Restriktion, Abwehr, Umschreiben: Kohls Angst vor der Geschichte

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Von Jobst Paul, erschienen in DISS-Journal 35 (2018)

Jacob S. Eder, Holocaust Angst: The Federal Republic of Germany and American Holocaust Memory since the 1970s. Oxford: Oxford University Press, 2016. 320 pp. $ 35.00. ((Ich stütze mich auf die Rezension von Deborah Barton (Université de Montréal) [https://www.h-net.org/reviews/showrev. php?id=50061]. Vgl. auch Jacob S. Eder, What West Germany Got Wrong About the U.S. Holocaust Memorial Museum. In: TIME. ))

Der Jenaer Historiker Jacob S. Eder arbeitet ein in Deutschland eher undeutlich wahrgenommenes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte auf, nämlich die Reaktion der politischen Eliten Westdeutschlands, und insbesondere der Regierung Kohl, auf die Aufarbeitung des Holocaust und des NS in den USA.

Zweifellos wurde Westdeutschland vom wissenschaftlichen, medialen und publizistischen Aufbruch überrascht, der sich zu Beginn der 1970er Jahre in der USA abzeichnete. Überlebende des Holocaust meldeten sich dort zu Wort und rückten das jüdische Leiden ins öffentliche Bewusstsein, nicht zuletzt über Fernsehserien (Holocaust), die 1978/79 schließlich auch in Deutschland liefen.

Im Anschluss fürchteten akademische und ökonomische Führungskreise in Westdeutschland nicht nur eine Belastung des Verhältnisses zu den USA und einen Image-Schaden für die deutsche ‚Erfolgsgeschichte‘, sondern auch eine Einengung der deutschen außenpolitischen Handlungsfreiheit. Mit dem Antritt der Regierung Kohl (1982) – so weist Eder nach – wurden diese Ängste zentraler Teil der politischen Agenda: Kohl versuchte, die Macht über die ‚Erzählung‘ zurückzugewinnen und mit den USA auf Augenhöhe zu agieren. Auch wenn der peinliche und umstrittene Bitburg-Auftritt Kohls und Reagans (1985) aus dieser Perspektive zumindest stringent anmutet, führt Eder den Leser durch die Stationen des Scheiterns der Strategie Kohls bis hin zum erzwungenen Abschied von ihr.

Auf dieser Strecke finden sich spannende historische Lehrstücke. So zeichnet Eder den hinhaltenden, Jahrzehnte langen deutschen Widerstand gegen die  Errichtung des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) und die deutschen Einflussnahmen auf die permanente Ausstellung der Einrichtung nach. Nicht weniger instruktiv sind die Einblicke in Versuche der Kohlberater Michael Stürmer und Werner Weidenfeld und des deutschen Forschungsministers Heinz Riesenhuber, die US-Wissenschaft für ein genehmes Deutschlandbild zu gewinnen. Nachhelfen sollte dabei die Gründung des German Historical Institute Washington DC (seit 2002 Max Weber Stiftung) und die Einrichtung von drei Centers of Excellence for German Studies in Harvard, Berkeley und Washington. Die erhoffte politische Einflussnahme allerdings misslang.

Und schließlich – so Eder im abschließenden Kapitel – führten Neo-Nazi-Gewalt in Deutschland, aber auch weitere NS-Aufarbeitungen wie Spielbergs Film Schindler’s List and Goldhagens Hitler’s Willing Executioners zu einer – noch immer gefährdeten – Umkehr der Perspektive und der Einsicht, dass die Identität Deutschlands nur über die Konfrontation mit dem Holocaust glaubwürdig vertreten werden kann.