Wie sich Westpol zum Sprachrohr des institutionellen Rassismus macht. Von Thomas Müller. Erschienen in DISS-Journal 8 (2001).
Wurde in der Vergangenheit öffentlich über eine Veschärfung des Asylregimes nachgedacht, so blieb ein Punkt selbst in hochgradig rassistisch aufgeladenen Beiträgen ausgeklammert: daß Abschiebung zwar längst nicht in allen Fällen, sehr wohl aber in letzter Konsequenz den Tod des Betroffenen zur Folge haben kann, und mehr noch, daß es Fälle geben könne, in denen der Tod nicht erst im Zielland, sondern bereits im Vollzug der Abschiebung eintritt.
Die Ereignisse im Zuge der verschärften Asyl- und Abschiebungspolitik seit 1993 haben diesen Punkt gelegentlich zu öffentlichem Bewußtsein gebracht. Wenn auch die zahlreichen Selbstmorde aus Angst vor der Abschiebung meist nur in der antirassistischen Presse thematisiert wurden, so sorgte der Tod eines Sudanesen infolge der gewaltsamen Ruhigstellung durch den Bundesgrenzschutz während der Abschiebung vor zwei Jahren für breitere Empörung. Ähnliche Fälle aus den Niederlanden und anderen EU-Ländern machten deutlich, was die gewaltsame Durchsetzung einer Abschiebung in letzter Konsequenz sein kann, nämlich eine Art institutionalisierter rassistischer Mord.
Selbst Otto Schily, der den rassistischen Diskurs mit seinen populistischen Aussagen über die angebliche Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderer eifrig bediente, zog eine Konsequenz: In einem Brief an die Innenminister der Länder wies er darauf hin, daß „Rückführungen“ von den Beamten des Bundesgrenzschutzes „im Einzelfall abgelehnt werden“ könnten, wenn der Betroffene sich in einer Weise zur Wehr setze, die die körperliche Unversehrheit der Beamten gefährde. Auch NRW-Innenminister Fritz Behrens äußerte sich gegenüber dem Westdeutschen Rundfunk in diesem Sinne: „Diejenigen, die da nicht abgeschoben werden können, müssen hier bleiben. Aber das ist in diesen wenigen Einzelfällen auch hinzunehmen. Das muß man aushalten, um die Gefährdung der Beamtinnen und Beamten in Grenzen zu halten.“ Zwar blieben Schily und Behrens in ihrer ausschließlichen Fürsorge für die Gesundheit der Beamten ganz der Logik eines institutionellen Rassismus verhaftet, doch zeigte das Entgegenkommen gegenüber dem BGS indirekt auch für die betroffenen Flüchtlinge Wirkung. Inwiefern, das erläuterten die Fernsehjournalisten Werner Czaschke und Clemens Schmidt in ihrem Beitrag zur WDR-Sendung Westpol vom 1. April – einem Beitrag, der sich die Sichtweise eines administrativ institutionalisierten Rassismus in viel schärferer Weise zu eigen macht als die beiden Innenminister. Der Tod bei der Abschiebung wird mit einer geradezu zynischen Sachlichkeit als Auslöser ganz anderer Probleme verhandelt. So gehe es dem Westpol-Bericht zufolge „auf deutschen Flughäfen“ infolge der Schily-Anweisung seit kurzem „ganz anders zu“, nämlich in gewisser Hinsicht schlimmer als zuvor: „Todesfälle gibt es bei Abschiebungen seither zwar nicht mehr. Doch dafür existiert nun ein neues Problem. Renitente Ausländer drohen, ihre Begleiter vom Bundesgrenzschutz zu verletzen. Und die wiederum weigern sich, ohne entsprechende Absicherung ihre Gesundheit zu riskieren. Folge: Die Abschiebung scheitert.“ Ohne weiteres wird eine gescheiterte Abschiebung hier als gleichrangiges Problem neben den Tod „im Fesselgriff der Grenzschützer“ (Czaschke/ Schmidt) gestellt, und die Instrumente der Fesselung geraten schlicht zur fehlenden „Absicherung“ verbeamteter Gesundheit.
