Die Aufnahme von Flüchtlingen…

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…in den Bundesländern und Kommunen

Eine Rezension von Robin Heun. Erschienen in DISS-Journal 31 (2016)

Zwei Monate nachdem Angela Merkel den Ausspruch „Wir schaffen das“ geäußert hatte, erschien im November 2015 eine von der Robert-Bosch-Stiftung finanzierte Studie zur Flüchtlingsaufnahme. Die Expertise untersucht anhand von Fallbeispielen die Flüchtlingsaufnahme in den Bundesländern und Kommunen. Sie fragt nach den „gesetzlichen Rahmenbedingungen, der behördlichen Praxis, der Rolle des zivilgesellschaftlichen Engagements und der Reaktionen der Anwohnerschaft auf die Flüchtlingsunterbringung“ (7). Der Schwerpunkt des Untersuchungszeitraums liegt zwischen November 2014 bis Mai 2015.

Vor dem Hintergrund der enormen Herausforderungen für die Kommunen, die bekanntlich eine Aufnahme- und Versorgungspflicht gegenüber diesen Personen haben, untersuchten die Verfasserinnen Handlungsmöglichkeiten der Kommunen, um mit empirischen Recherchen „Aufschlüsse darüber [zu] gewinnen, welche Formen der Wohnunterbringung, der Einbeziehung der lokalen Bevölkerung und der Unterstützung zivilgesellschaftlicher Initiativen geeignet sind, um die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in den Kommunen positiv im Sinne der Asylsuchenden und Anwohner zu gestalten.“ (162)

Die Studie bietet – und das war ein zentrales Anliegen – wertorientierte Handlungsempfehlungen für die kommunale Flüchtlingspolitik. Sie richtet sich folglich an Akteure aus diesem Politikfeld und an auf diesem Aufgabenfeld Beteiligte der öffentlichen Verwaltung. Doch sie ist auch für Journalist/innen, Wissenschaftler/innen und am Thema Interessierte von Interesse. Zentrale Begriffe wie Flüchtlingspolitik, Gemeinschaftsunterkunft, Residenzpflicht oder der Königsteiner Schlüssel werden allgemein verständlich erklärt und es werden im ersten Teil der Studie die wichtigsten Befunde am Ende der Kapitel prägnant zusammengefasst.

Die Fallbeispiele stützen sich auf 28 qualitative Experteninterviews mit Vertreter/innen aus Politik, Verwaltung, Initiativen und mit professionellen und ehrenamtlichen Akteuren aus der Flüchtlingsaufnahme. Zudem wurde ein umfangreicher Korpus an schriftlichen Quellen herangezogen. ((Siehe hierzu S. 12.))  Kurzum: Die Studie fußt auf einer breiten empirischen Basis. ((Durchgeführt wurde die Studie vom Zentrum Technik und Gesellschaft an der Technischen Universität Berlin (ZTG) in Kooperation mit dem Institut für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) und dem Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (DESI).))

Die ausgewählten Fallbeispiele verdeutlichen einerseits Konfliktsituationen z.B. wenn die Flüchtlinge durch Anwohner/innen abgelehnt werden. Anderseits zeigen sie Beispiele einer „guten Praxis“, die gleichzeitig die normativen Wertvorstellungen der Verfasserinnen verdeutlichen. Es geht um eine positive Einstellung zur Flüchtlingszuwanderung und einen empathischen Blick auf die Lebensumstände von Geflüchteten. Dies zeigt sich auch in einem diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch. Die subjektive Perspektive von Geflüchteten wird häufig, so die Verfasserinnen, in der Außenwahrnehmung vernachlässigt. Die Flüchtlinge seien jedoch keine homogene Gruppe, wie vielfach angenommen wird. „Diese Diversität der Flüchtlingsbevölkerung bedeutet faktisch aber eine zusätzliche Herausforderung in der kommunalen Flüchtlingspolitik.“ (14)

Bereits im Vorwort wird das in der Studie vertretene partizipatorische Demokratieverständnis kenntlich, wenn Uta-Micaela Dürig als Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung betont, dass alle Beteiligten vor Ort in Entscheidungsprozesse eingebunden werden sollten und „aktiv an der Gestaltung ihrer Gesellschaft teilhaben können“ (5). Diese Leitidee von mehr Teilhabe – insbesondere auch für Geflüchtete – zieht sich durch die gesamte Studie. Zum Beispiel wird bei der Frage nach der Qualität von Flüchtlingsunterkünften darauf hingewiesen, dass „ein verbrieftes Mitspracherecht der Bewohner“ auch zu den „rechtlich-sozialen und menschlichen Bedürfnissen“ (43) gehöre. Im Sinne eines partizipativen Ansatzes, der die subjektive Sicht der Geflüchteten berücksichtigt, wäre es erstrebenswert gewesen, auch Geflüchtete zu Wort kommen zu lassen.

Kritische Perspektiven, Befunde und Empfehlungen

In der Einleitung machen Jutta Aumüller, Priska Daphi und Celine Biesenkamp darauf aufmerksam, dass asylfeindliche Diskurse der 1990er Jahre bis heute nachwirken. Diese würden „die rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen“ (8) erfolgt, prägen. Im Kontext der gegenwärtigen Flüchtlingseinwanderung ließen sich „Haltungen des Willkommens und der Ablehnung gegenüber asylsuchenden Menschen“ (ebd) beobachten. Während jedoch „ablehnende Einstellungen gegenüber Migranten in den letzten Jahren abgenommen haben, hat die Ablehnung gegenüber Flüchtlingen seit 2011 stark zugenommen“ (11). Im Vergleich zum Jahr 1993 sei die Ablehnung jedoch gesunken. Ob dieser Befund nach den drastisch gestiegenen Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte und ihre Bewohner/innen im Jahr 2015 ((Ludwig Greven: Rechte Gewalttaten. Die Saat geht auf: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-05/rechte-gewalt-afd-pediga-kriminalitaetsstatistik)) und den Wahlerfolgen der AfD weiterhin Gültigkeit besitzt, wird die empirische Einstellungsforschung zeigen.

Die Expertise nimmt vielfach eine kritische Perspektive auf Praxen bundesdeutscher Flüchtlingspolitik ein. So wird zum Beispiel die Residenzpflicht, die den Aufenthalt von Asylsuchenden und geduldeten Geflüchteten „auf einen festgelegten räumlichen Radius“ (z.B. Landkreis, Bundesland) beschränkt, kritisch kommentiert. Gleichfalls wird mehrfach deutlich gemacht, dass sich der Fluchtdiskurs in den Kommunen zunehmend mit dem Demographie- und Arbeitsmarktdiskurs verschränkt, in dem die Sicherung von Fachkräften, das Problem der Landflucht und Wohnungsleerstand angesprochen wird. Solche Strategieüberlegungen könnten helfen den Partizipationsgedanken zu stärken, jedoch weisen die Verfasserinnen auch darauf hin, dass „arbeits­marktorientierte Nützlichkeitserwägungen nicht die Oberhand in der Diskussion um die Flüchtlingsaufnahme gewinnen“ (85) dürften. Auch mit solchen Positionierungen bietet die Expertise eine ethische Orientierung für die Flüchtlingspolitik.

Im ersten (und umfangreichsten) Teil der Studie beschäftigt sich Jutta Aumüller mit den „Rahmenbedingungen der Flüchtlingsaufnahme und ihre Umsetzung in den Kommunen“ und erörtert dabei viele Befunde und Fakten. Hierzu gehört zum Beispiel der Hinweis, dass es weder auf Bundes- noch auf Landesebene einheitliche Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte gibt. Viele Kommunen hätten eigene Standards für sogenannte „Gemeinschaftsunterkünfte“ festgelegt. Bei den Gemeinschaftsunterkünften wird betont, dass man diese im Vergleich zur dezentralen Wohnunterbringung nicht verallgemeinernd als ungeeignet disqualifizieren könne. Jedoch scheinen die Nachteile für die Bewohner/innen zu überwiegen: räumliche Enge, fehlende Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben traumatisierter Menschen. Bei der Frage nach den Unterbringungskosten kommt die Studie zu einer eindeutigen Einschätzung: „Gemeinschaftsunterkünfte erweisen sich in den meisten Fällen als die für den Staat teurere Variante der Flüchtlingsunterbringung gegenüber der Unterbringung in Einzelwohnungen“ (36). Die Kommunen verfügten über Ermessensspielräume bei der Unterbringung. Nicht alle Bundesländer schrieben eine verpflichtende Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften vor – auch nicht in NRW. Eine dezentrale Unterbringung wird als „ausschließliche Unterbringungsform favorisiert“ (51) und empfohlen. Denn die Art der Unterbringung beeinflusse die Haltungen der Aufnahmegesellschaft gegenüber den Geflüchteten: „In fast allen Kommunen trägt die dezentrale Unterbringung in einem hohen Maß zur Akzeptanz von Flüchtlingen in der örtlichen Bevölkerung bei“ (69). Zudem bieten dezentrale Unterkünfte „kaum einen räumlichen Angriffspunkt für rechtsextreme Attacken“ (66). Zugleich werden vor dem Hintergrund der hohen Flüchtlingszuwanderung aber auch Zugeständnisse an Sachzwänge eingeräumt. Der Anstieg der Flüchtlingszahlen zwinge zu einer verstärkten Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften. Diese Einschätzung bezieht sich auf den Zeitraum bis Mai 2015. Inzwischen ist die Anzahl der Geflüchteten um ein Vielfaches gestiegen. Insofern steht die Frage, ob die Verfasserinnen die Situation heute genauso bewerten würden.

Die Studie stellt verschiedene klug durchdachte Unterbringungs- und Betreuungskonzepte vor. Zum Beispiel das Konzept der Stadt Köln, wo die Akzeptanz der Flüchtlingsaufnahme in der lokalen Bevölkerung eine wichtige Orientierungsmarke bildet. So soll besonders auf das Erscheinungsbild der Wohnheime geachtet werden, um eine negative Typisierung der Geflüchteten durch desolate Unterbringungsverhältnisse zu vermeiden. Ob die vorgestellten Konzepte ihre Ziele vor dem Hintergrund der gesteigerten Flüchtlingszuwanderung erreichen bleibt abzuwarten. So wird in der Expertise deutlich, dass bereits im Untersuchungszeitraum Konzeptvorgaben nicht mehr eingehalten werden konnten. Dennoch kann sie aufzeigen, dass dies nicht allein auf eine gesteigerte Fluchtzuwanderung zurückzuführen ist, sondern auch auf nicht vorausschauende Planung. Es wird deutlich, dass sich kommunale Aufnahmekonzepte als vorteilhaft herausgestellt haben. Sie bieten eine Handlungsorientierung, unterstützen bei der Vernetzung und begünstigen die Akzeptanz von Geflüchteten in der örtlichen Bevölkerung.

Beim Thema ehrenamtliches Engagement hebt die Expertise hervor, dass gegenwärtig „eine enorm hohe Bereitschaft zur Unterstützung“ zu beobachten ist. Ein solch breites Engagement sei „ein relativ neues gesellschaftliches Phänomen“ (88). Zivilgesellschaftliche Initiativen leisteten einen enorm wichtigen Beitrag zu Betreuungs- und Integrationsangeboten. Zugleich sollten mehr öffentliche Gelder, vor allem für die Sprachvermittlung, bereitgestellt werden. Auch könnten ehrenamtliche Helfer/innen kein Ersatz für professionelle psychosoziale oder rechtliche Beratungsarbeit sein. Ehrenamtliches Engagement benötige eine professionelle Begleitstruktur (kommunale Engagementstrategie), um Akteure fortzubilden und zu vernetzen. Was die Sozialstruktur der Engagierten betrifft, wird darauf hingewiesen, dass die Mehrheit weiblich und gut gebildet sei und sich „wirtschaftlich in einer relativ sicheren Position“ befänden. Außerdem würden sich Migrant/innen in der Flüchtlingshilfe proportional weitaus stärker engagieren als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.

Im zweiten (und kleineren) Teil der Studie, beschäftigen sich Celine Biesenkamp und Priska Daphi mit den Reaktionen der Lokalbevölkerung auf die Flüchtlingsaufnahme. Hierfür wurden Gemeinschaftsunterkünfte an sechs Standorten verglichen. Da es vergleichende Studien dazu bisher nicht gibt, betreten sie damit Forschungsneuland. Folgende sozialdemografische Vergleichsmerkmale wurden von ihnen herangezogen: Transparenz der Planung, Betreuungsschlüssel, rechtspopulistische Wählerschaft, Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund. ((Siehe hierzu Tabelle 3 auf S. 125.))

Am Fallbeispiel „Hoyerswerda“ wird deutlich, dass eine regionale Neonazi-Szene entscheidend zur Mobilisierung gegen eine Unterkunft beigetragen hat. Auch wird deutlich, dass einer solchen Mobilisierung durch eine enge Kooperation zwischen Behörden und Unter­stützerinitiativen zum Teil entgegengewirkt werden könne. Das Beispiel der Gemeinde Anzing in Oberbayern zeige aber auch, dass eine Ablehnung mit zum Teil „fremdenfeindlichen Merkmalen“ keine organisierte Neonazi-Szene voraussetze. Die Gründe zur Ablehnung einer Unterkunft seien vielschichtig und reichten von rassistischen Ressentiments bis zur Kritik an schlechten Unterbringungsbedingungen für die Geflüchteten. Die Fallbeispiele zeigen auch, dass die Reaktionen nicht allein vom Wohlstand oder Bildungsniveau einer Kommune abhängig sind. Auch in wohlhabenden Gemeinden mit einer gut gebildeten Bevölkerung rege sich Widerstand gegen Unterkünfte, während auch in weniger wohlhabenden Gemeinden positive Reaktionen auf größere Unterkünfte zu beobachten seien, z.B. in Duisburg-Wedau. Die beiden Wissenschaftlerinnen gehen davon aus, dass „der Prozess, in dem die jeweilige Unterkunft durch- und umgesetzt wird“ für die Reaktionen „von großer Bedeutung zu sein“ (128) scheint. Eine frühzeitige umfassende Kommunikation, eine offene Planung und eine Zusammenarbeit zwischen Behörden und zivilgesellschaftlichen Akteuren könnten einer Ablehnung von Geflüchteten entgegenwirken.

Im letzten und dritten Teil der Studie werden „Handlungsperspektiven in der kommunalen Flüchtlingspolitik“ vorgestellt. In der Gesamtschau hält die Studie was sie verspricht: Sie gibt einen umfassenden Einblick in die Flüchtlingsaufnahme im untersuchten Zeitraum, sie liefert Hintergrundinformationen, konkrete Befunde und stellt Handlungsperspektiven vor. Die multiperspektivische und wertorientierte Betrachtung ist besonders positiv hervorzuheben. Da manche Befunde mehrfach wiederholt werden, entsteht allerdings der Eindruck einer gewissen Langatmigkeit. Aus rassismuskritischer Perspektive wäre es zudem wünschenswert gewesen, wenn man auf die Begriffe „Fremdenfeindlichkeit“ und „Rückführung“ verzichtet und durchgehend von Rassismus und Abschiebung sprechen würde. Es bleibt zu hoffen, dass viele der überzeugenden Empfehlungen Eingang in die Flüchtlingspolitik erhalten. Insofern wäre eine erneute Evaluation der vorgestellten „Beispiele guter Praxis“ sicherlich sinnvoll.

Jutta Aumüller, Priska Daphi, Celine Biesenkamp
Die Aufnahme von Flüchtlingen in den Bundesländern und Kommunen
Behördliche Praxis und zivilgesellschaftliches Engagement.
Herausgegeben von der Robert Bosch Stiftung
2015: 182 Seiten. Download unter: www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/64045.asp