Von Klaus Kreimeier, erschienen in: DISS-Journal / kultuRRevolution: Im Auge des Tornados (Gemeinsames Sonderheft Mai 1999) (= DISS-Journal 4 (1999))
Als in der fünften Woche des Krieges eine Nato-Bombe das Gebäude des jugoslawischen Fernsehens zerstörte, verkündete ein Sprecher des Bündnisses, man habe das »Gehirn« des Militärapparates von Präsident Slobodan Milosevic getroffen. Die Metapher ist schief, denn von der RTS-Zentrale werden nicht die Operationen des jugoslawischen Militärs, ebenso wenig die der Sonderpolizeieinheiten oder der paramilitärischen Banden im Kosovo gelenkt. Als Instanz, die auf jugoslawischer Seite über die Sichtbarkeit respektive Unsichtbarkeit des Krieges entscheidet, ist der Fernsehsender in Belgrad allerdings ein integraler und politisch relevanter Bestandteil des militärischen Apparats.
In kriegerischen Konflikten dirigiert das Fernsehen die Politik der Wahrnehmung an der »zweiten Front«, also in jenem Frontabschnitt, der das Bewußtsein der partizipierenden Öffentlichkeit mit dem militärischen Geschehen vernetzt. Hirnfunktionen sind ihm insoweit zuzuschreiben, als seine Bilder darüber entscheiden, welche Segmente des Schlachtfelds in den Blickradius des Publikums geraten und welche nicht. Seine Distributionsform nimmt eine Selektion vor, die das Blickfeld reduziert (und präpariert), bevor die individuelle Wahrnehmung des Rezipienten ihrerseits selegieren und die Kommunikate dem jeweils individuellen Reservoir an Wahrnehmungsmustern angleichen kann.
Diese Verteilungsstrategie kennzeichnet die Funktion der modernen audiovisuellen Medien in allen sozialen Kontexten; sie gewinnt allerdings in extremen politischen oder militärischen Konfliktlagen eine ungewöhnliche Brisanz. Um sie zu definieren, greift der Begriff der politischen Massenbeeinflussung, vulgo Propaganda, zu kurz. Er verschleiert eher den Mechanismus, der das Nervensystem der »Öffentlichkeit« mit dem der involvierten Militärmaschinerien verkoppelt und beide zu einem Informationssystem zusammenschließt, in dessen Rahmen die informierte bzw. desinformierte Öffentlichkeit nicht nur als Adressat fungiert, sondern einen (womöglich kriegsentscheidenden) Teil des Schlachtfelds bildet.
Diese Konstellation ist nicht neu, aber sie hat mit den technisch produzierten Bildern – von den frühen Fotografien im Krim-Krieg und im amerikanischen Bürgerkrieg über die Militarisierung der Kinematographie im 1. Weltkrieg und in der nationalsozialistischen Wochenschau bis zum sogenannten »Videokrieg« der Amerikaner gegen Saddam Hussein – einen bemerkenswerten Prozeß der Dynamisierung durchlaufen. In diesem Prozeß ist deutlich geworden, daß die audiovisuellen Massenmedien unter Bedingungen verschärfter militärischer Konfrontation zu Instrumenten der psychologischen Kriegsführung mutieren und somit als essentieller Bestandteil der jeweiligen militärischen Apparate zu betrachten sind.
Der Argumentation der Nato, sie habe mit der Zentrale des jugoslawischen Fernsehens keine zivile Einrichtung, sondern einen Teil des gegnerischen Waffenarsenals bombardiert, ist daher vom militärischen, aber auch vom politischen Standpunkt eine zwingende Logik zuzubilligen – eine Logik, der auch die jugoslawischen Techniker folgten, denen es gelang, innerhalb von sechs Stunden den Sendebetrieb provisorisch wiederherzustellen. Hingegen äußerte sich in den Protesten westlicher Journalisten-Verbände gegen die Bombardierung des Belgrader Senders ein vom journalistischen Berufsethos her nachvollziehbares, der Sachlage jedoch keineswegs angemessenes ständisches Bewußtsein, das die Fiktion aufrechterhält, es gebe in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen einen neutralen Sektor der »Berichterstattung«, der von der Solidarität der Berichterstatter zusammengehalten wird. Die Sorge der Vereinigung niederländischer Journalisten, daß die Medien in künftigen Kriegen zu strategischen Zielen erklärt werden könnten, ist berechtigt; sie sollte allerdings ein Anlaß sein, die Position der Kriegsberichterstattung zu überdenken und ihren strategischen Stellenwert im Planspiel der Militärs präzis zu bestimmen.
