Von Helmut Kellershohn. Erschienen in DISS-Journal 20 (2010)
Es gibt zweifellos unterschiedliche Lesarten des Völkischen Nationalismus, mal moderate, mal weniger moderate. Die folgenden Ausführungen sollen zwei Knotenpunkte kenntlich machen, über die ein völkisches Verständnis von „Volk“ und „Nation“ sowohl implementiert als auch radikalisiert werden kann: zum einen über die Kopplung mit geopolitischen (Volk und Raum), zum anderen über die Verbindung mit eugenischen bzw. rassenhygienischen Ideen (Volk und Rasse). Öffentliche Debatten, die diese Knotenpunkte berühren, selbst wenn sie ursprünglich nicht einem explizit völkischen Denkhorizont entstammen sollte, sind daher für eine extreme Rechte, die sich als Gralshüterin in Sachen Ethnopolitik versteht, von besonderer Bedeutung. Gerade die Sarrazin-Debatte hat eindrucksvoll belegt, wie etwa eugenische Gedankengänge – Frank Schirrmacher (FAZ) hat sie schon zu Beginn der Debatte als Kernstück von Sarrazins Brandschrift bezeichnet – in den Medien der extremen Rechten als Bestätigung von Weisheiten gefeiert wurden, die sie, die Rechte, schon immer verkündet habe. Bezeichnenderweise setzte die sich konservativ gebende Junge Freiheit als allererstes das „Heidelberger Manifest“ ins Internet, um ihre Leser an das Original zu erinnern, das als heimliches Vorbild Sarrazin die Feder geführt haben könnte.
Volk und Raum: Kolonialpolitik, „innere Kolonisation“, „Lebensraum im Osten“
Volk und Raum stehen im völkisch-nationalistischen Denken in einer engen Beziehung zueinander. Erstens entfaltet sich seine ganze Wirksamkeit aus der immer wieder behaupteten Inkongruenz von Staatsgebiet und Volksnation, von Staats- und Sprachgrenzen, die es zu beseitigen gelte. So schreibt einer der wichtigsten deutschen Volkstumstheoretiker Max Hildebert Boehm 1936:
„Gesamtdeutsch ist jede Betrachtungsweise völkischer Fragen, die unter bewußter Absage an jede bloß reichsdeutsche, kleindeutsche Blickverengung auf das Gesamtvolk über staatliche Grenzen hinaus bezogen ist. Die Erziehung zu allseitigem und selbstverständlichem gesamtdeutschen Denken ist namentlich im Hinblick auf das schwer gefährdete Deutschtum außerhalb des Reiches eine der wichtigsten Gegenwartsaufgaben verantwortlicher Volkstumspflege. Hier entscheidet sich, ob wir ein Volk von fast 100 oder von nur 68 Millionen sein und bleiben wollen.“ ((Boehm 1936, S. 30))
Zweitens liegt es gerade in einer holistischen Auffassung des Volkes nahe, diesem Kollektivsubjekt Körperlichkeit („Volkskörper“) und Räumlichkeit („Volksboden“) als quasi-habituelle Attribute zu unterstellen. Bezüglich des Volksbodens unterscheidet Boehm den „seßhaften Volksteil“, der in einem „geschlossene[n] Siedelgebiet“ lebt, von dem „freizügigen Volkselement[ ]“, das in einem „in die Umwelt ausstrahlenden Volkswirkungsraum[ ]“ agiert, der weit über das Reich, die ehemaligen (1919 abgetretenen) deutschen Reichsgebiete und die „deutschen“ Staaten außerhalb des Reiches (Österreich) hinausweist und vor allem die sog. „volksdeutschen“ Siedlungsgebiete in Ostmitteleuropa betraf.
