). Eine Computersimulation zeigt Bin Laden ohne Bart und beschreibt, dass 11000 Terroristen von bin Laden ausgebildet wurden. Die Grenzen zwischen personalisiertem Feindbild und ’subjektlosen Feindmassen‘ verschwimmen: „Kriegserklärung aus dem Dunkel“. Hier kommt kollektivsymbolisch die Gegenwelt zu der geschlossenen Innenwelt zum Tragen: das Chaos, das Dunkel, die Bedrohung, die sich auch in ihrer metaphysischen Kraft auf die Innenwelt auswirkt und „die Menschen … wie Gespenster, von Schmutz bedeckt, weinend und taumelnd“ (Bild, 12.09.01) zurücklässt.

Personalisierungen, Einzelschicksale bieten denn auch in den folgenden Tagen den Leserinnen umfangreiche Identifikationsmöglichkeiten. Zudem wird eine Verbindung zu Deutschlands Opfern und Deutschlands Verantwortung geschaffen: „270 Deutsche unter den Trümmern.“ „Terror-Pilot lebte von deutschem Stipendium“. Darüber steht: „Auch deshalb müssen wir an der Seite der Amerikaner stehen.“ (Bild, 17.09.01)

Die Apokalypse

Das Metaphysische, der Grenzbegriff menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten, das Übersinnliche scheint in Zusammenhang mit den Terroranschlägen von besonderer Bedeutung zu sein. „Die Kriegserklärung aus dem Dunkel“ (Bild, 12.9.01), die zum „Inferno“ führte, nimmt apokalyptische Ausmaße an: “ … möchte in meiner Panik Zuflucht zu Gott suchen. Der Rauch ist groß, ich sehe ihn nicht mehr. Die Reiter der Apokalypse sind zu euch und unter uns gekommen. Der Teufel lacht, während wir weinen.“ (Bild, 12.9.01). Beschrieben wird ein Weltuntergangsszenario, gegen das es keine Hilfe gibt, in dem „das Böse“ gewinnt.

Apokalyptische Vorstellungen gibt es nun sowohl im christlichen Glauben als auch im Islam. ((Hinsichtlich der zitierten Textstellen soll hier auf den Bibeltext „Offenbarung an Johannes“ hingewiesen werden, der die Apokalypse und die vier Apokalyptischen Reiter als Pest, Krieg, Hungersnot und Tod beschreibt, sowie auf das Buch Daniel des Alten Testaments und das Matthäus-Evangelium.))

Peter Scholl-Latour beginnt in der Bild-Zeitung seine Ausführungen mit den Worten: „Als ‚Koloss auf tönernen Füßen‘, so ist die Weltmacht USA plötzlich dem weltweiten Fernsehpublikum erschienen“, und rekurriert damit auf den Traum des Königs Nebudkadnezzar im Buch Daniel. „… von dieser apokalyptisch anmutenden Horror-Tat“, so spezifiziert Scholl-Latour die Zusammenhänge weiter, bis hin zu „Was so erschreckend ist an diesen geballten Vernichtungsschlägen des „Fünften Reiters“ ist die Kombination von religiösem Fanatismus, der in Selbstaufopferung gipfelt, mit einer logistischen Infrastruktur, die man Orientalen normalerweise nicht zutraut.“

Nach solchen Rassismen statuiert er dann weiter: „Es kann sich nur um eine Allianz todesbesessener Gotteskrieger einerseits und hochvermögender Finanziers andererseits handeln, die in den USA über ausreichende Infrastruktur und hochgeschultes Personal verfügen.“ Über die eigentlichen apokalyptischen Vorstellungen hinaus wird hier der „5. Reiter“ beschrieben – ein Netzwerk von besessenen Gläubigen und ‚dem Kapital‘. (Bild, 12.9.01)

Die diffuse und nicht zu durchschauende Bedrohungssituation wird weiter zugespitzt: FBI und CIA haben versagt: „Die Kamikaze-Attentäter trafen nicht nur das Herz Amerikas, sondern zerstörten auch den Mythos CIA und FBI“, während Osama bin Laden den Attentätern gratuliert (Bild, 13.9.01). Es verdichtet sich das symbolische Bild der Auflösung des schutzgebenden Innenraumes, eines geschlossenen Systems durch das Eindringen von Feinden. Die Abwehrmechanismen sind zerstört. Das apokalyptische Szenario, das in der Bild-Berichterstattung durchgängig zu finden, wird noch weiter entwickelt und der symbolische Kreis – Körper (Amerika, „zivilisierte Welt“ – Virenangriff (Bin Laden, Taliban, „das Böse“) – Tod („ins Herz getroffen“) findet seine Entsprechung auf der Realitätsebene: „Ungleich verheerendere Waffen sind längst entwickelt, Waffen der atomaren, chemischen und bakteriologischen Kriegsführung. Und auch auf sie wird das Böse eines Tages Zugriff haben (soweit es nicht schon Zugriff hat).“ (Bild, 17.9.01).

Fazit

Die nach dem 11.9.01 eingenommene Diskursstrategie der Bild-Zeitung zielt auf eine weitere Eskalation der Verhältnisse an: von Terror zu Krieg, der sich Bild in vorauseilendem Gehorsam anschließt. Schnell soll auf den erwarteten militärischen Schlag der USA gegen vermeintliche Attentäter oder Afghanistan als deren Gastgeberland eingestimmt und dieser legitimiert werden. Dass es zunächst nicht dazu kam, führte dann an den nachfolgenden Tagen zu einer in gewisser Weise Rücknahme solcher Beteuerungen, die aber über apokalyptische Bilder und der Darstellung von Einzelschicksalen in der Schwebe gehalten wurden. Zu einer erneuten Zuspitzung kam es, als sich unter Aspekten der Rechtsstaatlichkeit die Beweislage gegen die mutmaßlichen Attentäter verbesserte.

Die in der Bild-Zeitung immer wieder untermauerte Definition des Terrors als „Krieg“ und die Beschwörung des „Wir und die Anderen“ mit den daran anknüpfenden Handlungsaufforderungen bergen die Gefahr einer Polarisierung der Welt in sich, und machen Bestrebungen zunichte, die auf eine stärker von Miteinander, Gleichberechtigung und Demokratie geprägten Zukunft im Hinblick auf das Zusammenleben in der Welt zielen.