Institutioneller Rassismus

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Erschienen in DISS-Journal 23 (2012) 48-53

Der Fall einer Hildesheimer Familie ist zum traurigen Symbol der deutschen und insbesondere der niedersächsischen Flüchtlingspolitik geworden. Das DISS-Journal dokumentiert die Bemühungen der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl und des DISS.

Worum geht es?

Ahmed Siala und Gazale Salame sind in den 1980er Jahren mit ihren Familien aus dem Libanon geflüchtet und erhielten in Niedersachsen ein Aufenthaltsrecht. In den Jahren 2000 bzw. 2001 verweigerte ihnen der Landkreis Hildesheim eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis – mit der Begründung, die Familien hätten sich als „Scheinlibanesen“ das Bleiberecht erschlichen und seien in Wirklichkeit TürkInnen.

Begründung: Beide Familien gehören der Volksgruppe der Mhallami an, einer ursprünglich aus der Türkei stammenden arabischen Minderheit, die ab 1920 von dort in den Libanon floh, um der Türkisierungspolitik unter Atatürk zu entgehen.

Zum Zeitpunkt ihrer Flucht nach Deutschland waren Ahmed Siala und Gazale Salame sechs und fünf Jahre alt. Viele Jahre später drohte ihnen die Abschiebung, weil die Behörden nicht ihnen, sondern ihren Eltern vorwarfen, damals ihre angebliche ursprüngliche Herkunft aus der Türkei verschwiegen zu haben. Das heißt, die beiden sollen für ein lange zurückliegendes, angebliches Vergehen ihrer Eltern in Haftung genommen werden und abgeschoben werden.

Am 10. Februar 2005 wurde die damals schwangere Gazale Salame zusammen mit ihrer zweijährigen Tochter Shams in die Türkei abgeschoben. Die Familie ist seitdem getrennt. Während der Vater mit den zwei Töchtern Amina und Nura in Niedersachsen lebt, lebt ihre Mutter mit Tochter Shams und dem mittlerweile geborenen Sohn Ghazi in Ismir. ((Vgl. auch die ausführliche Darstellung und Bewertung des Falls von Stefan Klein in der Süddeutschen Zeitung vom 18.6.2012: Umstrittene Abschiebung in Niedersachsen. In Sturheit gefangen (http://www.sueddeutsche.de/politik/umstrittene-abschiebung-in-niedersachsen-in-sturheit-gefangen-1.1385462, Abruf 22.6.2012) ))

Seit Jahren versuchen Heiko Kauffmann von PRO ASYL, verschiedene Initiativen und selbst Gerichte vergeblich, die niedersächsischen Behörden zum Einlenken, oder zumindest zu einem humanitären Akt zu bewegen. Viele Organisationen und Einzelpersonen, darunter Kirchen, Flüchtlingsräte und auch das DISS, haben sich mit Schreiben und Petitionen auch an den Ministerpräsidenten David McAllister gewandt. Er und seine Behörden verweigern jedoch bis heute eine nachvollziehbare Begründung und repetieren stattdessen eine an den Haaren herbei gezogene Kriminalisierung der Familie.

Nachfolgend geben wir ein Statement von Heiko Kauffmann, das er anlässlich einer Pressekonferenz vom 23. Mai 2012 in Hannover abgegeben hat und unser Schreiben an Ministerpräsident McAllister vom 25. Januar 2012 wieder. Außerdem dokumentiert wir eine Stellungnahme des DISS vom 30. Mai 2012 zur Forderung von Heiko Kauffmann, eine unabhängige Expertinnenkommission Institutioneller Rassismus zu berufen.

 

Zum Umgang mit Flüchtlingskindern als Form eines Institutionellen Rassismus

Ein Statement von Heiko Kauffmann (23. Mai 2012)

Das Schicksal der Familie Siala/Salame – aber auch der Familie Naso und anderer Flüchtlingsfamilien – ist ein Extremfall einer staatlich verweigerten Integration. Diese Beispiele belegen eine systematische Ausgrenzungspolitik in Niedersachsen. Sie sind ein unrühmliches Beispiel für die offensichtliche Verletzung der Fürsorgepflicht des Staates und seiner Behörden gegenüber Flüchtlingskindern und deren Familien und zugleich ein Lehrstück über staatliche und behördliche Missachtung von Verfassungs- und Völkerrechtsnormen.