Diese völkisch-pangermanistische Orientierung entwickelte sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg im Umkreis solcher Organisationen wie dem Allgemeinen Deutschen Verband (ADV) ((Der „Allgemeine Deutsche Verband“ wurde 1891 ins Leben gerufen. 1894 erhielt er den Namen „Alldeutscher Verband“. In einem für die „Alldeutschen Blätter“ 1894 verfassten Beitrag heißt es: „Nach Osten und Südosten hin müssen wir Ellenbogenraum gewinnen, um der germanischen Rasse diejenigen Lebensbedingungen zu sichern, deren sie zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte bedarf, selbst wenn darüber solch minderwertige Völklein wie Tschechen, Slowenen und Slowaken […] ihr für die Zivilisation nutzloses Dasein einbüßen sollten. […] Deutsche Kolonisation, deutscher Gewerbefleiß und deutsche Bildung […] sollen bis nach Kleinasien als ein Bindemittel dienen, durch das sich große und zukunftsreiche Wirtschaftsgebiete uns angliedern […].“ (Zit. nach Hartwig 1968, S. 19) )) oder dem Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) ((Der VDA (Verein für das Deutschtum im Ausland) wurde 1881 als „Allgemeiner Deutscher Schulverein“ gegründet. 1908 erfolgte die Umbenennung, 1933 nannte er sich „Volksbund für das Deutschtum im Ausland“ und wurde dann 1938 der von der SS eingerichteten „Volksdeutschen Mittelstelle“, die alle volkstumspolitischen Aktivitäten zentralisierte, unterstellt. 1955 erfolgte die Rückbenennung. Heutiger Name: „Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland“ (seit 1998). Vgl. Goldendach/Minow 1994)). Im Aufruf des ADV von 1891 heißt es zu seiner Zielsetzung: „Pflege und Unterstützung deutsch-nationaler Bestrebungen in allen Ländern, wo Angehörige unseres Volkes um die Behauptung ihrer Eigenart zu kämpfen haben, und Zusammenfassung aller deutschen Elemente auf der Erde für diese Ziele.“ ((Zit. nach Mommsen 1977, S. 128))
Dies implizierte die Forderung nach einer „tatkräftigen Kolonialpolitik“ und der „Fortführung der deutschen Kolonialbewegung zu praktischen Ergebnissen“. Hierin war man sich mit den Kolonialvereinen und den Organisationen der völkischen Bewegung weitgehend einig. So hieß es z.B. im Programm der Deutsch-sozialen Reformpartei von 1895: „Erhaltung und Erwerbung von Handels- und Ackerbaukolonien, Errichtung überseeischer Strafansiedelungen für rückfällige Verbrecher, Beförderung der inneren Kolonisation zur Stärkung des Deutschtums, kräftigen Schutz der Deutschen im Auslande, […].“ ((Zit. nach Breuer 2008, S. 61; dort weitere Beispiele; Breuer weist aber auch auf Vorbehalte der Völkischen gegen die Kolonialpolitik hin, die er aber für nicht maßgeblich hält. Anders Puschner 2001, S. 153))
Dieser Programmpunkt verweist allerdings auf einen weiteren Aspekt, der sich auch bei den Alldeutschen findet. Es geht hierbei um den Umgang mit den verschiedenen Nationalitäten im Deutschen Reich, insbesondere mit dem polnischen Bevölkerungsteil in den preußischen Ostgebieten, der mit restriktiven sprach- und schulpolitischen Maßnahmen, mit Ausweisungen, mit dem Aufkauf polnischen Großgrundbesitzes und der Ansiedlung deutscher Siedler bekämpft wurde. Von „innerer Kolonisation“ ((Vgl. den diesbezüglichen Artikel in: Meyers Großes Konservations-Lexikon, Bd. 9, Leipzig 1907, S. 845-846)) und „Germanisierung“, von einem „lebendigen Wall gegen die slawische Flut“ ((Zit. nach Wehler 1995, S. 964)) war sowohl in der staatlichen, der alldeutschen als auch in der völkischen Propaganda, z.B. von Seiten des Deutschen Ostmarkenvereins, die Rede.
