Klasse und Klassenkampf – längst überholte Begriffe?

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Von Wolfgang Kastrup

Alles schreitet fort in dem Ganzen, nur

bis heute das Ganze nicht.“ (Adorno)

Sind die Begriffe Klasse und Klassenkampf überhaupt noch zeitgemäß und nicht Bezeichnungen vergangener Zeiten des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts? In den Sozialwissenschaften wird die Arbeiterklasse im Wesentlichen nicht mehr entdeckt, gibt es doch soziale Lagen und soziale Milieus, in denen die Lohnabhängigen zu finden sind. Und gar die Bezeichnung Proletarier wird eher als Beleidigung aufgefasst, der Prolet, heute der „Proll“, ungehobelt, roh und ungesittet. Nichts deutet mehr auf die Rebellion der Arbeiterklasse, deren starker Arm die Räder stillstehen lassen konnte. Davor fürchten sich heute weder Regierung noch Unternehmer. Also unzeitgemäß und zu entsorgen. Folglich ist davon auszugehen, dass die Grundlagen und Probleme, die diese Begriffe überhaupt hervorbrachten, verschwunden sind. Aber was ist dann mit denen, die in Armut leben, die Arbeitslosen, die millionenfach prekär Beschäftigten? Die individuellen Leiderfahrungen dieser Menschen – unsichere Lebensplanungen, zunehmende Arbeitshetze, der Kampf um bezahlbaren Wohnraum, der stärker werdende Konkurrenzdruck und der Zwang zur individuellen Selbstoptimierung – täglich können wir das erfahren und davon in den Medien hören und lesen. Und was ist mit den hunderttausenden Migranten*innen, die als Erntehelfer, auf dem Bau, im Pflegebereich und in der Fleischindustrie unter unwürdigen Arbeitsbedingungen zu einem geringen Lohn schuften müssen? Die ursächlichen Probleme des marktwirtschaftlichen Produzierens sind also doch nicht vorbei. Das Wort ‚Arbeiterklasse‘ ist verschwunden, die ‚Sache‘ in ihren Grundlagen ist geblieben.

Trotzdem hat sich im Lauf des vergangenen Jahrhunderts und der letzten Jahrzehnte für die abhängig Beschäftigten natürlich Einiges geändert. Nicht nur das schon lange bestehende allgemeine und gleiche Wahlrecht und die Stärkung der Gewerkschaften, sondern für viele Menschen geregelte tarifliche Löhne mit einem einigermaßen Wohlstand und den entsprechenden Konsummöglichkeiten, verbunden mit einem Freizeitverhalten, das Reisen ermöglicht. Hinzu kommt z.T. auch ein Immobilienbesitz. Also doch eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ von der einst Helmut Schelsky in den 1950er Jahren sprach oder entsprechend Theodor Geiger mit seinem Begriff von der „Klassengesellschaft im Schmelztiegel“. Damit sollte im westlichen Nachkriegsdeutschland die Klassenfrage erledigt werden, da ja durch höhere Löhne, Konsummöglichkeiten, Mobilität und Reisen eine neue Lebensqualität geschaffen worden sei; folglich ein gleichberechtigter Bürger mit neuer sozialer und nationaler Identität.