Deshalb fordere ich die Einsetzung einer unabhängigen Kommission zum institutionellen Rassismus in der Flüchtlingspolitik Niedersachsens.

Anfang Dezember 2011 – also vor gut einem halben Jahr – habe ich den niedersächsischen Ministerpräsidenten, Herrn David McAllister, aufgefordert, der fortgesetzten Missachtung des Kindeswohls durch die niedersächsischen Behörden im Falle der Hildesheimer Familie Ahmed Siala/Salame und ihrer Kinder ein Ende zu setzen und die umgehende Rückkehr von Gazale Salame in die Wege zu leiten, damit die über siebenjährige Trennung der Familie zu beenden und ihr ein dauerhaftes Bleiberecht zuzuerkennen.

Bis heute habe ich weder auf diesen Brief noch auf ein weiteres – persönliches – Schreiben (vom 28. März 2012) eine Antwort erhalten.

Aufgrund der breiten bundesweiten Medienberichterstattung und öffentlichen Empörung über die Politik Niedersachsens (nach Bekanntwerden meines Briefes) haben sich viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, viele Organisationen, Verbände  meinem Schreiben angeschlossen und sich ihrerseits an Herrn McAllister gewandt, darunter unter anderem: Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth; Frau Prof. Dr. Hertha Däubler-Gmelin; Tom Königs, Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses des Dt. Bundestags; Dr. Heiner Geißler; die Migrationsexperten Prof. Dr. Klaus J. Bade und Prof. Dr. Lothar Krappmann, langjähriger deutscher Vertreter im UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes in Genf; die Friedensforscher Prof.  Dr. Andreas Buro und Prof. Dr. Mohsen Massarat; DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach; die PräsidentInnen/Vorsitzenden von AWO, Internationaler Liga für Menschenrechte, Terre des Hommes, Deutscher Kinderschutzbund, Interkultureller Rat, Janus-Korczak-Gesellschaft, Remarque-Gesellschaft, Aachener Friedenspreis, Bundesverband UmF, Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung / DISS, Arbeitskreis evangelische Jugend Deutschland, Landeskatholikenausschuss, Medien- und Kulturschaffende; Kinder- und Integrationsbeauftragte; und viele, viele mehr…

Über 1000 Bürgerinnen und Bürger haben sich einem Appell zur Familienzusammenführung und Rückkehr von Gazale Salame angeschlossen. Über 700 weitere haben sich einer Petition an die Bundeskanzlerin eingetragen.

Nur ein kleiner Teil der prominenten Briefeschreiber erhielt als Antwort ein gleichlautendes Formschreiben, einer Unterabteilung der Staatskanzlei mit einem Auszug des Protokolls einer Landtagsdebatte und Hinweis auf Weiterleitung des Briefs an das zuständige Innenministeriums.

Aber auch in den wenigen persönlichen Antwortschreiben aus der Spitze der Staatskanzlei oder des Innenministeriums (an noch tätige bzw. bekannte Politiker/innen) wird mit keinem Wort auf das Anliegen der Petenten und ihre Argumente eingegangen. Hingegen verfestigt sich gerade nach der Lektüre ihrer Briefe bzw. Aktenvermerke der Eindruck, dass sich die zuständigen Mitarbeiter/innen und Verantwortlichen im Fall der Familie Siala/Salame derartig in ihrer voreingenommenen Ablehnung verrannt und verbissen haben, dass Zweifel an einer objektiven Bewertung, einem fairen Verfahren und einer angemessenen Würdigung und pflichtgemäßen Durchsetzung des Kindeswohls und des Familienschutzes durch die niedersächsischen Behörden in diesem Fall – wie in anderen Fällen – angebracht sind.