Seit dem Golfkrieg sind die audiovisuellen Kommunikate der Kriegsberichterstattung einem beinahe altmodischen Technik-Verdacht ausgesetzt. Er resultierte aus der opulenten Ausstattung des federführenden CNN mit Bildern, die – wie das amerikanische Verteidigungsministerium suggerierte – dem »Kopf der Bombe« entstammten und die laser-gesteuerte Wahrnehmung »intelligenter« Waffen unmittelbar an den Wahrnehmungsapparat, an das Sensorium und die Intelligenz des Publikums weiterleiteten. Der informationelle Regelkreis zwischen dem Schlachtfeld und der öffentlichen Wahrnehmung, so schien es, war geschlossen; tendenziell war der Blick des »global village« in die Waffe geschlüpft und mit ihrem Blick identisch geworden. Gleichwohl sah die »Weltöffentlichkeit« so gut wie nichts; die Zahl der Opfer auf irakischer Seite zum Beispiel ist bis heute unbekannt. Der »Videokrieg« des Pentagon begründete den Mythos seiner Transmissionsinstanz CNN und leitete gleichzeitig seine nachhaltige Beschädigung ein. »Virtuelle Kriege« und »Gameboy-Schlachtfelder« haben seither kein gutes Image. Selbst General Wesley Clark ist das schlechte Gewissen anzusehen, wenn er auf der täglichen Nato-Pressekonferenz seine Videobilder »aus dem Kopf der Bombe« präsentiert.
Tatsächlich haben sich im High-Tech-Zeitalter gerade auf Grund der technologischen Dynamik die Schlachtfelder weitgehend den traditionellen Formen der Wahrnehmung entzogen – sie sind »unsichtbar« geworden in dem Maße, wie computergesteuerte Waffensysteme, verbunden mit dem Faktor der Beschleunigung, das militärische Handeln bestimmen. Genaugenommen ist es also der militärische Apparat selbst (und nicht mehr das massenmediale Dispositiv), der über das Sichtfeld und die Sichtbarkeit der Kriege entscheidet. Der klassische, mit einem Kamerateam ausgestattete »unabhängige« Kriegskorrespondent, der dem heimischen Sender seine Bilder und Kommentare liefert, hat unter den Bedingungen der zensierten Bilder und der von den Kommandostäben eingerichteten »Medien-Pools« erheblich an Bedeutung verloren. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist, daß die Zuschauer, aber auch die administrativen und redaktionellen Instanzen in den Fernsehsystemen allenfalls über Sichtbarkeits-Segmente verfügen; längst sind sie außerstande, zu beurteilen, bis zu welchem Grade diese Segmente als repräsentativ für das Kriegsgeschehen einzuschätzen sind.
Als Folge der Entmachtung einer stets als »unabhängig« verstandenen audiovisuellen Nachrichtenkommunikation im Golfkrieg (die zu einem erheblichen Teil eine Selbstentmachtung war) und aus der Einsicht in objektiv gegebene militärtechnologische »Sachzwänge« findet derzeit – etwa in den Nachrichtenabteilungen der deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten – ein Paradigmenwechsel statt, der die bedrohliche Schräglage der Kriegsberichterstattung nicht mehr ignoriert, sondern die entstandene Verunsicherung, als »Sorge um die Authentizität«, in die Blickperspektive und den Argumentationsrahmen zu integrieren sucht. Leitmotivisch durchzieht die Sentenz, daß im Kriegsfall die »Wahrheit das erste Opfer« sei, die Berichte, Kommentare und Diskussionen. Nach dem Desaster des »Videokriegs« von 1991 wird nunmehr das konjunktivische Sprechen kultiviert, die Kriegssituation selbst oder vielmehr der vom Fernsehen realisierte Kriegs-Diskurs als »Krieg im Konjunktiv« apostrophiert.