Dem Schlagwort von der „Germanisierung“ (oder „Eindeutschung“) begegnet man wieder im Zusammenhang mit den alldeutschen Kriegszielprogrammen während des Ersten Weltkrieges, an die in den 20er Jahren der NS anknüpfen konnte.
In Mein Kampf spricht Hitler von der „Bodenpolitik der Zukunft“ und greift dabei auf das Schlagwort vom „Lebensraum“ bei Friedrich Ratzel und Karl Haushofer zurück. ((Belege bei Schmitz-Berning 2000, S. 376f.)) Aus dem angeblichen Missverhältnis zwischen Volkszahl und der dem Volk zur Verfügung stehenden Ernährungsbasis, d.h. der „Größe und Güte des Grund und Bodens“ (Hitler 1941, S. 728) sowie aus militärstrategischen und -geographischen Erwägungen zieht Hitler den Schluss auf einen erweiterten „Lebensraum im Osten“:
„Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“ (Ebd., S. 742)
Die geopolitische Zuspitzung des Völkischen Nationalismus in der Lebensraumideologie bildet die äußere Kehrseite eines rassenpolitischen Programms, in dem die kriegerische Eroberung eines Raumes zum Beweis der Überlegenheit einer Rasse, im Falle des NS, der nordischen oder arischen Rasse, dient. Wenn der Völkische Nationalismus durchaus mit der Idee einer Gleichwertigkeit der Völker einhergehen kann, wie dies z.B. in heutigen ethnopluralistischen Konzeptionen, wenn auch nur vordergründig, postuliert wird, so führt die Kopplung des Volks- mit dem Rassebegriff zu einer veränderten ideologischen Konfiguration, in der Hierarchisierung, die Behauptung der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Völker bzw. Rassen den Kern der Argumentation ausmachen.
Volk und Rasse: Biopolitik, Rassenhygiene
Auch in anderer Hinsicht produziert die Verknüpfung des Volks- mit dem Rassebegriff bestimmte Effekte. Bekanntlich beinhaltet der im Völkischen Nationalismus unterstellte Begriff des Volkes von vornherein eine ausschließende Komponente: einerseits gegen alles Nicht-Deutsche als dem Inbegriff nicht integrierbarer Bevölkerungsgruppen und gegen alles Un-Deutsche als dem Inbegriff nicht mehr tolerierbarer Einstellungen und Verhaltensweisen. Durch den Rassenbegriff werden diese Ausschließungen radikalisiert, indem durch auf- und abwertende Differenzierungen innerhalb und zwischen den Völkern sowie deren Naturalisierung das Verdikt des Ausschlusses den Charakter des Unabänderlichen und Naturgesetzlichen erhält und die Form des Ausschlusses zum Exterminismus tendiert.
Ein klassisches Beispiel für diesen Vorgang liefert Karl Astel 1934 in seiner Antrittsrede ((Im Folgenden zitiert nach Wuttke-Groneberg 1980, S. 285f. (Dokument 165); der Titel der Antrittsvorlesung lautete: „Rassendämmerung und ihre Meisterung durch Geist und Tat als Schicksalsfrage der weißen Völker“. Zu Astel, von 1939-1945 Rektor der „SS-Musteruniversität“ Jena, vgl. Hoßfeld u.a. (Hg.) 2003, passim)) als Ordinarius an der Universität Jena, wenn er den Zerfall der ‚rassischen Qualität‘ des deutschen Volkes auf die Verkennung der Naturgesetze zurückführt, die „nicht nur für Pflanzen und Tiere, sondern für alle Lebewesen einschließlich des Menschen“ absolute Geltung beanspruchen könnten. Dass der Nationalsozialismus gerade dies, nämlich die „Gültigkeit der Naturgesetze auch für den Menschen“, für die Gestaltung von Staat und Gesellschaft „zur grundsätzlichen Anerkennung“ erhoben habe, sei sein historisches Verdienst.
