(Re)Konstruktion eines diskursiven Ereignisses.
Von Felix Schneider. Erschienen in DISS-Journal 31 (2016)
Die Vorkommnisse am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht 2015/16 stellten Polizei, Politik und Presse vor ein erhebliches Verarbeitungsproblem. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Verbindung mit Diebstählen – verübt von weder eindeutig identifizier- noch quantifizierbaren Personengruppen im öffentlichen Raum heraus – erzeugten einen Aufklärungsdruck, welchem aufgrund der Beschaffenheit dieses diskursiven Ereignisses die Institutionen der Wissensdistribution und Verdatung, insbesondere die Pressestellen der Polizei, nicht gerecht wurden. Die notwendig aufgetretenen Schwierigkeiten in Ermittlung und Berichterstattung befeuerten somit den medienkritischen Diskurs um eine vermeintlich die Herkunft der Täter verschweigende Presse und Polizei. Ethnie und Geflüchtetenstatus der Täter rückten ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit und es verschränkte sich die Debatte um eine bundesdeutsche ‚Willkommenskultur‘ mit der um ‚Ausländerkriminalität‘. Im Kontext einer sich seit Sommer 2015 zuspitzenden Asyldebatte geriet die Kölner Silvesternacht so zu einem diskursiven Ereignis, welches das Sagbarkeitsfeld für rassistische Ausgrenzungs- und restriktiv-normalistische Sicherheitsrhetorik entscheidend erweiterte.
Die Straftaten selbst eigneten sich zudem dafür, eine Verschränkung des Frauen- bzw. Geschlechterdiskurses mit dem Diskurs um Migration zu intensivieren. ((Als „Ethnisierung von Sexismus“ beschreibt Margarete Jäger diese Verschränkung in: Fatale Effekte: Die Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs. Duisburg: 1996.)) Eine dezidierte Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt, etwa in Zusammenhang mit dem reformbedürftigen deutschen Sexualstrafrecht, mit Rape Culture und Street Harassment, fand nur vereinzelt sowie in einschlägig feministischen Medien statt. ((z.B. Yaghoobifarah, Hengameh: Willkommen in der Hölle, Ladys. taz, v. 8.1.16, S. 13.))
Im Folgenden soll anhand von Onlineportalen der auflagestärksten Kölner Tageszeitungen Kölner Stadtanzeiger (KStA) und EXPRESS nachgezeichnet werden, wie das Ereignis in den ersten Tagen nach Silvester ‚vor Ort‘ allmählich mit Informationen angereichert wurde und wie die zunehmende Informationsdichte zu einer wachsenden diskursiven Brisanz der Vorkommnisse führte. In diesem Sinne handelt es sich hierbei um eine Analyse der Diskursivierung dieses Ereignisses. ((Insofern handelt es sich nicht um eine Diskursanalyse, die erst mit dem Auftauchen der Kölner Silvesternacht in den Medien – als diskursives Ereignis – einsetzen sollte.))
Die jeweiligen Quellen des Wissens erforderten von den Autor_innen, aus lückenhafter Faktenlage eine kohärente Repräsentation der Ereignisse zu konstruieren, was zum Teil widersprüchlichen Narrative bedingt. So sei laut der Bilanz von Polizei und Feuerwehr die Silvesternacht „relativ friedlich“ verlaufen. ((Grosch, Janine: Bilanz von Polizei und Feuerwehr zur Silvesternacht. (http://www.ksta.de/koeln/bilanz-von-polizei-und-feuerwehr-zur-silvesternacht-sote-23371458) )) Dass „Junge Frauen sexuell belästigt“ wurden, titelt hingegen bereits der EXPRESS. ((Meyer, Oliver: Junge Frauen sexuell belästigt. (http://www.express.de/koeln/silvesternacht-hauptbahnhof–junge-frauen-sexuell-belaestigt-23251504) ))
Einzige Quelle dieses Wissens sind zunächst soziale Netzwerke: Darin hätten „Äußerungen die Runde gemacht, dass es sich bei den Tätern um Flüchtlinge gehandelt haben soll.“ ((Meyer, Oliver: Sexuelle Übergriffe am Kölner Hbf. Was wir bisher über die Täter wissen. (http://www.express.de/koeln/silvester-sexuelle-uebergriffe-am-koelner-hbf–was-wir-bisher-ueber-die-taeter-wissen-23251756) )) Am Folgetag konkretisiert der EXPRESS das Bild der Tätergruppe als „Nordafrikaner“, die sich um den Hauptbahnhof herumtreiben: „Einige begehen laut Ermittlern morgens Autoaufbrüche, verkaufen mittags Marihuana, und abends sind sie als Taschendiebe in der Altstadt unterwegs.“
Dieses Milieu „junger Männer“ wird rassifizierend an ihrem „Tummelplatz unter der Philharmonie“ illustriert. Die so identifizierte und als ‚Tummler‘ zur müßiggängerischen Masse deindividuierte Gruppe „Kleinkrimineller“, „Asylbetrüger“ und „polizeibekannter Intensivtäter“ ((Tim Stinauer: Sexuelle Belästigungen in der Silvesternacht in Köln. Polizei geht von 40 verschiedenen Tätern aus. (http://www.ksta.de/panorama/-sexuelle-belaestigungen-sote-in-der-silvesternacht–23358474) )) prägt die weitere diskursive Konstruktion der Tätergruppe entscheidend. Die Unterscheidung zwischen ‚Kriegsflüchtlingen‘ und illegalen bzw. kriminellen ‚Armutsflüchtlingen‘, wie sie im Fluchtdiskurs seit Sommer 2015 eine zunehmende Rolle spielt, wird erneut aufgegriffen, um die Täter letzterem zuzuordnen.
Ein Milieu migrantischer Jugendkriminalität – Produkt einer Verschränkung von Migrations- und Kriminalitätsdiskurs ((Hierbei handelt es sich um eine Kopplung von ausländischen Straftätern mit Drogen- Schmuggel- und Bandenkriminalität im massenmedialen Diskurs. Vgl. hierzu Margarete Jäger et. al.: Von deutschen Einzeltätern und ausländischen Banden. Medien und Straftaten. Duisburg: 2000, S. 157.)) – stellt die soziologische Nische bereit, aus der die inzwischen 40-100 Täter stammen sollen. Der Dom als urbanes Symbolbild der Kölner Zivilgesellschaft wird zum Angriffsziel „Organisierter Groß-Banden“. ((Pauls, Peter: Kommentar zu sexuellen Übergriffen am Hauptbahnhof. Anarchie im Schatten des Doms. (http://www.ksta.de/koeln/kommentar-zu-sexuellen-uebergriffen-sote-23460872) ))
Mit der Pressekonferenz von Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Polizeipräsident Wolfgang Albers am 5.1. erfährt die Kölner Silvesternacht eine erste offizielle Problematisierung, inzwischen stieg die Zahl der Anzeigen auf fast 100. Das bisher weitgehend als „Übergriffe“ benannte Ereignis erhält erste Namen: „Sex-Attacken“, ((N.N.: Wer sind die Täter? Droht ihnen die Abschiebung?(http://www.express.de/koeln/koelner-hbf-wer-sind-die-taeter–droht-ihnen-die-abschiebung–23254494) )) „Kölner Silvesterchaos“, ((N.N.: Kölner Silvesterchaos. Opfer Michelle (18) von 20 bis 30 Männern umzingelt. (http://www.express.de/koeln/koelner-silvesterchaos-opfer-michelle–18—von-20-bis-30-maennern-umzingelt-23255864) )) „Sexuelle Gewalt an Silvester“. ((N.N.: Sexuelle Gewalt an Silvester. Das müssen Sie zu den Übergriffen in Köln wissen. (http://www.ksta.de/politik/-sexuelle-uebergriffe-in-koeln-sote-das-muessen-sie-wissen-23480726) )) Die Frage nach dem Umgang mit straffällig gewordenen Asylsuchenden rückt in den medialen Fokus und in die Titelzeilen: „Wer sind die Täter? Droht ihnen die Abschiebung?“ fragt der EXPRESS. ((Wer sind die Täter? Droht ihnen die Abschiebung? (http://www.express.de/koeln/koelner-hbf-wer-sind-die-taeter–droht-ihnen-die-abschiebung–23254494) ))
Fünf Tage nach dem Vorfall titelt schließlich die BILD: „So wütet der Sex-Mob in unseren Städten!“ ((BILD-Titelseite vom 06.01.16)) und fragt in einer folgenden Ausgabe „was verschwieg die Kölner Polizei?“. ((J. Ley: Was verschwieg die Kölner Polizei? BILD vom 08.01.16, S.3)) Albers Aussage „Wir haben keine Erkenntnisse über die Täter“ wird zur Falschaussage umgedeutet: „Die Polizei hatte zum Zeitpunkt der Pressekonferenz doch Erkenntnisse zu möglichen Verdächtigen“. Dies gelingt nur über die Gleichsetzung von sicher identifizierten Tätern – die nicht gegeben waren – und möglichen Verdächtigen. Dieser recht durchschaubare Trick genügt nun, die aufgetretenen Probleme in der polizeilichen Informationspolitik langfristig zum asylpolitischen Kalkül der Bundesregierung und die Kölner Silvesternacht eine Woche nach den Vorfällen wirksam zum Argument für einen ‚Kurswechsel‘ dieser Politik zu erklären. Die Forderungen nach ‚Aufnahme- und Obergrenzen‘, nach weiteren Verschärfungen des Asylrechts, besserer Grenzsicherung und einer schnelleren Abschiebung straffällig gewordener Migrant_innen werden immer lauter und bereiten den Boden für die Durchsetzung des Asylpakets II als weiteren Schritt zur faktischen Abschaffung des Asylrechts.
Felix Schneider ist Mitarbeiter der Diskurswerkstatt im DISS.