„Renitenz wird belohnt“, zitiert Westpol die „Klage“ eines kommunalen Ausländeramtes, und fügt erläuternd hinzu, was mit Flüchtlingen, die sich erfolgreich ihrer Abschiebung widersetzt haben, geschieht: „Der Ausländer wandert zurück in Abschiebehaft. … Spätestens nach drei Jahren muß der Ausländer in die Freiheit entlassen werden. Allein in Duisburg weiß man von drei solchen Fällen seit Jahresbeginn. … Doch bei bloßen Einzelfällen bleibt es nicht. Die Methode spricht sich herum: Widerstand gegen die Beamten lohnt sich.“ In diese Umdeutung der psychischen und physischen Verzweiflung eines Abzuschiebenden in eine besonders dreiste Methode des ‘Asylbetrugs’ sind zwei O-Töne des Duisburger Rechtsdezernenten Jürgen Brandt eingeblendet. Zunächst bedauert er: „Das demotiviert und macht die Arbeit schwieriger. Das zweite ist: Es kommen einfach Kosten – ich darf das mal so plump sagen – auf die Stadt zu. Denn das Land zahlt für diejenigen, die abgeschoben werden sollen, nach einer Weile nichts mehr. Diese Kosten gehen voll zulasten der Städte.“ In der zweiten Einblendung zieht Brand die Konsequenz: „Ich fürchte, wenn die Fälle sich häufen, wird der Staat nur auf zwei Wegen reagieren können. Entweder er verschärft seinerseits das Klima und die Bereitschaft zuzupacken. Oder er läßt es durchgehen“ – was, so der Tenor des Westpol- Beitrags, ja geradezu eine Aufforderung zur Gewalt gegen Grenzschützer wäre.
Im Zentrum des Westpol-Beitrags steht damit die Forderung nach einer Rückkehr zu genau jener Abschiebepraxis, die im Einzelfall eben nicht zur Freiheit, sondern zum Tod des Abzuschiebenden führte. „Für mich stellt sich die Frage nicht, auf Anwendung von Gewalt zu verzichten, wenn es nötig ist,“ bekräftigt denn auch der Leiter der Abschiebehaftanstalt Büren in einem weiteren O-Ton. „Das sehen aber auch meine Mitarbeiter so. Meine Fürsorgepflicht muß darin zum Ausdruck kommen, daß ich meine Mitarbeiter auf diese Situation schule, weiterbilde, daß ich ihnen genügend geeignete Kleidungsstücke zur Verfügung stelle und Schutzschilde und solche Maßnahmen treffe. Aber wir können nicht davon absehen, Gewalt anzuwenden, wo es als letztes Mittel nötig ist.“
Die Art und Weise, wie die Forderung nach mehr Brutalität bei der Abschiebung erhoben wird, erinnert an die Konstellation der „Asyldebatte“ der frühen neunziger Jahre. Damals wie heute werden die Kommunen als diejenigen vorgestellt, die die Last einer verfehlten, nämlich zu liberalen Linie der Landes- und Bundespolitik tragen müssen. Wir haben es mit einer populistischen Solidarisierung des Mediums mit den vermeintlich Schwächsten, nämlich den ausgerechnet in Gestalt ihrer Rechtsdezernenten und Ausländerämter präsentierten Kommunen, zu tun. Zugleich findet eine Verkehrung von Opfern und Tätern statt: Das reale Opfer, nämlich der zu Beginn des Beitrags noch erwähnte Sudanese, wird zunächst vom Täterbild des „renitenten Ausländers“ überlagert und schließlich durch „die Städte“ als vermeintlichem Opfer ersetzt. Ein für die Sozialverwaltung real kaum ins Gewicht fallender Aspekt – drei nicht abgeschobene Flüchtlinge in einer Stadt wie Duisburg – wird zu einem massiven Problemdruck aufgebaut, der ein schnelles und vor allem rücksichtslos gewaltsames Vorgehen der Innenminister des Landes und des Bundes erfordere, ein Vorgehen noch zudem, das nur in einem „verschärften Klima“ funktionieren könne. Entsprechend endet der Beitrag mit einer aus der scheinbaren Perspektive „von unten“ vorgetragenen Polemik gegen Schily: „Bis dahin“, nämlich bis zu einer Entscheidung der Innenministerkonferenz, „müssen die Städte weiter schlucken, daß Abschiebungen immer wieder abgebrochen werden, weil Otto Schily alles zugleich schützen will: die Ausländer, die Grenzschützer, nur die Interessen der Städte nicht.“
Von den Folgen einer Verschärfung der Abschiebepraxis abgesehen, eignet sich diese Konstellation gerade wegen ihrer in Kenntnis der möglicherweise tödlichen Konsequenz vorgetragenen Forderung nach Gewalt auch als Applikationsvorgabe nichtstaatlicher Ausländerfeinde, während sie der kommunalen Politik indirekt eine Verschärfung des Klimas nahe legt.