In der Nutzanwendung auf den medizinisch-psychiatrischen Bereich, in dem sowieso schon, aus der Sicht des bürgerlichen Rechts, die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Individuen, ihr Status als Rechtssubjekte infrage gestellt oder aberkannt oder von vornherein verweigert werden, heißt es dann:
„Während viele Generationen Trugbildern nachjagten und das Schwache, Kranke, Untüchtige, Sieche, Verbrecherische, Fremdartige durch äußere Maßnahmen vergeblich zu bessern trachteten, trugen sie zu dem empfindlichen Rassenzerfall bei, wenn auch größtenteils ungewollt. Die Menschen häuften geradezu mit Anspannung aller Kräfte der Gesunden und Leistungsfähigen beträchtliche Massen von Lebensuntauglichen und Unzulänglichen aller Art an. Diese belasteten und belasten das Volksleben unerhört in kultureller wie in wirtschaftlicher Hinsicht.“
Die Befreiung des „Volkslebens“ von den bereits von Karl Binding und Alfred Hoche 1920 perhorreszierten „Ballastexistenzen“ (Binding/Hoche 1920) und umgekehrt die systematische Pflege des „Volkskörpers“ durch die Förderung der Vermehrung der „Gesunden“ und „Leistungsfähigen“ umreißen exakt das Terrain, auf dem die Rassenhygiene als der völkisch-rassistischen Variante der im angelsächsischen Raum entstandenen Eugenik agiert.
Rassenhygiene, Eugenik, Bevölkerungspolitik sind Elemente einer neuartigen Machttechnik, die von Michel Foucault als Biopolitik bezeichnet wird und die sich auf ein Ensemble von Einrichtungen einer von ihm so genannten Biomacht stützt. Sie entwickelt sich ihm zufolge neben der bereits vorhandenen „Disziplinartechnologie der Arbeit“, mit der sie sich „verbindet, sie integriert, sie teilweise modifiziert“ und benutzt, „um sich gewissermaßen in sie einzupflanzen, und sich dank dieser vorgängigen Disziplinartechnik wirklich festzusetzen“. Sie richtet sich nicht unmittelbar auf die Formierung des Körpers, vielmehr „auf die Vielfalt der Menschen, aber nicht insofern diese sich in Körpern resümiert, sondern insoweit sie im Gegenteil eine globale Masse bilden, die von Menschenprozessen geprägt ist, wie den Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw.“ Es geht um die Regulierung einer „Gesamtheit von Prozessen […] wie etwa dem Verhältnis der Geburten und der Todesfälle, der Reproduktionsrate, der Fruchtbarkeit einer Bevölkerung usw..“ ((Foucault 1992, S. 29f.; es handelt sich hier um Zitate aus der Vorlesung Foucaults vom 17. März 1976 aus der Reihe In Verteidigung der Gesellschaft; vgl. den Artikel „Biomacht/Biopolitik“ in: Jäger/Zimmermann (Hg.) 2010, S. 33)) Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer „Art Verstaatlichung des Biologischen“. Das klassische Recht des Souveräns über Leben und Tod, das bedeutet, „dass er gewissermaßen sterben machen und leben lassen kann“, erfährt hier insofern eine Umkehrung, als der Souverän nun das Leben selbst in die Hand nimmt und für sich das Recht beansprucht, „leben zu machen und sterben zu lassen.“ ((Ebd., S. 27f.))
