Die Ukraine als Schlachtfeld in einem Weltordnungskrieg

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Von Wolfgang Kastrup

Der völkerrechtswidrige Überfall russischer Truppen am 24. Februar 2022 auf die Ukraine zeigt für Russland nicht den erwarteten schnellen Sieg. Die Gegenwehr der ukrainischen Truppen ist stärker als ursprünglich erwartet, sicherlich bedingt auch durch die Lieferung größerer Waffenmengen durch Mitgliedsländer der NATO. Die Verluste an Soldaten und Material sind auf beiden Seiten hoch. In besonderem Maße leidet die ukrainische Zivilbevölkerung durch diesen Krieg: Tausende Tote, Verwundete, zerstörte Wohnungen, unbrauchbare staatliche und kommunale Infrastrukturen und Millionen Ukrainer auf der Flucht in den westlichen Teil des Landes oder in angrenzende osteuropäische Länder bzw. nach Westeuropa. Es ist davon auszugehen, dass der Krieg noch länger anhalten wird und wahrscheinlich für Russland verlustreicher wird, da die NATO die Ukraine weiter militärisch aufrüsten wird und die EU und die USA zusätzlich finanzielle Milliardenhilfen schon zur Verfügung gestellt haben bzw. stellen werden. Dies bekräftigte der G7-Gipfel (26.06.-28.06.2022) in Schloss Elmau ausdrücklich. Dort erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz: »Wir werden den Druck auf Putin weiter erhöhen.« Die G7-Gruppe stehe »geschlossen an der Seite der Ukraine« und werde sie »weiter unterstützen«. Diese Unterstützung sehe »so lange wie nötig« finanzielle, humanitäre, militärische und diplomatische Hilfen vor. (Zitiert nach Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 28.06.2022) Die weitreichenden Wirtschaftssanktionen des Westens gegenüber Russland, mit dem Ziel die russische Ökonomie vom Weltmarkt auszuschließen (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.06.2022), sind Teil des Weltordnungskrieges, der von beiden Seiten geführt wird, sowohl von Russland mit seinem imperialen Anspruch gegenüber der Ukraine als auch von der NATO und der EU mit dem Ziel, Russland als strategische Macht auszuschalten. Die geopolitische Lage Russlands ist durch den kommenden Beitritt von Schweden und Finnland in die NATO schon jetzt schlechter als vor dem Einmarsch in die Ukraine. Die massive Aufrüstung der NATO-Staaten (u.a. in Deutschland mit 100 Milliarden) und die Stationierung von immer mehr NATO-Verbänden in den osteuropäischen Ländern sind Konsequenzen des Überfalls Russlands auf die Ukraine.

Völkerrecht als Mittel zum Zweck

Völkerrechtswidrig ist dieser Krieg, keine Frage. Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ist ein Akt der Aggression und die Ukraine hat nach Artikel 51 der UN-Charta (»Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung …«) selbstverständlich das Recht auf Selbstverteidigung. Allerdings klingt der Vorwurf des Bruchs des Völkerrechts aus dem Mund westlicher Politiker*innen und westlicher Medien doppelzüngig, vergisst man doch bewusst den Krieg der NATO gegen Jugoslawien 1999 unter tätiger Hilfe der deutschen rot-grünen Regierung. Der Historiker Bernd Greiner schreibt dazu: »Damit wurde das Völkerrecht gebrochen und die UNO-Charta ausgehebelt – die von der Weltgemeinschaft akzeptierte Norm also, dass Militäreinsätze nur erlaubt sind, wenn sie der Selbstverteidigung dienen oder wenn die Vereinten Nationen sie gutheißen. Nichts dergleichen lag vor.« (Bernd Greiner 2021: Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben, München, 174) Das Narrativ, das so gerne verbreitet wird, dieser Krieg gegen die Ukraine sei der erste Krieg in Europa seit 1945, stimmt also nicht und ist Teil einer westlichen Ideologiestrategie. Ebenso verhält es sich mit den Kriegen gegen den Irak 2003 (hier hat die USA die gesamte Weltöffentlichkeit über die Ursache des Kriegseintritts wegen des angeblichen umfangreichen Arsenals irakischer Massenvernichtungswaffen belogen) und gegen Libyen 2011 durch Frankreich und Großbritannien, die mit dem Völkerrecht ebenfalls nicht vereinbar waren. Ganz zu schweigen von der Duldung, dass die Türkei einen Teil von Zypern unter dem Bruch des Völkerrechts seit 1974 okkupiert hat und ebenfalls völkerrechtswidrig Krieg gegen die Kurden im Irak führt. Dies sind nur einige Beispiele.