Auch ein anderer objektiver Beobachter – wie der Sonderkorrespondent der Süddeutschen Zeitung, Stefan Klein – spricht nach seinen Recherchen über die niedersächsischen Flüchtlingspolitik – unter anderem zum Fall Salame – von der „Willkür politischer Entscheidungen wenn es um Abschiebungen geht“ (Zerrissen“, SZ vom 23.4.2012, S.3). Und der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz, mahnt in seiner Petition an den niedersächsischen Landtag vom 17.2.2012 (in der er mehrfach auf den Fall von Gazale Salame eingeht) für jeden einzelnen Abschiebungsfall die „undispensierbare und legitimierende Grundnorm der Verfassung“ des Artikels 1 Abs. 1 S. 1 des Grundgesetzes an: Die Achtung und „den Schutz, den die staatliche Gewalt der Würde der einzelnen Person schuldet“,  die „kein Abwägungsgut gegenüber gegenläufigen Gesichtspunkten“ sind, „die für die Abschiebung einer Person sprechen“! (S.2/3 der Petition)

Hier ist ebenfalls noch einmal auf die schweren Versäumnisse und Unterlassungen hinzuweisen, die die niedersächsischen Behörden im Fall Familie Siala/Salame und ihrer Kinder durch eine fortgesetzte Missachtung des (die Behörden prioritär bindenden und verpflichtenden) Kindeswohls der Elternrechte und des verfassungsrechtlich und völkerrechtlich gebotenen Schutzes der Familie zu verantworten haben (Ich verweise zur ausführlichen Begründen auf meinen Brief an Herrn McAllister vom 5. Dezember 2011.) Aus all diesen Gründen erscheint mir eine umfassende Untersuchung und Überprüfung der niedersächsischen Flüchtlingspolitik durch eine unabhängige Kommission unumgänglich und nötig.

Wissenschaftliche Untersuchungen, u.a. die Analysen des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung / DISS haben einen Zusammenhang für den Umgang öffentlicher Behörden und Institutionen mit Einwanderinnen und Flüchtlingen und dem diesbezüglichen Menschenbild großer Teile der Bevölkerung aufgezeigt.

Der UN-Sonderberichterstatter zu Rassismus, Githu Muigai, forderte anlässlich seines Besuches 2009 Deutschland auf, mehr gegen Rassismus zu tun, und ein breiteres Verständnis von Rassismus zu entwickeln. Insbesondere müsse institutioneller Rassismus im Bereich von Behörden und Gerichten und bei der Polizei besser bekämpft werden (taz vom 1.7.2009). Das Konzept des institutionellen Rassismus zielt auf die Analyse von Vorurteilen in Verbindung mit Machtausübung ab, untersucht und analysiert Strukturen und Vorgänge in Behörden und Institutionen, die in ihrer Konsequenz diskriminierende und rassistische Auswirkungen haben.

Die so genannte „McPherson-Kommission“, die den Begriff des institutionellen Rassismus bereits 1999 in Großbritannien als eine offizielle Kategorie für ein kritikwürdiges Regierungshandeln eingeführt hat, definiert ihn folgendermaßen:

„Das kollektive Versagen einer Organisation aufgrund der Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft von Menschen, diesen eine angemessene und professionelle Dienstleistung anzubieten. Es kann in Prozessen, Einstellungen oder Verhalten gesehen oder festgesetellt werden, die durch unbewusste Vorurteile, Ignoranz, Gedankenlosigkeit und rassisitsche Stereotypisierung zu Diskriminierung führen, die Menschen ethnischer Minderheiten benachteiligt. Es besteht fort aufgrund des Versagens der Organisation, seine Existenz und seine Ursachen offen und in angemessener Weise durch Programme, vorbildliches Handeln und Führungsverhalten anzuerkennen und anzugehen. Ohne ein solches Eingeständnis und ein Handeln, das solchen Rassismus ausschließt, kann es als Teil des Ethos oder der Kultur der Organisation weit verbreitet sein.“ (Home Office 1999: The Steven Lawrence Inquiry 6.34) […]

Der Umgang der niedersächsischen Behörden mit Familie Siala/Salame und ihren Kindern – das belegen auch die Antwortschreiben aus der Staatskanzlei und des Innenministeriums mit entsprechenden Aktenvermerken – sind unseres Erachtens Belege dafür, in welcher Weise eine einseitige, vorurteilsgespeiste Sachverhaltsaufklärung und unzureichende Würdigung jedes Einzelfalls – unter Ausblenden verfassungs- und völkerrechtlicher Aspekte – sowie durch Verwaltungshandeln entstandene bzw. in sie einfließende Voreingenommenheiten zu negativen Bewertungen und systematischer Diskriminierung und Benachteiligung Einzelner führen können.

In diesen Dokumenten finden sich – insbesondere gegenüber Ahmed Siala – viele negative Kennzeichnungen und Defizitzuschreibungen, aus Vermutungen und Verdachtsmomenten abgeleitete abwertende Pauschalurteile bis hin zu bekannten Klischees und Stigmatisierungen („mangelnde Integrationsbereitschaft“, „drohende Gewalt- und Kriminalitätsbereitschaft“, Verdacht des Sozialbetrugs etc.)

Versuche, Einblicke in die wirklichen Lebensumstände der getrennt lebenden Familie zu erhalten, Probleme aus ihrer Famlienfluchtgeschichte, aus ihrem spezifischen Migrationshintergrund und den restriktiven Bedingungen ihres Aufenthalts zu erklären und dabei auch den Integrationsprozess von Ahmed Siala und Gazale Salame auch nur ansatzweise zu würdigen und anzuerkennen, den diese 17 Jahre (Gazale) bzw. 27 Jahre (Ahmed) in ihrer Heimat Deutschland durchlaufen haben, werden erst gar nicht unternommen bzw. sind nicht erkennbar.

Die starre, unnachgiebige, uneinsichtige Ausblendung jeder Empathie für die Familie, die selbstgerecht sich rechtfertigende, Ressentiment geleitete Machtausübung und -demonstration der Behörden, gipfelt in de Satz:

„Der grundgesetzliche Schutz von Ehe und Familie ist nicht beeinträchtigt, da die familiäre Lebensgemeinschaft jederzeit im Libanon oder in der Türkei hergestellt werden kann.“ (aus einem Aktenvermerk des Innenministeriums, März 2012)

Dazu Prof. Dr. Mahrenholz:

„Es braucht wohl nicht begründet zu werden, dass dem Schutz von Ehe und Familie nicht genügt wird, wenn man an sich – siehe den Fall Gazale – den von der Familientrennung betroffenen Mitglieder freistellt, ebenfalls auszureisen. Denn der Schutz der Ehe und Familie ist Bestandteil einer freien Gesellschaftsordnung und findet also dort statt, wo die Familie ihren Mittelpunkt hat, nicht aber kann die Offerte an die verbleibenden Familienmitglieder, doch dem Ausgewiesenen nachzureisen, als familienfreundlich angesehen werden.“ (Petition S.10)

Eine unabhängige Kommission zur Untersuchung des institutionellen Rassismus in der Flüchtlingspolitik Niedersachsens stellt eine große Chance für alle zuständigen Behörden, die politisch Verantwortlichen, die Betroffenen und die Zivilgesellschaft dar, Konflikte, Defizite und Problemstellungen zu benennen, zu erkennen, zu analysieren, gemeinsam aufzuarbeiten und Lösungswege aufzuzeigen, die zu strukturellen und institutionellen Verbesserungen, Regelungen und Empfehlungen führen sollten.

Vordringlich erscheinen eine Überprüfung und Analyse

  • aller Entscheidungsabläufe und -strukturen in asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren,
  • des Beziehungsgeflechts der Hierarchie und Entscheidungstrukturen im Behördenhandeln im Zusammenspiel von Kommunal- , Kreis- und Landesbehörden,
  • der gesetzlichen Bestimmungen von Erlassen und Verwaltungsvorschriften, ihr Verhältnis und ihre Umsetzung im Hinblick auf verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Bestimmungen,
  • des Verhältnisses, der Zusammenarbeit und des Vorrangs in der Sache unterschiedlichen Logiken folgender Behörden auf den verschiedenen Ebenen (Jugendschutz / Sozialbehörden vs. Ausländerbehörde; Sozial-/Integrationsministerium vs. Innenministerium, etc.)
  • der Ermessensausübung im asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren,
  • der Beschwerde- und Kontrollinstanzen unabhängiger, ggf. zivilgesellschaftlicher Gremien etc.

Lassen Sie mich abschließend zwei einfache Wahrheiten aussprechen:

  1. Integration kann nur ohne Diskriminierung gelingen. Integration setzt Integrationsfreundlichkeit auch in Gesetzen, in der Anwendung von Gesetzen, im staatlichen und Behördlichen Umgang mit Flüchtlingen voraus. Keinesfalls dürfen hier international gesetzte Standards wie die UN-Kinderrechtskonvention oder die Europäische Menschenrechtskonvention unterschritten werden.
  2. Integration gelingt – natürlich – am besten und intensivsten im Familienverbund. Das Recht auf ein Zusammenleben in der Familie, auf ein harmonisches und von staatlichen Eingriffen ungestörtes Aufwachsen und Zusammenleben in der Familie gehört daher nicht nur zu den grundlegenden und grundgesetzlich geschützten Menschenrechten, sondern darf als „Grundpfeiler“ einer nachhaltigen Integrationspolitik von keiner staatlichen Stelle in Zweifel gezogen oder durch Verwaltungshandeln konterkariert werden.

Wer das Leben von Kindern und ihrern Familien, ihre Geschichte und ihre Menschenwürde auf aufenthaltsrechtliche Kategorien reduziert, wird den Aufgaben und Herausforderungen einer humanen Flüchtlingspolitik im demokratischen Deutschland des 21. Jahrhunderts nicht gerecht.

 

 

An den Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen
Herrn David McAllister
Planckstr. 2
30169  Hannover

Duisburg, 25. Januar 2012

 

Betr.: Familie Ahmed Siala und Gazale Salame

Sehr verehrter Herr Ministerpräsident McAllister,

als Unterstützer des Appells von Heiko Kauffmann (Pro Asyl) zugunsten der Familie Ahmed Siala und Gazale Salame vom Dezember 2011 richten wir die dringende Bitte an Sie, sich für die Zusammenführung dieser Familie persönlich einzusetzen.

Unsere Analysen zum Asyl- und Einwanderungsdiskurs in Deutschland haben einen Zusammenhang zwischen dem Umgang öffentlicher Behörden und Institutionen mit Einwanderinnen und Flüchtlingen und dem diesbezüglichen Menschenbild großer Teile der Bevölkerung aufgezeigt. Aus diesem Grund hat z.B. bereits 1999 die britische Regierung den Begriff des „Institutionellen Rassismus“ zu einer offiziellen Kategorie eines kritikwürdigen Regierungshandelns erklärt. Danach müssen sich alle offiziellen Behörden an bestimmten antirassistischen Normen messen lassen.

Auch in Deutschland gilt mittlerweile Institutioneller Rassismus innerhalb der Migrations- und Rassismusforschung als eine Analysekategorie, mit deren Hilfe das Bewusstsein über die Effekte ausgrenzender Praktiken innerhalb öffentlicher Behörden geschärft werden kann. Auch mit Blick auf das deutsche Grundgesetz ist dies gewiss geboten.

Vor diesem Hintergrund muss die Abschiebung und die bisherige Verweigerung einer Familienzusammenführung der Familie Salame / Siala als ein besonders eklatanter Fall von Instititutionellem Rassismus bewertet werden. Dabei geht es nicht nur um das Auseinanderreißen einer intakten Familie, die seit nunmehr sieben Jahren getrennt voneinander leben muss, sondern auch darum, dass Gazale Salame für Angaben ihrer Eltern, die diese in den 1980er Jahren gegenüber der Ausländerbehörde getätigt haben, in Haft genommen wird.

Dies gilt unabhängig davon, ob Rechtsvorschriften solche unbegreiflichen Maßnahmen zulassen. Dass in diesem Fall Ermessensspielräume nicht ausgeschöpft wurden, darauf verweist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2009, in dem Ihre Landesbehörde angewiesen wurde, durch einen Vergleich zu einer Familienzusammenführung zu gelangen. Zugleich möchten wir auf die massiven Signale der Ausgrenzung verweisen, die damit in die Gesellschaft ausgesendet werden.

Wir halten die unnachgiebige und starre Haltung Ihrer Behörden für unverständlich und beschämend. Aus diesem Grunde möchten wir Sie nachdrücklich darum bitten, im Rahmen Ihrer politischen und amtlichen Kompetenz einzugreifen und der Familie Siala / Salame zu ihrem Menschenrecht auf Zusammenleben der Familie zu verhelfen.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Margarete Jäger
Prof. Dr. Siegfried Jäger
Dr. Jobst Paul

 

Stellungnahme des DISS zur Einrichtung einer unabhängigen Expertinnenkommission Institutioneller Rassismus

Wir unterstützen die Forderung von Heiko Kauffmann, Mitglied des Vorstands von PRO ASYL, nach dem Vorbild der britischen Macpherson-Kommission von 1999 endlich auch in Deutschland eine unabhängige Expertinnenkommission Institutioneller Rassismus zu berufen und mit einem umfassenden Untersuchungsauftrag auszustatten. Dem Vorschlag haben sich inzwischen auch Prof. Lothar Krappmann, Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, und Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen angeschlossen.

Man erkennt in Deutschland bis heute vielerorts nicht, dass dieser Begriff keine polemische Anklage beinhaltet, sondern eine vollkommen adäquate Beschreibung der Wirklichkeit ist, die viele Betroffene zu durchleiden haben – Flüchtlinge, Einwanderer. Für diese Erfahrung gibt es schockierende Anlässe, die übrigens weit zurück reichen.

Bereits nach den Anschlägen in Hoyerswerda (September 1991), in Rostock (August 1992), in Mölln (November 1992), in Solingen (Mai 1993) und trotz vieler weiterer Opfer rechter Gewalt in den folgenden Jahren leugnete die Bundespolitik die offenkundig rassistischen Motive hinter den Taten in einem Maß, dass es sogar zu einem unwürdigen Streit um Opferzahlen und schon damals zu einer schlimmen Erfahrung für die Angehörigen kam.

Nun stellt sich heraus, dass während des ganzen Jahrzehnts seit dem Anschlag in Düsseldorf-Wehrhahn am 27. Juli 2000 eine rechtsterroristische Mordserie durch polizeiliche Verfolgungsbehörden nicht als solche ‚erkannt‘ wurde, obwohl ausgerechnet Verfassungsschutz-Behörden im Täter-Milieu kundschafteten.

Wir sind mit einer stigmatisierenden Perspektive dieser Behörden konfrontiert, die auf eine ‚Milieu-Kriminalität‘ abhob. Dies zeigte sich nicht zuletzt daran, dass die Verfolgungsbehörden und die Medien, bis hin zum deutschen Generalbundesanwalt den Begriff ‚Döner-Morde‘, der schließlich von der Aktion Unwort des Jahres im Januar 2012 als rassistisch gebrandmarkt wurde, wie selbstverständlich verwendeten. Behörden unterschiedlicher Bundesländer kriminalisierten damit die Opfer, aber auch ihre Angehörigen und fügten ihnen unermessliches Unrecht zu.

Wenn gegen diese Institutionen der verständliche Vorwurf erhoben wird, ‚auf dem rechten Auge blind zu sein‘, so ist damit nichts anderes gemeint als eben jener Institutionelle Rassismus, in den sich diese Institutionen verstrickt haben und aus dem sie nur durch äußere Hilfestellung wieder herauskommen. Dies wird derzeit nachdrücklich bestätigt, indem führende, für die Untersuchung der Mordserie zuständige Beamte im Zusammenhang von Befragungen durch parlamentarische Untersuchungskommissionen in kategorischer Weise in Abrede stellen, irgendwelche Fehler gemacht zu haben.