Verlegt Foucault die Anfangsgründe der Biopolitik in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, so erfährt sie den eigentlichen Aufschwung durch den Siegeszug der Biologie als Legitimationswissenschaft im 19. Jahrhundert. 1859 erscheint Charles Darwins On the Origin of Species, kurz zuvor hatte Arthur de Gobineau seinen 4-bändigen Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen (Essai sur l’inégalité des races humaines, 1853-1855) veröffentlicht. 1869 folgt das bekannteste Werk des Begründers der Eugenik, Francis Galton, Hereditary Genius. Dies sind einige Eckpunkte, die eine neue „Naturlehre der Gesellschaft“ (Hans-Walter Schmuhl) ermöglichen, den Sozialdarwinismus (maßgeblich Ernst Haeckel und Herbert Spencer). Allerdings muss man darauf hinweisen, dass der Sozialdarwinismus ursprünglich, an Darwin anknüpfend, „von einem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus durchdrungen“ war; erst später, vor allem seit den 1890er Jahren findet ein folgenschwerer Umdeutungsprozess statt. Matthias Weipert schreibt dazu:
„Das Vertrauen in den naturgesetzlich sich ergebenden Fortschritt der Menschheit ging verloren und der evolutionistische Sozialdarwinismus wurde durch einen selektionstheoretischen ersetzt. Der Fortschritt, so die These der selektionstheoretischen Sozialdarwinisten, war nicht mehr garantiert, sondern im Gegenteil durch die Verhinderung der natürlichen Auslese in der modernen Kultur in höchstem Maße gefährdet, so dass die menschliche Entwicklung nicht mehr sich selbst überlassen bleiben konnte.“ (Weipert 2006, S. 163)
In Deutschland war dies die Geburtsstunde der Rassenhygiene (maßgeblich Wilhelm Schallmayer, Alfred Ploetz), der deutschen Variante der durch Francis Galton begründeten Eugenik.
Das rassenhygienische Paradigma zeichnet sich nach Weipert durch drei Teilkomplexe aus:
„(…) erstens durch die ideologisch-wissenschaftlichen Prämissen in Form der Verbindung von selektionstheoretischem Sozialdarwinismus und Vererbungsforschung, zweitens durch die thematischen Schwerpunkte ‚Degeneration’, ‚Kontraselektion’ und ‚differentielle Geburtenrate’ sowie drittens durch die daraus folgenden Konsequenzen für das Menschen- und Gesellschaftsbild, die sich mit den Schlagworten ‚genetischer Determinismus’ und ‚Biologisierung des Sozialen’ fassen lassen.“ (Ebd., S. 164) ((Vgl. auch die Aufschlüsselung des rassenhygienischen Paradigmas bei Hans-Walter Schmuhl 1992, S. 49))
Zentraler Bestandteil des rassenhygienischen Paradigmas ist das Degenerationskonzept. Bereits Galton „war davon überzeugt, daß sich die Träger ‚minderwertigen Erbguts’ rascher vermehrten als die Träger ‚hochwertiger Erbanlagen’, so daß es von Generation zu Generation zu einer progressiven Erosion der genetischen Substanz – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – kommen müßte.“ (Schmuhl, S. 62) Im Prinzip ist diese Behauptung allen rassenhygienischen Degenerationsvorstellungen gemeinsam, ebenso wie die Behauptung, dass Medizin (bes. Pädiatrie) und Sozialhilfe, vulgo Armenpflege „kontraselektorische“ Effekte produzierten.
Im Vergleich zu älteren Degenerationskonzepten aber ist der Betroffenenkreis erheblich erweitert. Erfasst werden nicht nur Geisteskranke, Behinderte oder ‚geborene Verbrecher’ (Cesare Lombroso), sondern darüber hinaus angeblich unterdurchschnittlich Begabte und allgemein „Untüchtige“ (Astel), denen eine überdurchschnittliche Fortpflanzungsrate attestiert wird. Hinter dieser Adressierung, gerade auch hinter ihrer Ausweitung, verbirgt sich nicht zuletzt ein klassistischer Blick der selbsternannten bürgerlichen ‚Leistungseliten’ auf die (aus ihrer Sicht) Unzulänglichkeiten des Proletariats und die immer wieder monierten ‚Auswüchse’ des Sozialstaates. Im Endeffekt unterstellt das Degenerationskonzept, dass „im Laufe weniger Generationen die ‚erbgesunde Bevölkerung’ ausgestorben“ sein werde.