Das Völkerrecht wird so Mittel zum Zweck der eigenen geopolitischen, militärischen und imperialen Interessen.

Russische Einmarschbegründungen

Ein Faktor, den die russische Regierung als Begründung für die »militärische Spezialoperation« anführt, ist die Bedrohung durch die NATO-Osterweiterung durch die Aufnahmen von Polen, Ungarn, Tschechien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und der Slowakei, die russische Sicherheitsinteressen missachtet hätten. Eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, die schon die Regierung George W. Bush 2008 befürwortete (vgl. Bernd Greiner 2022: »Attentäter Russland«: Wie man Feuer mit Benzin löscht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3’22, 50), was damals auf den Widerstand von Frankreich und Deutschland stieß, würde für die russische Staatsmacht eine weitere Eskalation der Bedrohung beinhalten. Auf eine Option eines NATO-Beitritts hat die Ukraine unter Präsident Selenskyj in der Tat nicht verzichtet. Russland sieht sich durch die Osterweiterung des westlichen Militärbündnisses ohnehin getäuscht, da es Zusagen der USA gegenüber der damaligen sowjetischen Staatsführung nach 1990 gegeben habe, keine Ausdehnung der NATO nach Osten zu vollziehen. Ob es solche Zusagen in schriftlicher oder in mündlicher Form gegeben hat, ist schon Gegenstand häufiger Kontroversen gewesen. Allerdings belegt ein erst jetzt gefundenes als geheim eingestuftes Dokument aus dem britischen Nationalarchiv die Sichtweise Russlands. Es geht in diesem Schriftstück um ein Treffen der Politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands am 6. März 1991 in Bonn. Thema war die Sicherheit Polens und anderer osteuropäischer Staaten. Bonns Vertreter Jürgen Chrobog erklärte laut Vermerk:

»Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine Nato-Mitgliedschaft anbieten.« Der US-Vertreter Raymond Seitz führte aus: »Wir haben gegenüber der Sowjetunion klargemacht – bei Zwei-plus-Vier- wie auch anderen Gesprächen – dass wir keinen Vorteil aus dem Rückzug sowjetischer Truppen aus Osteuropa ziehen werden.« (https://www.welt.de/politik/ausland/article236986765/Nato-Osterweiterung-Archivfund-bestaetigt-Sicht-der-Russen.html) Berichtet haben darüber sowohl Die Welt v. 18.02.2022 als auch Der Spiegel, ebenfalls v. 18.02.2022.

Jahre später zeigte sich, dass sich die NATO nicht an diese Abmachung gehalten hat. »1995 waren faktisch die Weichen für die Osterweiterung gestellt; 1997 gingen die ersten offiziellen Einladungen zu Beitrittsgesprächen an Polen, die Tschechische Republik und Ungarn; am 12. März 1999 wurden die drei Staaten förmlich in die NATO aufgenommen.« (Jörg Kronauer 2022: Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg, Köln, 13)

Diese Osterweiterung war ein imperialer Akt und sollte zur Schwächung Russlands beitragen. Andreas Zumach bezieht sich diesbezüglich auf George F. Kennan (1904-2005), einen bedeutenden Diplomaten in der amerikanischen Politik und Historiker, der sich in der New York Times (»A fateful error«, 05.02. 1997) in einer vorausschauenden Analyse folgendermaßen äußerte:

»Eine Osterweiterung des westlichen Bündnisses werde nicht nur ›die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung anheizen‹ und damit ›negative Auswirkungen auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben‹. Sie werde auch, so Kennan weiter, ›die Atmosphäre des Kalten Kriegs in die Ost-West-Beziehungen zurückbringen und die russische Außenpolitik in Richtungen treiben, die uns entschieden missfallen werden.‹« (Zitiert nach Andreas Zumach: Putins Krieg, Russlands Krise, in: Le Monde diplomatique, März 2022)

Mit dieser politischen Einschätzung sollte Kennan, der kein Linker und kein Freund der Sowjetunion war, Recht behalten. Hinzu kommt, dass im postsowjetischen Einflussbereich wie im Kaukasus, in Belarus und zuletzt in Kasachstan immer größere oppositionelle Teile der Zivilgesellschaften gegen autoritäre staatliche Strukturen aufbegehren, die nur durch starken repressiven politischen Druck, auch unter russischer Zuhilfenahme, unterdrückt werden konnten und können. Mit dem Rücken zur Wand sieht die rechts-nationale Regierung unter Putin, die ebenfalls oppositionelle Kräfte und Medien im eigenen Land brutal unterdrückt, ihre Stellung als Weltordnungsmacht gefährdet. Mit dem Überfall auf die Ukraine und deren Besetzung will sie sich als strategische Macht großrussischer Interessen gegenüber der westlichen Welt behaupten. Auch wenn durch die westliche Politik die Sicherheitsinteressen Russlands missachtet wurden und das Land dadurch in eine geopolitische Defensive geraten ist, kann dies nicht als Rechtfertigung dienen, einen souveränen Staat zu überfallen und damit selbst imperiale Ansprüche zu erheben.

Ein weiterer Faktor der russischen Staatsführung für diese »Spezialoperation« ist der Vorwurf, in der Ukraine wären Nazis an der Macht, die Russland bedrohen, und es würde ein Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung erfolgen. Die Ukraine müsste »entnazifiziert« werden, so der russische Außenminister Lawrow. Es handelt sich dabei, wie Ernst Piper hervorhebt, um

»eine Anspielung auf den historischen Sieg über Nazi-Deutschland. […] Die russische Bevölkerung soll glauben, dass die Ukraine von ›Faschisten‹ beherrscht wird. Zwar gibt es in der Westukraine bis heute einen gewissen Kult um den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, der während des Zweiten Weltkriegs mit der deutschen Wehrmacht zusammenarbeitete, 1946 nach München ging und 1959 vom KGB ermordet wurde. Die Rechtsextremisten haben aber bei den letzten Parlamentswahlen gerade mal zwei Prozent der Stimmen bekommen, das ist einer der niedrigsten Werte in ganz Europa. Angesichts der Tatsache, dass der ukrainische Präsident Selenskyj Jude ist und ein großer Teil seiner Familie im Holocaust ermordet wurde, ist die Forderung nach ›Entnazifizierung‹ von nicht zu überbietender Widerwärtigkeit.« (Ernst Piper: Putins dunkler Traum, in: Der Freitag, Nr. 9, 3. März 2022)

Winfried Wolf wird bezüglich des genannten ukrainischen Nationalisten Bandera allerdings deutlicher. Er kritisiert, dass in der Ukraine »in den vergangenen zwei Jahrzehnten an vielen Orten Hunderte Stepan-Bandera-Statuen aufgestellt« wurden.

»Stepan Bandera war ein ukrainischer Nationalist, Faschist, Kriegsverbrecher und glühender Antisemit, der mit dem NS-Regime zusammenarbeitete und dessen ukrainischer Kampfverband OUN [Organisation Ukrainischer Nationalisten, W.K.] an der Ermordung von Tausenden Jüdinnen und Juden und Polinnen und Polen beteiligt war. Gegen die Ehrungen protestierten die Regierungen in Warschau, Moskau und Tel Aviv.« (Winfried Wolf: 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine, in: https://zeitung-gegen-den-krieg.de, Nr. 50, Frühjahr 2022)

Für den Moskauer Soziologen Greg Yudin ist der Vorwurf, die ukrainische Politik würde die extreme Rechte unterstützen, »nicht völlig unbegründet«. Weiter heißt es aber:

»Im Februar wurde daraus jedoch eine essentialistische Rhetorik, die besagt, dass das ukrainische Wesen, das angeblich von Natur aus russisch ist, durch ein nationalsozialistisches Element kontaminiert wurde. Die Aufgabe der russischen Armee sei es, die Ukraine von diesem Nazi-Element zu befreien. Dasselbe ›Reinheits‹-Narrativ hat Putin verwendet, als er vom ›inneren Feind‹ sprach, den sogenannten ›Volksverrätern‹, die von der russischen Gesellschaft ›ausgespukt werden sollten wie eine Motte‹, um die Gesundheit der Gesellschaft zu erhalten.« (Greg Yudin: In Russland droht ein faschistisches Regime, in: ak, Nr. 681, 12. April 2022)

Die nationalistische und völkische Identitätspolitik der russischen Staatsmacht mit dem Ziel, Russland wieder zur Großmacht zu machen, soll die tief empfundene Schmach über den Verlust der Gebiete der ehemaligen Sowjetunion tilgen. Über die geplante »Entnazifizierung« der Ukraine durch Russland gibt es eine Veröffentlichung des russischen Politologen, Autoren und Filmproduzenten Timofej Sergejzew durch die staatliche Russische Agentur für internationale Informationen, RIA Nowosti, vom 3. April 2022. Die Redaktion der Blätter für deutsche und internationale Politik, die dieses Dokument ihren Leser*innen zugänglich macht, geht davon aus, dass dieser Text in seiner Grundausrichtung der staatlichen Linie entspricht. In dieser Veröffentlichung heißt es:

»Im Gegensatz etwa zu Georgien und den baltischen Staaten ist die Ukraine, wie die Geschichte gezeigt hat, als Nationalstaat unmöglich, und Versuche, einen solchen ›aufzubauen‹, führen unweigerlich zum Nazismus. Das Ukrainertum ist eine künstliche antirussische Konstruktion ohne eigenen zivilisatorischen Inhalt, ein untergeordnetes Element einer fremden und entfremdeten Zivilisation.«

Das Existenzrecht der Ukraine wird also nicht nur in Zweifel gezogen, es wird verneint. Daraus folgert der Autor, »dass die Entnazifizierung der Ukraine auch ihre unvermeidliche Ent-Europäisierung ist.« Er steigert sich zu einem absurden historischen Vergleich:

»Der Ukronazismus stellt keine geringere, sondern eine größere Bedrohung für den Frieden und für Russland dar als Hitlers Version des deutschen Nationalsozialismus.« (Timofej Sergejzew: Dokumentiert: »Was Russland mit der Ukraine tun sollte«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5’22, 65f.)

Rhetorik in Zeiten des Krieges

Die kriegerische Rhetorik ist in der hiesigen öffentlichen Meinung fast universal geworden, systematisch vereinheitlich, und ähnelt einem Überbietungswettbewerb bezüglich der Notwendigkeit von Waffenlieferungen. Vor allem die Bellizisten bei den Grünen und der FDP, unterstützt durch die Opposition von der CDU/CSU und einer anfangs etwas zögerlichen SPD, zeigen mit ihrer polarisierenden Gegenüberstellung von ›Gut‹ und ›Böse‹, des ›Wir-gegen-die-Anderen‹, wie total verengt der aktuelle politische Diskurs ist. Es gelingt ihnen, die Mehrheit der Bevölkerung auf ihren Kurs einzuschwören, sich als kollektives WIR ansprechen zu lassen, um so eine korrekte Stellungnahme zum Krieg gegen die Ukraine zu erreichen. Das aktuell verwendete Narrativ lautet: »Die Ukraine wurde angegriffen, weil sie westliche Werte für sich reklamierte. Der Krieg, so der zwangsläufige Schluss, richtet sich eigentlich gegen UNS.« (Katharina Döbler: Sprache in Zeiten des Krieges, in: Le Monde diplomatique, Mai 2022) Dies macht Annalena Baerbock unmissverständlich deutlich: »Dieser Krieg ist ein Angriff auf unseren Frieden in Europa. Dieser Krieg ist ein Angriff auf unsere Freiheit.« (Außenministerin Annalena Baerbock bei einer Sondersitzung des Bundestags zum Russlandkrieg am 27.02.2022. www.auswaertiges-amt.de) Auch die alte Feindschaft gegenüber der Sowjetunion kann ebenfalls eine Rolle spielen. Mit einer Einordnung der Strategien von Russland, der Ukraine und der NATO plus EU, die sich nicht der emotional aufgeladenen Feindbildrhetorik unterwirft, wird man schnell zum Putin-Versteher oder zum naiven Weltbetrachter abgestempelt. Aber immerhin kann die Bild-Zeitung, in der Feindbildpropaganda und der deutschen Kriegsmoral mit an vorderster Front, gelegentlich auch ›Erfreuliches‹ verkünden: »Deutsche Panzerfaust zerstört Putin-Panzer.« (31.05.2022) Wenn die Mehrzahl der deutschen Journalisten*innen die repressiven Maßnahmen gegen russische Medien kritisieren, gleichzeitig aber nicht Wikileaks-Gründer Julian Assange, der US-Kriegsverbrechen aufgedeckt und öffentlich bekannt gemacht hat, verteidigen und seine Freilassung fordern, dann ist diese ideologische Vorgehensweise schon sehr bemerkenswert. Assange, an dem ein abschreckendes Beispiel für andere Journalisten*innen demonstriert werden soll, sitzt seit Jahren im britischen Gefängnis und soll an die USA ausgeliefert werden, wo ihn lebenslange Haft wegen Hochverrats erwartet.