Allzu offenkundig ist geworden, daß große Teile des Kriegs-Szenars (und womöglich die wichtigeren Teile) aus der Sichtbarkeit, also aus dem traditionellen Kompetenzrahmen des Fernsehens, herausfallen – ebenso, daß im Fall des verfügbaren Materials die Quellenfrage überaus prekär und eine Selektion vorausgegangen ist, der die Interessen der beiden kriegführenden Parteien ihre Spuren eingeschrieben haben. Bis in die Sprache der Kommentare hinein hat sich der Zweifel an der »Glaubwürdigkeit« der Bilder geschlichen; direkt und indirekt warnen die zur »Einordnung« verpflichteten Moderatoren ihre Zuschauer und sich selbst vor dem von ihnen präsentierten Material; kaum ein Kanal, der sich nicht aufgefordert sähe, in Spezialsendungen die verfängliche Nachrichtenlage zu thematisieren.
Als Maschine, die stets ein umfassendes Monopol in Sachen Visualität behauptet und eine Art Alleinherrschaft über die sichtbare Welt und die Welt des Sichtbaren reklamiert hat, ist das Fernsehen in ein Dilemma geraten. Die Bilder vom Kosovo-Krieg zeigen allenfalls Resultate – unsichtbar hingegen bleiben alle Vorkehrungen, die den Resultaten vorausgegangen sind bzw. zu ihnen geführt haben.
Sichtbar sind die Massen der aus dem Kosovo Vertriebenen, soweit sie sich in den Lagern der mazedonischen und albanischen Grenzregionen konzentrieren: Hier haben die internationalen Fernsehsysteme zugleich ihre strategischen Positionen bezogen und können so Abend für Abend die Weltöffentlichkeit mit »eigenen« Bildern versorgen, die zwar nur geringfügig variieren, aber über einen hochgradigen Emotionalisierungseffekt verfügen. Keine Frage, daß die Nato gerade an diesen emotionalen Qualitäten ein strategisches Interesse hat.
Unsichtbar hingegen bleiben die Vertreiber, und unsichtbar bleiben die Gewaltakte der Vertreibung in dem Maße, wie das gesamte Gebiet des Kosovo den Kamera-Augen entzogen ist: das geographische und politische Zentrum dieses Krieges ist eine »unbekannte Zone«, über die Erzählungen und Gerüchte kursieren und in der Phantasie der Zuschauer, die am Kosovo-Diskurs zwangsläufig einen beträchtlichen Anteil hat, Bilder des Grauens stimulieren. Denn so beeindruckend die mündlichen Berichte der Vertriebenen sind – ihre Beweiskraft ist eingeschränkt und eignet sich allenfalls für jenes Sprechen im Konjunktiv, auf das sich die Kommentatoren stillschweigend geeinigt haben. Entsprechend distanziert werden die Luftbilder der Nato behandelt, die die Existenz von Massengräbern belegen sollen, aber in hohem Maße interpretationsbedürftig sind.
Wenn allenfalls die Resultate eines Krieges sich der Wahrnehmung erschließen, nicht aber die Praxis und Methodik der Kriegsführung selbst, schlägt die Stunde der Deuter und Interpreten: Die »zweite Front« im Kosovo-Krieg steht weitaus stärker als in früheren Konflikten im Zeichen eines Krieges um den semantischen Wert der Bilder. Das zerstörte Pristina – wurde es von der Nato oder von den Serben zerstört? Leichen am Straßenrand: wurde ein Vertriebenen-Treck oder ein Militärkonvoi bombardiert? Bombenschäden in Belgrad – beweisen die Bilder die »Intelligenz« der Nato-Bomben, die zwischen zivilen und militärischen Einrichtungen zu unterscheiden wissen, oder sind sie Belege für die Brutalität eines Luftkriegs, der auch die Zivilbevölkerung nicht schont?