Dieses apokalyptische Szenario (Etzemüller 2007) hinderte die Rassenhygieniker nicht daran, Züchtungsutopien zu entwerfen. Um der Erosion der genetischen Substanz entgegenzuwirken, heißt es beispielsweise in einem 1932 erschienenen Büchlein mit dem bezeichnenden Titel „Volkstod?“:
„Der zur Veredelung und Verbesserung der erblichen Qualität eines Volkes führende Weg ist ganz einfach der, daß die Tüchtigen, Hochwertigen sich stärker vermehren als die Untüchtigen, Minderwertigen; (…) die höchstwertigen Menschen sollten sich zahlenmäßig überdurchschnittlich vermehren, die tüchtigen ausreichend, die minderwertigen überhaupt nicht. Dann würde im Laufe der Generationen die Zahl der Höchstwertigen immer mehr zunehmen, die Minderwertigen würden nahezu ganz verschwinden.“ (Lotze 1932, S. 32f.)
Kurze Zeit später gießt der NS diesen Grundgedanken in zwei Gesetze, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 und das Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Eheschutzgesetz) von 18. Oktober 1935, ((Zur Kommentierung aus NS-Sicht vgl. Lothar Stengel-von Rutkowski 1939, S. 76-97)) und eröffnet damit eine „Eskalation der Gewalt“ (Schmuhl, S. 65), die sich solcher Mittel wie Asylierung, Sterilisierung und Euthanasie bedient.
Literatur
Binding, Karl / Hoche, Alfred 1920: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Leipzig: Felix Meiner
Boehm, Max Hildebert 1936: ABC der Volkstumskunde. Der Begriffsschatz der deutschen Volkslehre für Jedermann, Potsdam: Verlag Volk und Heimat
Breuer, Stefan 2008: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Etzemüller, Thomas 2007: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript Verlag
Foucault, Michel 1992: Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus, in: Sebastian Reinfeldt, Richard Schwarz, Michel Foucault: Bio-Macht, Duisburg: DISS, S. 27-50
Goldendach, Walter von / Minow, Rüdiger 1994: „Deutschtum Erwache!“ Aus dem Innenleben des staatlichen Pangermanismus, Berlin: Dietz
Hartwig, Edgar 1968: Art. „Alldeutscher Verband“, in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, hg. von einem Redaktionskollektiv unter Ltg. von Dieter Fricke, Band 1, Leipzig: VEB Bibliogr. Institut, S. 1-26
Hitler, Adolf 1941: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, 641.-645. Auflage, München: Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf.
Hoßfeldt, Uwe u.a. (Hg.) 2003: ‚Kämpferische Wissenschaft’. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln, Weimar, Wien: Böhlau
Jäger, Siegfried / Zimmermann, Jens (Hg.) 2010: Lexikon Kritische Diskursanalyse. Eine Werkzeugkiste (= Edition DISS Bd. 26), Münster: Unrast
Lotze, R. 1932: Volkstod? (= Kosmos-Bändchen Nr. 210), Stuttgart: Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde
Mommsen, Wolfgang J. 1977: Imperialismus. Seine geistigen, politischen und wirtschaftlichen Grundlagen. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Hamburg: Hoffmann und Campe
Puschner, Uwe 2001: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Schmitz-Berning, Cornelia 2000: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin / New York: Walter de Gruyter
Schmuhl, Hans-Walter 1992: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens’ 1890-1945 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 75), 2. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Stengel-von Rutkowsky, Lothar 1939: Grundzüge der Erbkunde und Rassenhygiene, 3. durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin-Lichterfelde: Verlag Langewort
Wehler, Hans-Ulrich 1995: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3, München: C.H. Beck
Weipert, Matthias 2006: „Mehrung der Volkskraft“: Die Debatte über Bevölkerung. Modernisierung und Nation 1890-1933, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh