Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft
Von Peter Höhmann
Steffen Mau hat ein lesenswertes Buch verfasst. Er beschreibt zentrale Wandlungsvorgänge in Ostdeutschland und verbindet bei diesem Thema sehr anschaulich den Transformationsprozess in der früheren DDR mit den lokalen Veränderungen in dem Rostocker Stadtteil Lütten Klein.
Das Buch ist in zwei größere Abschnitte gegliedert. Der erste befasst sich mit den Lebensbedingungen in dem Rostocker Quartier und in der Gesellschaft der DDR. Der zweite stellt vor dem Hintergrund dieser Folie zentrale Veränderungen seit der Wiedervereinigung dar. Der soziale Wandel von der DDR nach Ostdeutschland wird überzeugend und kenntnisreich unter 13 Schwerpunktthemen diskutiert, in denen sowohl die Lebenslagen in den lokalen Gemeinschaften als auch die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen aufgezeigt werden. Die hierfür zugrunde gelegten Quellen sind breit gefächert. Sie umfassen persönliche Stellungnahmen, ebenso wie Photos, sozialstatistische Daten oder Befunde aus anderen Veröffentlichungen. Unter dem Leitbegriff einer „frakturierten Gesellschaft“ fasst Mau seine Informationen in einem Konzept zusammen, das sozialstrukturelle Kernelemente und mentale Lagen miteinander verbindet. (S. 14 und S. 244ff.)
Dem Autor ist eine Arbeit gelungen, die in den Sozialwissenschaften durchaus nicht immer eingelöster Standard ist: Das Buch enthält eine theoretisch klar aufbereitete Interpretation personaler und struktureller Änderungen in Ostdeutschland. Zugleich ist es anschaulich und in einer lesbaren Sprache geschrieben, ohne dabei einen wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben. In der Sache sind die auch in anderen Arbeiten immer wieder vorgebrachten umfassenden strukturellen Ausgliederungsvorgänge aus dem gewohnten Alltag und, hierauf bezogen, die Verunsicherung und das Gefühl der Benachteiligung in der Bevölkerung gut nachvollziehbar. Dies gilt etwa für die Umwälzung der Beschäftigungsverhältnisse (S. 150ff.), eine Neuordnung und Verstärkung von Mobilitätsblockaden (S. 160ff.) oder auch die Überschichtung der ostdeutschen Sozialstruktur durch westdeutsche Transfereliten (S. 177ff.). Die Rede von einer gesellschaftliche Krise, der sich die Menschen in der DDR ausgesetzt sahen, ist so unter unterschiedlichen Schwerpunkten klar nachzuvollziehen: Über den Bruch mit den bisherigen Wissens- und Erfahrungsbereichen, über die unzureichenden Kenntnisse zu den dann folgenden Handlungsmustern oder auch über eine Gemeinsamkeit in den Deutungen in Ost und West.
Hat das Buch so in der Beschreibung der Umbruchsituation seine Stärken, so hätte ich mir zwei Ergänzungen gewünscht. Mit Blick auf die Rede des Verfassers von einer auch aktuell bestehenden „ostdeutschen Gesellschaft“ (z.B. S. 247 f.) wären weitere Ausführungen, etwa zu weiter bestehenden oder geänderten gemeinschaftlichen Konfliktlinien und Kontrollmustern, sicherlich hilfreich gewesen. Vor allem hätte ich mir aber zusätzliche Hinweise über einen Vergleich mit den Verhältnissen im Saarland oder im Ruhrgebiet vorstellen können, um so die gesellschaftliche Situation in Ostdeutschland gerade im Kontrast zu den im Westen bestehenden strukturellen und kulturellen Änderungen begrifflich und sinnlich genauer einzuordnen.
Dr. Peter Höhmann, Oberkirchenrat i.R., ist Mitarbeiter im AK Gesellschaftstheorie im DISS
Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.