Adorno: Klassengesellschaft besteht weiter

Doch diese behauptete gemeinsame Sicht auf die Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland war nur eine scheinbare wie der Soziologentag 1968 in der inhaltlichen Auseinandersetzung zwischen Theodor W. Adorno und Ralf Dahrendorf deutlich machte. „Denn Adorno erdreistete sich in den Augen seiner Kontrahenten, trotz oder gerade wegen aller eingeräumten empirischen Modifikationen gegenüber den von Marx analysierten gesellschaftlichen Zusammenhängen nach wie vor von einer kapitalistischen Klassengesellschaft auszugehen und hierbei auch die Klassenfrage für zentral zu halten.“ (Thien 2014, 164) Nach Adorno und Jaerisch hat die bürgerliche Gesellschaft es aber geschafft, die Arbeiterklasse weitgehend zu integrieren. Dieser Integrationsprozess ist auch durch materielle Zugeständnisse der Kapitalseite gegenüber den Forderungen der Gewerkschaften erreicht worden. Ein Klassenbewusstsein ist aber nicht automatisch mit dem Vorhandensein einer sozialen Klasse verbunden, was auch für den Klassenkampf gilt. „Der Klassenkampf alten Stils, im Sinn des Marx’schen Manifests, ist, einem Wort von Brecht zufolge, virtuell unsichtbar geworden. Seine Unsichtbarkeit selber ist nicht zu trennen von den Strukturproblemen. Tatsächlich sind die Manifestationen des Klassenverhältnisses in weitem Maß in den Funktionszusammenhang der Gesellschaft eingebaut worden, ja als Teil ihres Funktionierens bestimmt. Das ist allerdings kein Novum, als die Gesellschaft sich nicht nur trotz des Klassenverhältnisses am Leben erhielt, sondern durch es hindurch.“ (Adorno/Jaerisch 1968/1972, 183) Beide beschreiben hier die Funktionalität der Lohnabhängigen für die politische Ökonomie des Kapitals. Dazu gehört auch die Integration des sozialen Konflikts, der geregelt und kanalisiert immer wieder reproduziert wird. „Die gegenwärtige Lehre vom sozialen Konflikt kann sich darauf stützen, daß subjektiv der Klassenkampf vergessen ist, wofern er je die Massen ergriffen hatte.“ (Ebd., 184) Denn der Begriff des sozialen Konflikts, der aus der amerikanischen Soziologie entnommen ist, „ebnet positivistisch die Marx’sche Lehre vom Klassenkampf ein“. (Ebd., 177) Für Adorno und Jaerisch heißt das aber nicht, dass durch diesen Integrationsprozess auch der objektive Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital verschwunden ist. „Nur seine Manifestation im Kampf ist neutralisiert. Die ökonomischen Grundprozesse der Gesellschaft, die Klassen hervorbringen, haben aller Integration der Subjekte zum Trotz sich nicht geändert.“ (Ebd., 184) Diese Erkenntnis steht im Gegensatz zu der fetischisierten Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft, wo Kapital, Grundeigentum und Arbeit als selbständige Quellen von Wert erscheinen, so die volkswirtschaftliche Lehrmeinung und der Alltagsverstand. Das würde dann nämlich bedeuten, dass sie das Einkommen aus ihrem Produktionsfaktor erhalten: Kapital erzeugt Gewinn bzw. Zins, Grundeigentum Grundrente und Arbeit resp. Arbeitskraft Lohn. Der gezahlte Lohn soll dann den Wert der Arbeit darstellen. Nicht die abstrakte, vergegenständlichte Arbeit erscheint als Substanz des jährlich produzierten Gesamtwertes, sondern die Trinität der verselbständigten Erscheinungsformen aus Kapital, Grundeigentum und Arbeit. In den Lehr- und Schulbüchern wird die Lehre von den drei Produktionsfaktoren, d.h. Arbeit, Boden und Kapital, als notwendige wie natürliche Grundlage für den marktwirtschaftlichen Prozess dargestellt. Unterstellt wird dabei, dass Arbeit gleich Lohnarbeit bedeutet und zwischen beiden kein Unterschied gemacht wird. Die Mehrarbeit, die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, verschwindet so. Kapitalistische Produktionsverhältnisse erscheinen so als sachliche, natürliche und unveränderliche Gegebenheiten bar jeder historischen Form gesellschaftlicher Produktionsprozesse. Hierin drücken sich Verkehrung und Mystifikation aus. Marx hat den Fetischbegriff im Band 1 des Kapitals (MEW 23) entwickelt.

Adorno und Jaerisch zufolge ist jeder Lohnkonflikt „latent stets noch Klassenkampf“, allerdings ist dieser „unsichtbar unter der Oberfläche des Partnertums“. Der Antagonismus verschiebt sich nach ihrer Ansicht in „gesellschaftliche Randphänomene“, die noch nicht so ganz von der Integration erreicht wurden oder im „Abhub der Erscheinungswelt“, der durch den antagonistischen Prozess erzielt wird: Irrationale Ausbrüche von Arbeitskräften und Konsumenten, die aus dem Integrationsprozess herausgefallen sind und Aggressionen gegen ausgestoßene Minderheiten und politisch gegen solche äußern, die sich nicht konform verhalten. „Der Zerfall in zentrifugale Partikeln ist die Kehrseite sozialer Integration. Je rücksichtsloser sie das Verschiedene unter sich begräbt, desto mehr zersetzt unterirdisch sich das soziale Gefüge.“ (Adorno/ Jaerisch 1968/1972, 188) Diese Analyse zeigt, wie Adorno und Jaerisch die Konsequenzen kapitalistischer Verhältnisse auf den Punkt bringen.