»Die Sprache des Rechts verschleiert den Zusammenhang der Macht. Der Fall Assange ist schon lange kein juristischer mehr. Assange ist ein politischer Gefangener, und nach aller Wahrscheinlichkeit wird er es bleiben.« (Jakob Augstein: Der Fall Julian Assange zeigt: Auch bei uns bricht die Macht das Recht, wenn sie es will, in: Der Freitag v. 23.06.202)

Eine vergleichbare Haltung gegenüber Assange zeigt auch die Bundesregierung. So titelt Paul-Anton Krüger: »Im Fall des Whisleblowers verhält sich die Ampel auffällig ruhig.« (Süddeutsche Zeitung v. 22.06.2022) Obwohl doch im Koalitionsvertrag so viel von Menschenrechten die Rede ist. »Sie sollen den Kompass bilden für die deutsche Außenpolitik und verteidigt werden in einer Welt, in der zentrale Akteure deren universelle Gültigkeit infrage stellen. Die Bundesrepublik ist deutlich in ihrer Kritik an Russland und neuerdings auch an China.« (Ebd.) Menschenrechte werden so Mittel zum Zweck, den politischen Gegner zu delegitimieren; es kommt halt auf das Feindbild an, das zur amtlichen Politik passt.

Der Bezug auf die immer wieder zu hörenden freiheitlich-demokratischen Werte, die die Ukraine für sich und für die westlichen Länder verteidigt, wird zu einem Instrument in der Auseinandersetzung. Bei den Verwerfungen und Zumutungen weltweit kapitalistischer Verhältnisse, die Arbeitslosigkeit, Verelendung, Armut und Hunger in vielen Ländern, vor allem des globalen Südens, erzeugen, werden Werte wie Humanität und Menschenrechte ignoriert. Der Bezug auf die freiheitlich-demokratischen Werte bleibt abstrakt. Bedenken sind nicht vorhanden, wenn Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken oder aus den »falschen Ländern« kommen und an den Grenzen zurückgetrieben werden (siehe u.a. die polnische Politik gegenüber nicht erwünschten Flüchtlingen aus afrikanischen Ländern) nach dem Motto: Stand with Ukraine, push back the others. Die freiheitlich-demokratischen Werte haben als materielle Grundlage die Marktwirtschaft, die warenproduzierende kapitalistische Gesellschaft, die sich fast überall auf der Welt durchgesetzt hat. Sie beruht auf einer Akkumulationslogik, auf Wachstum und Naturzerstörung, auf Spaltungen in Gewinner und Verlierer, auf weltweiter Ausbeutung von Menschen und Natur. Die Krisenhaftigkeit dieser Gesellschaftsform ist offensichtlich.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine militaristische Dynamik entfaltet und verschärft die ökonomischen, ökologischen wie politischen Krisen weltweit.

Der Machtkampf eskaliert zu einem
Weltordnungskrieg

Die russische Führung sieht sich vor die Alternative gestellt,

»sich entweder mit der installierten existentiellen Bedrohung abzufinden und sich der Weltmacht [gemeint ist die USA, W.K.] unterzuordnen oder sich gewaltsam den verweigerten Respekt zu verschaffen; so, wie es ihr die Verantwortung für ihre große Nation gebietet: Sie geht von der Drohung zum offenen Krieg über, marschiert in die Ukraine ein, um ihre ›roten Linien‹ gewaltsam durchzusetzen und die andere Seite zur Anerkennung ihrer strategischen Interessen zu zwingen.« (Peter Decker 2022: Gegenstandpunkt. Politische Vierteljahreszeitschrift, München, 1-22, 37)

Insofern der Angriffskrieg der weiteren Aufrüstung der Ukraine durch die NATO sowie auch der NATO selbst und den weiteren Konsequenzen der Wirtschaftssanktionen des Westens zuvorzukommen sucht, geht es für Russland dabei »um eine Existenzfrage als respektierte Großmacht, in der es für Russland keine Alternative gibt.« (Ebd.) Genau das aber ist das Ziel der USA, der anderen NATO-Staaten und der EU: Russland den Respekt als Großmacht abzusprechen und ökonomisch wie militärisch eine Niederlage zuzuführen.

»Aber was unsere Sanktionen leisten – und das ist zentral – ist, Putin zu zeigen: Mittel- und langfristig wird dieser Krieg Ihr Land ruinieren. Putins perfides Spiel ist auf Strecke angelegt; deswegen müssen das auch unsere Sanktionen sein, und deswegen müssen wir sicherstellen, dass uns nicht nach drei Monaten die Puste ausgeht, sondern diese Sanktionen müssen das System Putin im Kern treffen.« So Außenministerin Baerbock in der Sondersitzung des Bundestags zum Russlandkrieg am 27.02.2022. (www.auswaertiges-amt.de)

Frankreichs- und Finanzminister Bruno Le Maire kündigte am 1. März auf France Info an: »Wir werden den totalen Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Russland führen. Wir werden die russische Wirtschaft zum Zusammenbruch bringen.« (Zitiert nach: Jörg Kronauer: Nachts sind alle Kriege grau, in: Konkret 4/2022, 16) Damit führen die verhängten Wirtschaftssanktionen zu einem »Wirtschaftskrieg«, in dem es darum geht, die ökonomischen Grundlagen der russischen Macht zu vernichten. (Vgl. Peter Decker 2022: Gegenstandpunkt, München, 2-22, 71) Dazu gehört es auch, Russland von den internationalen Finanzmärkten abzuschneiden, womit klar wird, wer darüber das Sagen hat bzw. in wessen Besitzstand die Finanzmärkte gehören. (Ebd., 73) Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass auch eigene wirtschaftliche Schäden auftreten und in Kauf genommen werden, die sich in ausbleibenden Im- und Exporten, in unterbrochenen Lieferketten, in geringeren zur Verfügung stehenden Gas- und Erdölkapazitäten, in enormen Preissteigerungen, nicht nur im Energiesektor, zeigen. Eine wirtschaftliche Rezession, nicht nur in Deutschland, ist nicht mehr ausgeschlossen. Hinzu kommt eine Ernährungskrise durch ausbleibende Weizenlieferungen aus der Ukraine und Russland, die sich zu einer Hungerkatastrophe vor allem in Ländern des globalen Südens ausweiten kann. »Mit allen Maßnahmen, die sie [gemeint sind die westlichen Sanktionsmächte, W.K.] gegen den Feind ergreifen, schaden sie unmittelbar sich selbst. Die Wirtschaft, die allemal die Basis ihrer Macht ist, wird zum Instrument der jetzt auf die Tagesordnung gesetzten Gewaltkonkurrenz.« (Ebd., 72) Die zuletzt viel beschworene Einigkeit in der EU scheint aber zunehmend zu wackeln, da die Konsequenzen der Sanktionsmaßnahmen die Mitgliedsstaaten der EU unterschiedlich treffen.

