Multiple Krisen im Kapitalismus

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Eine Rezension von Jens Zimmermann. Erschienen in DISS-Journal 23 (2012), 29-30

Gründe und Ursache für Krisen zu benennen, ist immer auch Teil diskursiver Kämpfe um die Wahrnehmung und Deutung von Krisen. Einen Beitrag zu dieser aktuellen Debatte leistet der in der inhaltlichen Ausrichtung ambitionierte Sammelband VielfachKrise.

Entgegen monokausaler Erklärungsmuster gegenwärtiger Krisenerscheinungen argumentieren die Herausgeber_innen in ihrer theoretischen Einleitung, dass „wir gegenwärtig eine historische Konstellation der multiplen Krise erleben.“ (13) Als multiple Krise verstehen sie „eine historisch-spezifische Konstellation verschiedener sich wechselseitig beeinflussender und zusammenhängender Krisenprozesse im neoliberalen Finanzmarktkapitalismus“ (ebd.). Die vier Herausgeber_innen beziehen sich in ihrer Konzeption auf die materialistische Theorie Karl Marx‘, gehen dabei aber davon aus, dass sich in kapitalistische Produktionsverhältnissen Handlungsfelder mit einer relativen Autonomie entwickeln, deren Logik nicht alleine in ökonomischen Begriffen zu fassen ist: „gesellschaftliche Naturverhältnisse, die Politik, das Recht, die Familie, die Religion, die Kunst oder die Wissenschaft.“ (12) Für die Bearbeitung von Krisen auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern bedeutet dies, dass sie a) auf je spezifische Art und Weise reguliert werden müssen und es keine monostrategische Lösung gibt und b) die jeweiligen Felder eigene Krisendynamiken entwickeln, welche sich zu räumlich und zeitlich verschiedenen Punkten entladen können (13). Exemplarisch zeigen die vier Herausgeber_innen dieses Analysekonzept an der jeweiligen Eigenlogik der Krise der finanzdominierten Akkumulation, der sozial-ökologischen Krise, der Krise der Reproduktion und der Krise der parlamentarischen Demokratie (14-23) sowie an deren Verflochtenheit.

Das Konzept der multiplen Krisen spiegelt sich auch in den weiteren Beiträgen das Sammelbandes wieder, die einzelne Krisenfelder und -dynamiken en detail auffächern. So setzt sich Thomas Sablowski in seinem Aufsatz mit wirtschaftswissenschaftlichen Krisen-Theorien auseinander und stellt auch marxistische Ansätze (Profitrate) im Kontext der gegenwärtigen Finanzkrise empirisch auf den Prüfstand. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass sich aktuell von einem finanzdominierten Akkumulationsregime sprechen lässt, welches zu der Ausbeutung der Lohnabhängigen im Produktionsprozess eine „sekundäre Ausbeutung“ durch private Kredite, Pensionsfonds und Versicherungen etabliert (39). Auch auf der Unternehmensebene werden Aktienmärkte zu Kontrollinstanzen, über die Druck auf die Unternehmen ausgeübt wird (40). „Fiktives Kapital“ (Aktien, Kredit, Derivate etc.) dominiert also zunehmend die gesamtgesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozesse. Maria Candeias nimmt ebenfalls die ökonomische Krise zum Anlass, um sie mit Begrifflichkeiten der politischen Theorie Antonio Gramscis zu reflektieren. Candeias stellt in seinem Beitrag die These auf, dass der Neoliberalismus seine „führende“ gesellschaftliche Kraft verloren hat und wir uns in einem Stadium der erneuten Transformation des Kapitalismus befinden (45). Diese Phase lässt sich als „Postneoliberalismus“ beschreiben, in der sich noch keine neue „hegemoniale Richtung“ etabliert hat und so noch Räume für Kämpfe um emanzipative Veränderungen offen sind (60). Auch der Beitrag von Alex Demirović greift auf Gramsci und Nicos Poulantzas zurück, um begrifflich detailliert krisenhafte Momente des politischen Betriebs darzustellen. Dabei unterscheidet er im Anschluss an Poulantzas zwischen einer politischen Krise und einer Krise des Staates (74). Politische Krisen zeichnen sich durch Kämpfe zwischen den einzelnen Fraktionen des herrschenden Machtblocks aus, in deren Zuge Hegemonie brüchig wird (71). Eine Verschärfung dieser politischen Krise durch multiple Faktoren kann zu einer Staatskrise führen, in deren Zuge es zu verschärften Widersprüchen zwischen den einzelnen Staatsapparaten und ihrem Handeln kommen kann – also einer teilweisen Erosion staatlicher Macht. (71f.) Demirović folgert, theoretisch fundiert, für Deutschland, „dass es Momente der Legitimationskrise, der politischen Krise und der Staatskrise, jedoch keine Hegemoniekrise gab.“ (74) Der Staat hat demnach relativ erfolgreich eine „neoliberale Anti-Krisenpolitik“ (Abfederung der Krise und Absicherung der Profite) verfolgt und so das Auseinanderbrechen der herrschenden Klassen verhindert.

Wie sich durch die hier kursorisch erfolgte Darstellung der theoretischen und empirischen Ergebnisse der drei Aufsätze schon zeigt, ist die Lektüre des Sammelbandes eine anspruchsvolle Angelegenheit, bei der Grundkenntnisse in den jeweiligen Theorien von Vorteil sind. Was auch daran liegt, dass die Autor_innen allesamt ausgewiesene Kenner_innen der jeweiligen Themen sind. So schreiben mit Ulrich Brand und Markus Wissen sowie Achim Brunnengräber und Kristina Dietz Autor_innen, die in den letzten Jahren entscheidend den akademischen Diskurs über Klimawandel, gesellschaftliche Naturverhältnisse und sozial-ökologische Transformation mitgeprägt haben. Dazu bietet der Sammelband auch Reflexionen auf aktuelle Krisenerscheinungen und das hegemoniale Geschlechterregime (Wichterich, König / Jäger), Reproduktion der Arbeitskraft (Atzmüller) sowie Analysen zu Gentrifizierung, städtischen Immobilienmärkten und Auswirkungen der Krisen auf die Raumordnung (Hoering, Heeg, Heeg). Treffend abgerundet wird der Sammelband durch einen Beitrag der Weltsystemtheoretiker Silver/ Arrighi, der in historisch-vergleichender Perspektive die aktuellen Krisen-Momente und -Tendenzen aufgreift und in die Entwicklung kapitalistischer Produktionsweisen einordnet.

Der Sammelband VielfachKrise stellt sowohl eine theoretische Einführung in die Konzeption multipler Krisen und deren Konstitution und Dynamik dar, als auch eine empirisch fundierte Grundlage kritischer Analysen zuR gegenwärtigen KriseN. Eine Auseinandersetzung mit VielfachKrise ist theoretisch anspruchsvoll, aber in jedem Fall lohnend und empfehlenswert. Vor allem im Rahmen politischer Reflexionsarbeit (Lesegruppen, Hochschulseminaren etc.) sind die einzelnen Artikel sehr gut geeignet, da sie auch als Einführung in die jeweiligen Themenbereiche gelesen werden können.

Alex Demirović / Julia Dück / Florian Becker / Pauline Bader (Hg.)
VielfachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus
232 Seiten, EUR 16.80
Hamburg 2011: VSA