Zwei Paradigmen stehen gegeneinander: die Fiktion einer umfassenden Sichtbarkeit der Welt (suggeriert durch die elektronischen Medien) – und das Wissensmonopol der militärischen Zentralen, die selbst im Unsichtbaren operieren und über die sichtbaren Resultate ihrer Operationen die Deutungsmacht beanspruchen. Der Kampf um die Bedeutung dessen, was zu sehen ist, ist der gegenwärtige mediale Status eines Konflikts, der von der Nato als »humanitäre Intervention« ausgegeben wird – und von der Gegenseite als »totaler Krieg«, den der »amerikanische Imperialismus« und die »faschistische Nato« gegen das serbische Volk entfesselt haben.
Elektronische Bilder und Bild-Montagen sind hochkomplexe und polyvalente Zeichensysteme, die beim Betrachter strukturelle Kenntnisse voraussetzen, an sein Wissen, aber auch an seine Phantasie und seine Emotionen appellieren und in dem Maße, wie sie sich der kollektiven »Lektüre« erschließen, anschlußfähig an andere Diskurse sind. Kriegsparteien indessen sind daran interessiert, die Lektüre von Bildern einzuengen: ihre Komplexität auf jenes semantische Minimum zu reduzieren, das eine den eigenen Interessen kompatible Interpretation ermöglicht, eine »feindliche« hingegen weitgehend ausschließt. Allerdings behalten Kriegsbilder stets einen unkalkulierbaren Faktor; im emotionalen Bereich bleibt das, was sie »bewirken«, inkommensurabel.
Die Informationsabteilungen kriegführender Parteien wissen das; unter allen Umständen wollen sie besonders auf diesem Gebiet »Kollateralschäden« vermeiden. Zumal den Amerikanern sind die »Kollateralschäden« der Berichterstattung über den Vietnam-Krieg im US-Fernsehen – Bilder brennender Dörfer, gefolterter Vietcongs und napalmgeschädigter Kinder – in denkbar schlechter Erinnerung.
Hier setzt die militärische Bilder-Zensur ein, die ein despotisches Regime wie das Milosevics unbegrenzt praktizieren kann und kriegführende Demokratien mit Hilfe ihrer »Medien-Pools« zu organisieren suchen: nur »zuverlässige« Journalisten erhalten Informationen, nur »loyalen« Fernsehstationen wird Bildmaterial zur Verfügung gestellt. Das jugoslawische Fernsehen sendet ausschließlich Bilder von den Bombenschäden in Belgrad und anderen serbischen Städten, und in den Montagen arrangiert es die Bilder so, daß – wie in jenem Kameraschwenk von einem zerbombten Militärgebäude zu einer in der Nähe befindlichen, unzerstörten Kinderklinik – der Eindruck entstehen muß, die Nato nehme rücksichtslos Tote unter der Zivilbevölkerung in Kauf. Hier wie dort müssen die Kommentatoren den Krieg im Konjunktiv weiterführen. Der serbische Kommentator: Die Bombe hätte auch die Klinik treffen können. Der westliche Kommentator: Die Nato gibt vor, sie habe intelligente Waffen, die zwischen einem Militärgebäude und einer Kinderklinik unterscheiden können.
Die Bilder, die uns aus dem Kosovo-Krieg erreichen, sind visuelle Signale eines Geschehens, dessen Panorama erahnbar, aber ausgeblendet hinter den Bildern liegt und vom Bewußtsein des Zuschauers errechnet werden muß. Die Signale sind das Rohmaterial, die ihnen hinzugefügten Bedeutungen die brisante Software im Krieg der Interpretationen, der inzwischen die Intellektuellen erreicht und an die semantische Front abkommandiert hat. Wir sehen die Videobilder der Nato: Bilder von der zielgenauen Wirkung hochgezüchteter Waffen. Wir sehen die Bilder des jugoslawischen Fernsehens, die uns die Zerstörungen in Belgrad zeigen. Wir sehen auch: das Elend in den Vertriebenenlagern – Bilder, die Serbien nicht sehen darf, um weiter an seine Opferrolle zu glauben. Bilder, an die wir uns halten, um den Glauben nicht aufgeben zu müssen, die Nato führe einen gerechten Krieg.