Dieses Phänomen führt mitten hinein in die von der Macpherson-Kommission seinerzeit erarbeiteten 13 Grundsätze, mit denen Institutionellem Rassismus begegnet werden soll. Die Kommission fordert z.B. unter anderem, dass die Wahrnehmungen von Betroffenen und ihrer Angehörigen, rassistisch diskriminiert worden zu sein, zum Maßstab der Untersuchung und der künftigen Praxis gemacht werden sollen und nicht derartige Abwehr- und Verteidigungshaltungen von Institutionen.

Darüber hinaus formuliert die Kommission wichtige Einsichten in institutionelle Prozesse der Vorurteilsbildung. ((Alle nachfolgenden Zitate aus dem Bericht in der Übersetzung nach Iris Tonks, Der Macpherson Report. Grundlage zur Entwicklung von Instrumenten gegen den institutionellen Rassismus in Großbritannien. In: Margarete Jäger; Heiko Kauffmann (Hg.): Leben unter Vorbehalt. Institutioneller Rassismus, Duisburg, 2002, S. 239–255.)) Rassismus sei zwar in „weit verbreiteten Einstellungen, Werten und Annahmen verwurzelt“, die ggf. auch die Mitarbeiterinnen von Institutionen teilen, doch könne sich eine Institution diskriminierende Praktiken zugelegt haben, völlig „unabhängig von der Absicht des Individuums, welches die Arbeit der Institution ausführt“. Umgekehrt seien diskriminierende Praktiken „nicht ohne das Wissen der agierenden Person“ denkbar, die es „versäumt hat, die Konsequenzen seiner / ihrer Handlungen für Menschen ethnischer Minoritäten zu überdenken“. Diskriminierende Praktiken können daher nicht auf einen „unbewussten“ Rassismus abgewälzt werden, für den der Einzelne nicht verantwortlich sei. Diese Praktiken gehen vielmehr auf mangelnde Selbstkritik zurück. Diese kann von Amtsleitungen noch weiter eingeschränkt werden, wenn sie im Sinne einer Wagenburg-Mentalität nach außen die Losung einer zu schützenden corporate identity ausgeben, bzw. für sich ‚Loyalität‘ einfordern oder sich ‚vor ihre Mitarbeiter stellen‘.

Die Kommission wies jedoch auch darauf hin, dass in der Regel diskriminierenden „Gebräuchen und Praktiken“, die in Institutionen ausgebildet werden, bestehende Gesetze vorausgehen. Für Deutschland gilt dies gewiss und insbesondere für das Ausländer- und Asylrecht. Die Wirkungen von Institutionellem Rassismus betreffen jedoch – so die Macpherson-Kommission – grundsätzlich alle Routinen, „mit der ethnische Minoritäten in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer, Zeugen, Opfer, Verdächtige und Mitglieder der Bevölkerung behandelt werden“.

Zweifellos stellt in Deutschland die Kriminalisierung von Minderheiten eine bevorzugte institutionelle Option der rassistischen Diskriminierung dar. Dies wurde nicht nur – wie erwähnt – anlässlich der erwähnten rechtsterroristischen Mordserie offenbar, die von den betreffenden SoKos „Halbmond“ (2001) oder „Bosporus“ (2005-2008) zur ‚Milieu‘-Kriminalität erklärt wurde. Bereits 2003 sprach das LKA Berlin von einer „libanesischen, insbesondere „libanesisch-kurdischen“ Kriminalitätsszene Berlins“ ((Vgl. den Bericht „Importierte Kriminalität“ und deren Etablierung am Beispiel der libanesischen, insbesondere „libanesisch-kurdischen“ Kriminalitätsszene Berlins des LKA Berlin (Henninger) aus dem Jahr 2003.)), während eine Ermittlungsgruppe IDENT in Berlin ethnische Minderheiten ausspähte. Sie bestand bis 2008 und wurde umgruppiert, nachdem ihr ein allzu pauschales Vorgehen gegen Mhallamiye-Kurden nachgewiesen wurde.

Noch viel weiter geht ein vertraulicher Expertenbericht (147 Seiten) der Kommission Organisierte Kriminalität (BKA) ((Alle Angaben dazu nach Andreas Ulrich (Blutige Selbstjustiz) im Spiegel 50/2004 vom 6.12.2004 (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-38201278.html).)) für die Innenministerkonferenz am 19.11.2004 in Lübeck. Der Bericht befasst sich ausschließlich mit der türkischen Glaubensgemeinschaft der Yesiden sowie mit Mhallamiye-Kurden, überwiegend aus dem Libanon. Der auf ethnische ‚Gruppen‘ gerichteten Perspektive entsprechend geht der Bericht auch über einen kriminalistischen Anspruch weit hinaus und zielt auf eine Verschärfung „des bundesdeutschen Ausländer- und Asylrechts“.

Dessen „Schwachstellen“ hätten einen „erheblichem Missbrauch“ und die Bildung „ethnisch abgeschottete(r) Subkulturen“ ermöglicht. Die Zerschlagung solcher krimineller Strukturen sei deshalb „nur noch in Teilbereichen“ und nur bei Zusammenarbeit „aller mit der Thematik befassten Behörden, justizieller Unterstützung und dem Ausbau kriminaltaktischer Ermittlungsmaßnahmen“ möglich. Im Übrigen seien die Erkenntnisse – so zitiert der Spiegel-Bericht ein Kommissionsmitglied – „auch auf andere Gruppen übertragbar“ – etwa auf Albaner oder Aussiedler aus Kasachstan.

Vor diesem Hintergrund kann der Verdacht formuliert werden, dass die Fälle der Familien  von Badir Naso, der der Gruppe der kurdischen Yeziden angehört, und von Ahmed Siala, der der Gruppe der Mhallamiye-Kurden angehört, im Zusammenhang mit einer ethnischen Kriminalisierung steht, wie sie von der Kommission Organisierte Kriminalität (BKA) umrissen wurde. Beide Fälle sind durch eine beispiellose Brutalität der verantwortlichen Behörden gekennzeichnet.

Das Bild rundet sich durch eine Entscheidung des Auswärtigen Amts unter Guido Westerwelle ab. Es wies im Mai 2012 die deutsche Botschaft in Izmir an, den Visumsantrag für Gazale Salame und ihre Kinder zu einem Besuch ihres Mannes und ihrer Töchter in Deutschland erneut aufgrund der konstruierten, immer gleichen, bis ins Jahr 2000 zurückreichenden Betrugsvorwürfe abzulehnen.

Diese neueste Entwicklung zeigt, dass eine künftige Expertenkommission Institutioneller Rassismus nur dann Erfolg haben wird, wenn sie nicht in einen politischen Machtkampf verstrickt wird. Vielmehr müssen die Öffentlichkeit, alle betroffenen Institutionen wie Polizei, Gerichte, Schulen und Behörden, aber auch Exekutiven und Legislativen, zuvor von sich aus ihre Bereitschaft zu einem Reflexionsprozess, d.h. auch zu einer sanktionsfreien Selbstreflexion erklären ((Vgl. Paul, Jobst, Von ‚Einzeltätern‘ zum ‚Institutionellen Rassismus‘. Die britische Regierung zieht die Konsequenzen und trifft eine historische Entscheidung. In: DISS-Journal 5/2000.)), die dann zur Veränderung oder zur Rücknahme diskriminierender Praktiken oder gar Gesetze führt.

Das Konzept des Institutionellen Rassismus zielt daher in der Tat, wie Heiko Kauffmann formuliert hat, „auf die Analyse von Vorurteilen in Verbindung mit Machtausübung ab, untersucht und analysiert Strukturen und Vorgänge in Behörden und Institutionen, die in ihrer Konsequenz diskriminierende und rassistische Auswirkungen haben.“

Aus diesen Gründen befürworten wir die Einberufung einer unabhängigen Expertinnenkommission zum Institutionellen Rassismus. An der Diskussion über deren Aufgabenstellung und Verankerungen beteiligen wir uns gerne.

Duisburg, 30. Mai 2012

Dr. Margarete Jäger
Prof. Dr. Siegfried Jäger
Dr. Jobst Paul