Anmerkungen zur aktuellen Debatte
Von Sebastian Chwala. Erschienen in DISS-Journal 32 (2016)
Das aktuelle Jahr neigt sich dem Ende zu und 2017 wirft bereits seine Schatten voraus. Mit den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr endet in Frankreich auch die 4-jährige Amtszeit des sozialdemokratischen Staatschefs Francois Hollande, ein Präsident, der auf der ganzen Linie gescheitert ist.
War sein Amtsantritt 2012 mit der Hoffnung verbunden, dass die Sozialistische Partei (PS) den Konflikt mit den bürgerlichen Eliten in Wirtschaft und Ökonomie sucht, indem Vermögenssteuern erhöht und Banken besser reguliert werden, avancierten PS und Hollande schnell zu Speerspitzen neoliberaler Reformpolitik. Sie forcierten Privatisierungen, Steuerkredite für (Groß-)unternehmen und zuletzt die hart umkämpfte Arbeitsmarktreform. Deren Ziel ist die Senkung staatlich gesetzter Standards zugunsten betrieblicher Abkommen zwischen Unternehmensleitungen und den durch einen niedrigen Organisierungsgrad geschwächten Gewerkschaften. Diese Abkommen werden weitere Lohnsenkungen und eine Flexibilisierung von Arbeitszeiten zur Folge haben und die Arbeitskosten für die Unternehmen weiter sinken lassen. Doch sämtliche angebotsorientierte Wirtschaftskonzepte verfehlten ihr Ziel. Die Extraprofite durch die Steuerkredite wurden an die Aktionäre weitergeben. Die Kaufkraft stagniert und die Erwerbslosigkeit steigt weiter. Es versteht sich fast von selbst, dass „die Linke“ in Frankreich durch diese Politik am Boden liegt und einer schweren Wahlniederlage entgegen taumelt.
Die Rechtsparteien dagegen setzen ihr Lieblingsthema Identität offensiv in die öffentliche Debatte.
Vorneweg geht Nicolas Sarkozy, 2012 als Staatschef abgewählt, der mit seiner provokanten Aussage Ende September 2016, jeder Franzose habe die Gallier als seine Vorfahren zu betrachten, relativ offen die Assimilation aller nicht-weißen Ethnien im Land fordert – kein neuer Zungenschlag im politischen Diskurs von Nicolas Sarkozy, der 2005 bereits angedroht hatte, die migrantisch geprägten Wohnviertel am Rande der Großstädte mit dem Kärcher säubern zu wollen und der in einer Rede 2007 in der einstigen Kolonie Senegal darauf bestand, dass die Kolonisatoren „Menschen voll guten Willens, beseelt vom Glaube an ihre zivilisatorische Aufgabe“, gewesen seien. ((Chebel d´Appollonia, Ariane (2016): Du discour a Dakar à l`affaire Taubira in: Blanchard, Pascal/ Bancel, Nicolas/ Thomas, Dominic (2016): Vers la Guerre des Idenitités ? Paris.))
Zwar erntete er umgehend Kritik für seine Wortwahl aus den Reihen der bürgerlichen Präsidentschaftsaspiranten, doch ist die bürgerliche Rechte in Frankreich kein Hort progressiver gesellschaftlicher Denkmuster. Im Gegenteil: Insbesondere die 2000er Jahre, in denen drückende rechte Mehrheiten Frankreich regierten, waren von einer rückwärts gewandten Neubewertung der eigenen Geschichte geprägt. So müssen die Lehrpläne seit 2005 die positiven Aspekte des Kolonialismus wieder berücksichtigen. ((Ebd.)) Für die Rechte ist der Kolonialismus wieder Teil einer „goldenen Phase“ Frankreichs, deren negative Aspekte, insbesondere die brutal geführten Kriege zur Unterdrückung der nationalen Befreiungsbewegungen (Vietnam, Algerien), aus dem Bewusstsein der Menschen gestrichen werden sollen. Da in Frankreich die Vermittlung der nationalen Geschichte durch das Bildungssystem als zentral für die Schaffung einer einheitlichen nationalen Identität gilt, ist dies ein zentraler Diskurs. Diese „nationale Erzählung“ soll deshalb in den Augen konservativer Kräfte nicht in erster Linie die dunklen Epochen beleuchten, sondern Ereignisse und Persönlichkeiten in den Vordergrund stellen, die maßgeblich Frankreich stark gemacht haben und einen positiven Bezugspunkt schaffen können.