Demirović gibt aber zu bedenken, dass dabei den beiden Autoren aus dem Blick gerät, dass sich aus solchen Verschiebungen ins Private „wiederum zahlreiche breite soziale Bewegungen und gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen bilden können, die jeweils das Potenzial haben, das Gesamte der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern und ihrerseits konflikttheoretisch eingehegt werden durch Praktiken, die Antagonismen zu Agonismen herunterkühlen […].“ (Demirović 2020, 434f.)

Bedeutung des „automatischen Subjekts“

Für Friedrich Engels fällt der erste Klassengegensatz in der Geschichte – und das sollte nicht unerwähnt bleiben – zusammen mit „der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche.“ (Engels 1884/1972, 68) Die Einzelehe war zwar für ihn ein geschichtlicher Fortschritt, zugleich aber auch ein relativer Rückschritt in dem Zurückdrängen der Frau. Die Begriffe Klasse und Klassenkampf werden von Marx und Engels an etlichen Stellen ihrer Werke genannt. Systematisch haben aber beide es nicht mehr geschafft, über Klassen zu schreiben. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Kategorie ‚Klasse‘ zu dem „automatischen Subjekt“, von dem Marx im Kapital spricht. Für Robert Kurz ist dieses automatische Subjekt der eigentliche Gegenstand der Kapitalismuskritik und „Klassen und überhaupt sämtliche sozialen Kategorien […] bloße Funktionskategorien“ für dieses übergeordnete automatische Subjekt. Er schlussfolgert, dass Kapitaleigentümer und deren Manager „bloße Funktionäre der Kapitalakkumulation als Selbstzweck“ sind und die Menschen sich in „Anhängsel einer verselbständigten Ökonomie verwandelt“ haben, „deren Bewegungsgesetzen sie allesamt ausgeliefert sind […].“ (Kurz 2001, 56f.) Was ist die Bedeutung des automatischen Subjekts für Marx? Erst einmal klingt das gegensätzlich. Im Unterschied zu W-G-W (Ware, Geld, Ware), wo der Konsum das Resultat bildet, muss die Zirkulation G-W-G‘ (also Geld-Ware-Geld mit Inkrement oder Zuwachs, das Marx als Mehrwert, als surplus value benennt) anders gesehen werden: „In der Zirkulation G-W-G‘ funktionieren dagegen beide, Ware und Geld, nur als verschiedne Existenzweisen des Werts selbst, […]. Er geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt.“ (Marx MEW 23, 168f.) In dieser Zirkulation G-W-G‘ ist der Wert der Zweck des ganzen Prozesses, da hier Mehrwert zugesetzt wird. „Insofern ist der Wert das Subjekt des Verwertungsprozesses. Allerdings ist Verwertung der einzig mögliche Zweck des Werts. Insofern ist der Wert ein ‚automatisches‘ Subjekt. So wie der Automat nur über die Fähigkeit zu einem einzigen Prozess verfügt (der Fahrkartenautomat kann Fahrkarten ausdrucken und sonst nichts), ist auch der Wert nur zu einem einzigen Prozess in der Lage, nämlich sich selbst zu verwerten.“ (Heinrich 2013, 111f.) Damit stellt sich die Frage, ob die Menschen, wovon Kurz ja ausgeht, nur Anhängsel des Verwertungsprozesses sind, wo Intentionen und Handeln der Menschen keine Bedeutung mehr zu haben scheinen. Das Subjekt ist also kein Wert als handelnder Akteur, handelnde Akteure können nur die Menschen sein. Nur sie sind in der Lage, Waren dem Markt zuzuführen. Es ist Heinrich zuzustimmen, wenn er schreibt: „Der Wert als ‚automatisches Subjekt‘ ist Resultat des Handelns der Menschen, allerdings eines Handelns, das der Logik der Zirkulationsform G-W-G‘ folgt.“ (Ebd., 112) Und das ist m.E. keine widersprüchliche Formulierung.

Kapitalverhältnis als Ausgang für den Kampf

Nicht nur im Hauptwerk Das Kapital, sondern auch in den vielen weiteren Werken von Marx und Engels ist davon die Rede, dass Klassen integraler Bestandteil des gesamten kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses sind. So formuliert Marx die wichtige Erkenntnis, dass das Kapitalverhältnis selbst als Ausgang für den Kampf der beiden Klassen gesehen werden muss: „Der Kampf zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter beginnt mit dem Kapitalverhältnis selbst.“ (Marx MEW 23, 451) Für Demirović zeigt diese Formulierung, dass „das Kapitalverhältnis von vornherein als ein soziales Verhältnis des Kampfes begriffen werden muss. Dass es überhaupt Kapital gibt und mithin also Verwertung von Kapital durch Aneignung von lebendigem Arbeitsvermögen durch Kapitaleigentümer, ist selbst bereits Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen Individuen, die sich darin zur Klasse formieren.“ Auch die in der Zirkulation erfolgte Verwandlung in ein automatisches Subjekt ist für ihn „eine Gestalt des Klassenkampfs und wird im und durch den Klassenkampf selbst reproduziert.“ (Demirović 2020, 430) Es geht also bei den Begriffen Klasse und Klassenkampf um die Aneignung der Mehrarbeit und damit um Ausbeutung.

Klassen: Widerspruch und Klassenkampf

Für Nicos Poulantzas werden gesellschaftliche Klassen im Wesentlichen, aber nicht ausschließlich, durch die Stellung im Produktionsprozess bestimmt. Dieser ökonomische Bereich spielt zwar eine entscheidende Rolle, der politische und ideologische Bereich darf hier aber nicht vergessen werden, da auch sie wichtige Rollen einnehmen. Denn hier geht es um die Reproduktion der Gesellschaft und ihrer Produktionsweise. „Die gesellschaftlichen Klassen bedeuten für den Marxismus Widersprüche und Klassenkampf in ein und derselben Bewegung: die gesellschaftlichen Klassen existieren nicht a priori, als solche, um anschließend in den Klassenkampf einzutreten, was die Annahme zuließe, es existierten Klassen ohne Klassenkampf. Die gesellschaftlichen Klassen umgreifen Klassenpraktiken, d.h. den Klassenkampf, und sind nur in ihrem Gegensatz faßbar.“ (Poulantzas 1975, 14) Der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital beinhaltet also gleichzeitig den Klassenkampf, Widerspruch/Antagonismus und Klassenkampf sind Bestimmungen gesellschaftlicher Klassen. Das heißt auch, dass Klassen immer in der Auseinandersetzung sind, also immer im Kampf. Für diesen Klassenkampf sind wiederum die politischen und ideologischen Verhältnisse wichtig. Dass bei diesen Kämpfen der Begriff der Klasse keine Rolle spielt bzw. nicht vorkommt, lehrt die tägliche Erfahrung. So ist Demirović zuzustimmen, wenn er schreibt: „Allerdings finden viele dieser Kämpfe nicht in Begriffen der ‚Klasse‘, sondern in vielfältigen Formen statt: als Kämpfe des Volkes gegen die Macht, der Bürger_innen um Rechte, der Frauen gegen das Patriarchat, der Rassifizierten gegen die Suprematie, der Narurschützer_innen gegen die Industrie oder den Konsumismus.“ (Demirović 2020, 431) Bezüglich des ökonomischen Bereichs muss als Klassenkampf nicht nur der Kampf gegen den Abbau von Arbeitsplätzen und der um die Lohnhöhe verstanden werden, sondern auch um Arbeitszeiten, betriebliche Hierarchien, Sicherheitskontrollen, Verhalten am Arbeitsplatz, Pausen (auch die für das Rauchen) oder Abwesenheiten. Klassenkämpfe der Arbeiterklasse können sich aber nicht nur gegen das Kapital richten, sie können auch gegen den Staat erfolgen, wenn dieser restriktiv Gesetze erlässt, die für die Lohnabhängigen Nachteile erbringen, so z.B. beim Kündigungsschutz oder bei der sozialen Absicherung. Wenn deutlich wird, dass Klassen sich immer im Kampf befinden, dann betrifft das nach Demirović auch die Existenzformen der Klassen, sodass auch die Lebensweisen, die Wohnform, die Erziehung und Ausbildung der Kinder, das Ernährungs- und Freizeitverhalten usw. dazugehören. (Vgl. ebd.) Bei aller scheinbaren Plausibilität der Argumentation stellt sich m.E. trotzdem die Frage, ob es eine Grenze für diesen Begriff gibt. Wenn alle gesellschaftlichen Konflikte Klassenkämpfe sind, beginnt dann nicht eine Inflationierung des Begriffes? Ein weiterer Aspekt muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, der bei Poulantzas und Demirović nicht angesprochen wird. Wenn bei Lohnkämpfen von den Gewerkschaften ein „fairer Lohn“ oder ein „gerechter Lohn“ gegenüber der Kapitalseite eingefordert wird, dann geht es nicht nur um materielle Verbesserungen für die Lohnabhängigen. In diesen Formulierungen um die Lohnhöhe kommt das fetischisierte Bewusstsein zum Ausdruck, dass mit dem Lohn der Wert der Arbeit bezahlt wird und zwischen Lohnarbeit und Arbeit kein Unterschied gemacht wird (vgl. oben). Das bedeutet, dass auch Klassenkämpfe nicht frei von fetischisierten Bewusstseinsinhalten sind.

Die wichtige Theorie von Poulantzas unterscheidet bei den gesellschaftlichen Klassen noch Fraktionen und Schichten zur Unterscheidung im Ökonomischen „und hier ganz besonders der Rolle der politischen und ideologischen Verhältnisse“. Eine weitere Unterteilung erfolgt durch die „gesellschaftliche[n] Kategorien, die hauptsächlich durch ihre Stellung in den politischen und ideologischen Verhältnissen abgesteckt sind: das ist der Fall für die staatliche Bürokratie, umrissen durch ihr Verhältnis zu den Staatsapparaten, und für die Intellektuellen, die durch ihre Rolle der Ausarbeitung und Umsetzung der Ideologie definiert sind.“ (Poulantzas 1975, 23f.) Das bedeutet aber nicht, dass diese gesellschaftlichen Gruppen unabhängig von ihrer jeweiligen Klasse gesehen werden können, sondern Fraktionen sind Klassenfraktionen wie z.B. die Fraktion der Handelsbourgeoisie zur Klasse der Bourgeoisie zu zählen ist. Die Arbeiteraristokratie ist eine Schicht der Arbeiterklasse. Bezüglich der Angehörigen der gesellschaftlichen Kategorien gilt, dass sie aus mehreren gesellschaftlichen Klassen stammen. (Vgl. ebd.) Allerdings scheint mir hier die Unterscheidung von Fraktion und Schicht bei Poulantzas ungenau., da er mal den Begriff Fraktion und mal den Begriff Schicht gebraucht, ohne eine Klärung vorzunehmen.

Deutsche Gesellschaft: Fünf Klassen

Für die deutsche Gesellschaft unterscheidet Thomas Sablowski fünf Klassen: 1. Kapitalistenklasse, 2. Mittlere Bourgeoisie, 3. Kleinbürgertum, 4. Lohnabhängige Mittelklasse und 5. Arbeiterklasse. Die einzelnen Klassen bilden jeweils keinen homogenen Block, sondern sind durch verschiedene Fraktionen und durch Spaltungen nach Geschlecht, Hautfarbe und nationaler Herkunft unterteilt. (Vgl. Sablowski 2020, 520-522)

Zu 1. Kapitalistenklasse: Großer Umfang an Privateigentum an (Re-)Produktionsmittel, sodass man ausschließlich von der Arbeit anderer leben kann. Hierzu zählt auch das Topmanagement wegen der unmittelbaren Machtbefugnis und der sehr hohen Gehälter. Es finden Fraktionierungen zwischen Industrie-, Handels- und Bankkapital statt.

Zu 2. Mittlere Bourgeoisie: Geringerer Umfang an Privateigentum an (Re-)Produktionsmittel, sodass zwar Lohnarbeiter*innen ausgebeutet werden, die eigene Mitarbeit in dem Unternehmen aber erforderlich ist. Es ist Mischform zwischen kapitalistischer und kleinbürgerlicher Produktionsweise. Interessant ist hier, dass die Bundesregierung bei den Unterstützungsprogrammen wegen der Corona-Krise Betriebe mit unter zehn und über zehn Beschäftigten unterschieden hat. Die unter zehn Beschäftigten beziehen sich Sablowski zufolge auf Unternehmen der mittleren Bourgeoisie. Es finden ähnliche Fraktionierungen wie oben statt.

Zu 3. Kleinbürgertum: Soloselbständige und Eigentümer von Familienunternehmen einschließlich Familienangehörigen, die mitarbeiten müssen. Keine Beschäftigung von Lohnarbeiter*innen. Sie leben von der eigenen Arbeit. Soloselbständige sind oftmals Scheinselbständige, da sie von einem Auftraggeber abhängig sind. Auch hier ähnliche Fraktionierungen, s.o.

Zu 4. Lohnabhängige Mittelklasse: Beschäftigte im öffentlichen Dienst, in den Unternehmen des Non-Profit-Sektors, in den privaten Haushalten und Lohnabhängige in den kapitalistischen Unternehmen, hier Meister, Techniker und Ingenieure mit Aufsichtsfunktion (bis mittleres Management). Fraktionierungen zwischen den Beschäftigten der einzelnen Branchen.

Zu 5. Arbeiterklasse: Lohnabhängige Beschäftigte, die ausgebeutet werden und keine Herrschaftsfunktion im Betrieb ausüben. Fraktionierungen zwischen Arbeiter*innen in der Produktion (produktive Tätigkeit) und denen in dem Zirkulationsprozess (unproduktive Tätigkeit da keine Mehrwertproduktion). Fraktionierungen in Facharbeiter, Angelernte und Ungelernte.

Hinzukommen, wie schon erwähnt, Spaltungen nach Geschlecht, Hautfarbe und nationaler Herkunft. Die Klassenverhältnisse sind, so Sablowski, komplex und die Interessen der Klassen nicht einheitlich, sondern in sich widersprüchlich.

Fragen und weitere Überlegungen

So weit die Klasseneinteilung von Thomas Sablowski, die allerdings einige Fragen aufweist, die sich aber bei solchen konkreten Einteilungen häufig ergeben. So stellt sich die Frage, weshalb der Autor neben objektiven Antagonismen als Unterscheidungsfaktoren empirische Daten weitgehend außer Acht lässt. Hinsichtlich der Kapitalistenklasse muss zudem gefragt werden, ob im Stadium von transnationalen Unternehmen auch von einer transnationalen Klasse gesprochen werden kann, obwohl es keinen kapitalistischen Weltstaat gibt. Bezüglich der lohnabhängigen Mittelklasse werden hier alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes angeführt. Hier ist die Spannbreite der Beschäftigungsverhältnisse aber enorm groß, sodass hier nicht nur Fraktionierungen eine Rolle spielen können. Bei der Arbeiterklasse wird die große Zahl der Leiharbeiter, der prekär Beschäftigten und der hunderttausenden Migranten*innen, die im Pflegebereich, als Erntehelfer, in der Fleischindustrie und im Baugewerbe arbeiten, nicht erwähnt. Wie erfolgt zudem die Eingruppierung der Arbeitslosen und Obdachlosen? Wie sind die klassenübergreifenden Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse zu beurteilen, die durch Rassismus und Sexismus ausgelöst werden? Ferner sollte auch die Unterscheidung zwischen einem strukturellem und einem historischen Klassenbegriff beachtet werden. Schließlich muss bei einer Einteilung von Klassen und dem entsprechenden Klassenkampf, ohne das dieser als Begriff erscheint, und der ja nicht nur von der Arbeiterklasse aus gedacht werden muss, sondern natürlich auch von der Kapitalistenklasse, die Rolle des Staates analysiert werden, d.h. wie der Staat im Kapitalismus begriffen werden muss, wie er seine Staatsapparate organisiert im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Klassen und Klassenfraktionen. Dies alles sind Überlegungen, die in dem vorliegenden Rahmen nicht mehr ausgeführt werden können.

Literatur

Adorno, Theodor W./Jaerisch, Ursula 1968: Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, in: Adorno, Theodor W. 1972: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt/M.

Demirović, Alex 2020: Undoing Class. Warum von Klasse, Klassenkampf und Klassenpolitik reden? In: PROKLA 200, 429-438.

Engels, Friedrich 1884/1972: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MEW Bd. 21, 27-106.

Heinrich, Michael 2013: Wie das Marxsche „Kapital“ lesen? Teil 2, Stuttgart.

Kurz, Robert 2000: Marx lesen, Frankfurt/M.

Marx, Karl 1971: Das Kapital, Bd.1 [n.d. 4. Aufl. v. 1890], MEW Bd. 23, Berlin.

Poulantzas, Nicos 1975: Klassen im Kapitalismus – heute, Westberlin.

Sablowski, Thomas 2020: Klassenkämpfe in der Corona-Krise, in: PROKLA 200, 519-542.

Thien, Hans-Günter 2014: Klassentheorien – Die letzten 50 Jahre, in: PROKLA 175, 163-190.

Wolfgang Kastrup ist Mitglied der Redaktion und im AK Kritische Gesellschaftstheorie

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.