Von Siegfried Jäger. Antworten zu strittigen Problemen, die von den Veranstaltern der Podiumsdiskussion in Augsburg am 30.3.2000 vorgegeben wurden. ((Am 30. und 31. März veranstaltete der Arbeitskreis Diskursanalyse, ein Zusammenschluß Augsburger und Münchener Soziologen, in Zusammenarbeit mit der Sektion Sprachanalyse der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) in Augsburg einen Workshop zum Thema „Perspektiven der Diskursanalyse“.))
Vorbemerkung: Sprachsoziologie und Sprachforschung werden in der Vorgabe der Veranstalter gleichgesetzt. Das ist mir zwar durchaus symphatisch, weil Sprache ein gesellschaftlicher Gegenstand ist. In der etablierten Linguistik wird die Sprachsoziologie jedoch als Unter- bzw. „Bindestrich“-Disziplin angesehen, die bereits interdisziplinär angelegt ist. Dagegen befaßt sich Sprachforschung primär mit Sprache als solcher.
Zur Debatte stand, ob die Diskursanalyse in die Soziologie intergriert und als „Brücke“ zwischen Soziologie und Sprachwissenschaft verstanden und angewendet werden kann
1. Vorgabe: Disziplinspezifische Entscheidungen für Diskurs- und gegen Sprachanalyse im Zusammenhang der jeweiligen Forschungsinteressen
Eine Entscheidung für Diskurs- und/oder gegen Sprachanalyse halte ich für falsch. Auch sozialwissenschaftlich orientierte Kritische Diskursanalyse (KDA) (orientiert an Foucaul) ist auf Sprachanalyse angewiesen, insofern der verbale Anteil des Diskurses aus sprachlichen Elementen, Sätzen, Texten bzw. Diskursfragmenten als Wissensträgern besteht. Sofern Diskursanalyse sich mit sprachlichen Diskursen befaßt, ist sie existentiell auf Sprachanalyse angewiesen. Sie ist aber nicht mit Sprachanalyse gleichzusetzen, weil sie eine andere Perspektive als übliche Sprachanalyse einnimmt: Es geht um die Erfassung von Diskurs als >Fluß von Wissen durch die Zeit<, wobei hier insbesondere Texte, besser; thematisch einheitliche Diskursfragmente, aus denen sich Diskursstränge zusammensetzen, den elementaren Gegenstand der Untersuchung darstellen. Diskursanalyse als ganze zielt zunächst auf jeweilige Diskursstränge und deren Verschränkungen miteinander.-
Indem die Analyse nichtdiskursive Praxen und Sichtbarkeiten / Vergegenständlichungen einbeziehen will, wird Diskursanalyse zur Dispositivanalyse. Es geht dann darum, auch das ihnen vorausgesetzte und sie begleitende Wissen zu elizitieren und in seinem Zusammenspiel mit dem Wissen, das in diskursiven und nichtdiskursiven Praxen und Vergegenständlichungen prozessiert und im Zusammenspiel mit anderen Dispositiven zu erfassen und zu kritisieren. Diskursanalyse und Dispositivanalyse werden soziologisch, indem sie die einschlägogen Ergebnisse der Sozialwissenschaften unter diskurstheoretischer Perspektive einbeziehen und sich zunutze machen.
Ich könnte auch in einem ersten Zugriff sagen: Wenn Soziologen Diskurs- und Dispositivanalyse betreiben wollen, sollten sie / müssen sie Sprachanalyse einbeziehen. Insofern Linguisten am Zusammenhang von Sprache, Subjekt, Gesellschaft, Situation, Kommunikation interessiert sind, sollten sie die Diskurstheorie einbeziehen. Das würde wahrscheinlich auf Dauer zu einer transdisziplinären Vereinigung der Gesellschafts- und Subjektwissenschaften führen.
2. Vorgabe: Das Verhältnis von Diskurs und Realität
Diskurse sind nicht Ausdruck von Realität, sie deuten Realität und schaffen die Applikationsvorgaben und Wissensvoraussetzungen für die Gestaltung bzw. „Erschaffung“ von Realität. Sie formieren, bzw. konstituieren Gesellschaft, Institutionen, Gegenstände und Subjekte. Gefragt wurde, inwieweit sie das tun. Ich meine: restlos, vollständig. Die gegenständliche Welt führt kein Leben unabhängig von den Diskursen, wenn man von der trivialen Materie-Voraussetzung absieht. Aber auch diese erhält ihre Bedeutung erst durch uns, d. h. durch den Diskurs.
3. Vorgabe: Der Zusammenhang zwischen der emergenten Ordnungsebene „Diskurs“ und einzelnen Diskursereignissen
Um dies zu beantworten, müßte geklärt werden, was unter Diskurs und Diskursereignissen jeweils verstanden wird. Ist mit Diskurs das vielfältig verschränkte Wurzelwerk von thematisch einheitlichen Diskurssträngen gemeint und mit Diskursereignissen Diskursfragmente, also thematisch einheitliche Texte bzw. Aussagen, dann kann man sagen, daß Diskursstränge, verstanden als thematisch einheitliche Flüsse von Wissen durch die Zeit, sich aus Abfolgen und Ansammlungen von Diskursfragmenten zusammensetzen. Versteht man Diskursereignisse als diskursive Ereignisse, so schlage ich vor, darunter solche Ereignisse zu begreifen, die medial etc. besonders stark hervorgehoben werden. Diskursive Ereignisse sind nicht mit Ereignissen selbst zu verwechseln.
4. Vorgabe: Wichtige Aufgabenfelder und Entwicklungen von Diskurstheorie und Diskursanalyse
Untersuchung und Kritik gesellschaftlich relevanter Diskurse. Weiterentwicklung der Diskursanalyse zur Dispositivanalyse. Dazu gehört sicherlich der Einbezug der Semiotik, also die Lehre von den Zeichen und ihrem Verhältnis zur sogenannten Wirklichkeit. Ich denke hier etwa an Umberto Eco und z.B. seine Überlegungen zur Semiotik der Architektur, aber auch an Pierre Bordieu und andere.