Diese nostalgische Betrachtung der eigenen Geschichte wirkt aber nicht in erster Linie durch ihren konservativen Kern, sondern vielmehr durch die Idee des klassischen „Universalismus“, der französischen Variante der Aufklärung. Diese diente den politischen Akteuren der frühen 3. Republik, die durchaus dem linksliberalen Spektrum zugeordnet werden konnten, als Legitimation der imperialistischen Expansion im späten 19. Jahrhundert. Niemand anders vereint diese vermeintlichen Widersprüche besser als Jules Ferry, der einerseits zwar das erste staatlich organisierte Bildungssystem in Frankreich durchsetzte, gleichzeitig damit aber die eigene Kolonialpolitik in der Nationalversammlung als Zivilisierung der „unteren Rassen“ darstellte. ((Ferry, Jules (1885):Les fondements de la politique coloniale;http://www2.assemblee-nationale.fr/decouvrir-l-assemblee/histoire/grands-moments-d-eloquence/jules-ferry-1885-les-fondements-de-la-politique-coloniale-28-juillet-1885.))
Diese diskursive Nutzung „progressiver“ Werte zur Rechtfertigung ethnischer Abwertung erlebt seit Jahren in Frankreich eine Wiederauferstehung. So werden die politischen Kampagnen gegen die muslimischen und migrantischen Milieus der Vorstädte gerade aus der angeblich liberalen bürgerlichen Mitte unter dem Vorwand geführt, dass ihre „kulturelle Prägung“ eine Integration in eine demokratisch und liberal geprägte Gesellschaft nicht ermöglichen würde. Als Beweis für diese These mussten die angeblich gezielt erfolgten Attacken gegen Schulen und Kindergärten während der großen Unruhen in den Vorstädten des Jahres 2005 herhalten. ((Mauger, Gérard (2005):L`émeute de novembre 2005; Bellecombe-en-Bauge.)) Nur ein hartes Durchgreifen der Staatsmacht samt der Einrichtung eines autoritären Schulsystems, das unkritisch französische Werte vermitteln soll, kann nach dieser Lesart die Menschen der Vorstädte nachhaltig integrieren.
Bemerkenswerterweise scheint der Front National (FN), der Marine Le Pen bereits zur Kandidatin für die Wahl im nächsten Jahr nominiert hat, genau diese Frage der „kulturellen Identität“ zum Zentrum des Wahlkampfes zu machen. So bemühte sich Le Pen in ihrer Rede im Rahmen der Sommeruniversität des FN, nicht die klassischen direkten Attacken gegen Migranten zu formulieren, sondern alle grundsätzlichen Fragen als Probleme darzustellen, die nur durch die Wiedererlangung der nationalen Souveränität zu lösen seien. Gerade die Rolle Frankreichs als „aufgeklärte Großmacht“ verbiete eine wirtschaftliche und politische Integration in die Europäische Nation.
Abschließend sei gesagt, dass es nicht verwundert, dass die Suche nach nationaler Identität gerade in diesen Tagen in Frankreich derart intensiv diskutiert wird. Es zeigt sich dadurch nur ein weiteres Mal, dass Identität in unserem Nachbarland durch und durch ein Krisenprodukt ist. So geht nämlich ständig die Sehnsucht nach nationaler Größe einher mit dem Gefühl, durch die Dekadenz der Eliten in einem unaufhaltsamen Zerfallsprozess gefangen zu sein, der nur durch eine Rückbesinnung auf die alten Werte aufzuhalten sei. Ob dies nun eine Rückbesinnung auf Jeanne D`Arc und die angeblich tausendjährige christliche Geschichte Frankreichs ist oder eine neokonservativ ausgelegte Variante jener durch die französische Revolution ausgelösten Emanzipationsbewegungen, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Wie sich aktuell zeigt, kann sie im „modernen“ Front National eine bemerkenswerte Symbiose eingehen.
Sebastian Chwala ist Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Jahr 2015 erschien im PapyRossa Verlag sein Buch „Der Front National. Geschichte, Programm, Politik und Wähler“.