Die Westmächte, die die ukrainische Armee mit Waffen und Ausbildungspersonal versorgen, trotz z.T. anfangs zögerlicher Politik, werden dazu beitragen, den Krieg zu verlängern, um die Verluste und die Kosten für Russland hochzutreiben. Es geht darum, die Armee der Ukraine so auszustatten, dass sie in der Lage ist, von Russland besetztes Gebiet zurückzuerobern und so Putin gezwungen wird, Verhandlungen anzubieten. (Vgl. ZDF Spezial, u.a. zur Strategie der USA, v. 16.06.2022) An den Waffenlieferungen und an der Ausbildung ukrainischer Soldaten an schwerem militärischem Gerät in Deutschland beteiligt sich ebenfalls die deutsche Regierung.

»Für die amerikanische Weltmacht und ihre Verbündeten geht es hier nämlich – genauso grundsätzlich, wie es Russland um seine Selbstverteidigung geht – um einen Angriff auf die Weltordnung, um eine Infragestellung ihrer Weltherrschaft, praktisch ins Werk gesetzt von einer Macht, die aufgrund ihres militärischen Potentials zu dieser Infragestellung imstande ist und deswegen für Amerika eine unerträgliche, unbedingt zu beseitigende Schranke darstellt.« (Peter Decker 2022: Gegenstandpunkt, München, 1-22, 39)

Mahnende Worte bezüglich der ungebremsten Aufrüstung der Ukraine kommen von Jürgen Habermas: »Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konflikt nicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt.« (Süddeutsche Zeitung v. 28.04. 2022) Russland will seine Ambitionen als hegemoniale Großmacht im Gebiet der alten Sowjetunion erhalten, den USA geht es um ihre hegemoniale Weltherrschaft, die allerdings durch den fluchtartigen Abzug aus Afghanistan einige Risse erhalten hat. Eine direkte Intervention der NATO scheint bislang ausgeschlossen. Die Eskalationsdominanz beanspruchen aber beide Seiten für sich: die NATO mit der immer stärkeren Aufrüstung von schweren Waffen für die Ukraine, um die russische Armee entscheidend zu besiegen, Russland mit der Drohung, notfalls auch atomare Waffen einzusetzen. Neben der wachsenden Intensität von Waffenlieferungen an die Ukraine geht es auch um geheimdienstliche Erkenntnisse über die russische Armee, um die Ausbildung ukrainischer Soldaten an NATO-Waffensystemen und um eine ökonomische wie diplomatische Isolation Russlands. »Die Lesart von Militäranalysten an der Akademie in Annapolis/Maryland (USA) lautet: ›Biden will Putin in die Knie zwingen.‹« (Zitiert nach Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 28.05.2022) Genau davor warnt aber Henry Kissinger, Urgestein US-imperialistischer Außenpolitik.

»Kissingers Botschaft, gesendet über das Weltwirtschaftsforum Davos, lautet zwischen den Zeilen: Amerika muss Kiew dazu bewegen, in Friedensverhandlungen gegenüber Moskau dauerhafte territoriale Zugeständnisse im Donbass wie auf der Krim zu machen. Und darauf verzichten, Russland, das seit 400 Jahren ein bestimmender Faktor in Europa sei, weiter auszugrenzen, zu demütigen und so in die Arme Chinas zu treiben. Unterlässt man das, so doziert Kissinger, wächst das Risiko, dass der Krieg ausartet und eine globale Katastrophe auslöst.« (Ebd., vgl. auch Süddeutsche Zeitung v. 27.05.2022)

Dieser Ratschlag von Kissinger stößt jedoch weder in Washington noch in anderen westlichen Ländern auf Zustimmung. Das Gegenteil ist der Fall: Die Ziele sind auf einen ukrainischen Sieg ausgerichtet. Allerdings warnt auch der französische Präsident Macron überraschenderweise vor einer Demütigung Putins. (ZDF Heute Nachrichten v. 04.06.2022, 19 Uhr)

Mit Russland und China auf der einen Seite und den USA mit den NATO-Partnern auf der anderen Seite scheinen sich zwei neue Machtblöcke herauszubilden, die in einem Konkurrenzkampf um strategische militärische und wirtschaftliche Einflusszonen, um Rohstoffe und um politische Macht stehen. Der amerikanische Präsident Biden hat gegenüber China als aufstrebende Weltmacht klar Stellung bezogen. Er sprach »was der neue Rivale nicht werden darf: ›Das führende Land der Welt, das wohlhabendste Land der Welt und das mächtigste Land der Welt. Das wird nicht passieren, nicht mit mir, denn die Vereinigten Staaten werden weiterhin wachsen und expandieren.‹« (Joe Biden, zitiert nach Bernd Greiner 2021: Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben, München, 217) Die USA haben begonnen, ozeanische Bündnisse zu festigen, die die NATO im Atlantik, Japan, Südkorea und Taiwan im Pazifik umfassen, die sich gegen den Aufstieg Chinas als neue Weltmacht, als neuer Hegemon, richten. Hinzu kommt der am 12. September 2021 neu gebildete Militärpakt AUKUS (Australia, United Kingdom, United States), der zum Ziel hat, Chinas Aktivitäten im Südchinesischen Meer entgegenwirken. Es hat große militärische Bedeutung, wer dort die Kontrolle hat, da es um wichtige Inselgruppen geht, die von China, von Taiwan, von Vietnam, von den Philippinen, aber z.T. auch von Malaysia und Brunei beansprucht werden. (Vgl. Jörg Kronauer 2022: Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg, Köln, 141ff.) China ist auf seiner Seeseite eingeschnürt von einer Reihe von US-Militärstützpunkten und Stützpunkten von Verbündeten der USA. Der Konflikt im Südpazifik wird noch gefährlicher durch die Dauerrivalität zwischen China und Taiwan und Chinas Ansprüche gegenüber Taiwan. »In Singapur droht der chinesische Verteidigungsminister Taiwan offen mit Krieg, wenn es seine Unabhängigkeit erklären sollte.« (Friederike Böge/Till Fähnders: Warum die Bedrohung für Taiwan zunimmt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.06.2022)

Auch Russland und China planen eine
Neuordnung der Welt.

»Beide Staatsführer teilen nämlich die gleiche Vorstellung von der Neuordnung der Welt, erst im Februar unterzeichneten sie ein gemeinsames Manifest in Peking, das eine ›neue Ära in der Weltordnung‹ einleiten sollte. China schloss sich darin auch zum ersten Mal der russischen Forderung an, die Nato-Osterweiterung zu stoppen. Für die chinesische Führung dient der Konflikt wiederum der eigenen Rivalität mit den USA. Die Staatspropaganda hat erreicht, dass ein großer Teil der Chinesen nicht Russland, sondern die Vereinigten Staaten für den Aggressor halten.« (Lea Sahay: Projekt Neuordnung der Welt, in: Süddeutsche Zeitung v. 22.06.2022)

Mit der Initiative zu einer geopolitischen Neuordnung hat China schon seit einigen Jahren begonnen und seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss ausgedehnt. So hat das »Reich der Mitte im Rahmen seiner Neuen-Seidenstraße-Offensive« in die Infrastruktur afrikanischer Länder und in Südosteuropa viel Geld investiert, um Häfen, Straßen und Bahnstrecken zu bauen. »Es hat Minen gekauft, in denen Lithium und Kobalt gefördert werden, zwei Rohstoffe, die Europa für seine Elektroauto-Ziele braucht. Es hat sich von einem Entwicklungsland zu einem ’Systemwettbewerber‹ entwickelt, wie der Industrieverband BDI konstatiert.« (Zitiert nach Julia Löhr/ Manfred Schäfers: Das 600-Milliarden Luftschloss, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.06.2022)

Kommt es nach dem Krieg in der Ukraine, der aller Wahrscheinlichkeit noch eine lange Zeit dauern wird, zu einer noch größeren Auseinandersetzung zwischen den USA und China? Viele Zeichen deuten darauf hin. Die Ukraine ist nur das erste Schlachtfeld der Ausrichtungskämpfe in einer neuen multipolaren Weltordnung, in deren Zentrum die gefährliche Rivalität zwischen den USA und China steht.

Stand: 29.06.2022

Wolfgang Kastrup ist Mitglied der Redaktion des DISS-Journals.

Dieser Artikel stammt aus dem gemeinsamen Sonderheft „Für eine andere Zeitenwende!“  – eine Gemeinschaftsproduktion der Zeitschrift kulturrevolution und des DISS-Journals aus dem Juli 2022.  Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.