„Ich glaube, wir gehen Zeiten entgegen, in denen die Medien wieder politischer werden.“

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Tom Schimmeck im Gespräch mit Siegfried Jäger. Erschienen in DISS-Journal 20 (2010)

In Ihrem neuen Buch „Am besten nichts Neues“ kritisieren Sie die Medien dahin gehend, dass diese eigentlich – im Kern – immer nur dasselbe sagen. Ich verstehe das so, dass an den unterschiedlichsten Beispielen immer wieder das gleiche Unwissen wiederholt wird, was dazu führt, dass sich Vorurteile und Ressentiments aller Art fortlaufend verfestigen. Wie könnte ein kritischer Journalismus aussehen, der seinem gesetzlichen Auftrag, einen Beitrag zur demokratischen Willensbildung zu leisten gerecht wird?

Es ist ja nicht so, dass es keinen kritischen Journalismus gäbe. Tatsächlich mühen sich noch immer viele gute Journalisten in vielen klassischen Medien wie auch im Internet, dem schönen, alten Ideal der Aufklärung gerecht zu werden. Sie reisen offenen Auges durch die Welt, enthüllen, was offiziell keiner wissen soll, durchwühlen komplexeste Stofe, analysieren scharf und sagen unerschrocken ihre Meinung. Oft können sie auch noch gut schreiben und haben manchmal sogar Humor.

Doch das Treiben der Wackeren verschwindet immer mehr hinter dem anschwellenden Schwachsinn, wird übertönt von der Kakophonie der immergleichen Show. Das hat meiner Ansicht nach mehrere Ursachen. Erstens sind die Medien, gerade auch die so genannten „Qualitätsmedien“, im vergangenen Jahrzehnt scharf durchrationalisiert worden. In den meisten Redaktionen müssen deutlich reduzierte Redaktionen die gleiche Arbeit wie zuvor bewältigen. Das reduziert die Zeit zum Recherchieren, zum Nachdenken dramatisch. Studien zeigen, dass der Raum für genuine journalistische Arbeit, zu der ja idealerweise Recherche und ein gewisses Maß an Realitätskontakt zählen, immer knapper wird. So haben etwa die Leipziger Journalismus-Forscher Marcel Machill, Markus Beiler und Martin Zenker durch Befragung von 235 Journalisten in Tageszeitungen, Hörfunk, Fernsehen und Online-Redaktionen festgestellt, dass diese pro Tag im Schnitt noch 108 Minuten für sogenannte Überprüfungs- und Erweiterungsrecherchen aufwenden. Für die Kontrolle der Glaubwürdigkeit und Richtigkeit von Quellen und Informationen bleiben gerade elf Minuten. Raus in die weite, wahre Welt kommen sie gar nicht mehr. Der Anteil der Ortstermine und leibhaftigen Begegnungen an der knappen Recherchezeit beläuft sich auf 1,4 Prozent. Der deutsche Journalist, könnte man folgern, ist der letzte, der mitbekommt, was in Deutschland los ist.

Der zweite Faktor ist das rapide Anwachsen der PR. Die Redaktionen nähren sich immer mehr von jenem Verlautbarungs-Fastfood, das ihnen gratis geliefert wird – von offiziellen Stellen, Firmen und deren PR-Leuten. Zu diesem Ergebnis – dem schell wachsenden Einfluss der PR – kommen auch Siegfried Weischenberg, Maja Malik und Armin Scholl in der Studie „Journalismus in Deutschland II“ sowie eine Studie der Universität Münster, die im August 2009 im „journalist“ veröffentlicht wurde. Die Zahl der professionellen Meinungsmacher übersteigt inzwischen die der unabhängigen Journalisten. Die Werber, Spin-Doktoren und Agendasetter begleiten längst nicht mehr nur die Markteinführung neuer Margarine-Marken. Sie sind bei jeder politischen Debatte dabei, bei jedem Wahlkampf, jedem Krieg. Ihr „Wording“ dominiert die Nachrichten. Und dient dem, der am besten zahlt.

Drittens verlagert sich die publizierte Wirklichkeit immer mehr auf den Boulevard. Das liegt nicht nur an der wachsenden Menge Zeitungs-Trash in den Kioskregalen, auch nicht allein an den vielen TV-Kanälen, in denen Journalismus gar nicht mehr vorkommt. Selbst in klassischen Medien wird Wirklichkeit immer häufger an Gesichtern festgemacht, mit pseudo-persönlichen „People-Stories“. Ein Paradebeispiel: Der Aufstieg des Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jakob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg zum beliebtesten Politiker Deutschlands – dank Dauerpräsenz in Bild, Bunte und TV.

Viertens schlägt sich der wachsende zeitliche und ökonomische Druck auf feste wie auf die wachsende Zahl „freier“ Journalisten nicht nur in einer Berichterstattung nieder, die zumeist nur noch die oberflächliche Perpetuierung des schon Gesagten leistet. Er verändert auch die Mentalität der Akteure. Viele Journalisten scheinen aus der Not eine Mode machen zu wollen, schwimmen mit im Mainstream, suchen ihre Befriedigung darin, „dabei“ zu sein. Distanz und Eigensinn treten als Tugenden zurück, der Kritiker gilt schnell als Spielverderber. Journalistische Zirkel – gerade im Politik- und Wirtschaftsjournalismus – fungieren heute oft eher als Stätten vereinheitlichender Selbstbespiegelung und -bestätigung.

Ein kritischer Journalismus, der seinem gesellschaftlichen Auftrag gerecht werden will, muss sich all diesen Mechanismen und Zwängen widersetzen, die Erregungszyklen durchbrechen. Er versucht eine Sprache zu finden, die mehr transportiert als kurzatmige Einheits-News. Er will, wie eh und je, den größeren Kontext begreifen und erzählen, sich mit jenen befassen, die nicht „prominent“ sind. Jene zahllosen „Events“ meiden, an denen heute Images, Stimmungen und Meinungen gemacht werden und sich an andere Orte begeben.

Welchen Einfluss hat Ihres Erachtens die Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Zeitungslandschaft weltweit?

Einen Doppelten. Zum einen wirken diese Krise wie auch der vorangegangene Dotcom-Crash ökonomisch sehr negativ auf die privatwirtschaftlich organisierten Medien. Um ihre Renditen zu retten, haben viele Medienbesitzer die Ressourcen des Qualitätsjournalismus radikal beschnitten. Weltweit. Besonders stark, scheint mir, in den USA.

Zum anderen hat die Krise auf unschöne Weise viele Mainstream-Medien entzaubert. Medien, die über Jahre just jene neoliberalen Glaubenssätze nachbeteten, deren Mechanismen sie schließlich selbst zum Opfer fielen. Der Journalismus steckt seither in einer schweren Sinnkrise, besonders der Wirtschafts- und Finanzjournalismus, aber auch der politische Journalismus.

Presse- und Meinungsfreiheit wird ja vom Grundgesetz ausdrücklich gewährt: Eine Zensur indet nicht statt. Gut so! Doch in Art. 5, Absatz 2 heißt es auch: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Mir ist bekannt, dass meist nur die Leugnung des Holocaust geahndet wird. Gleichzeitig scheint aber jede/r sagen und schreiben zu können, was sie/er will. Man darf sich also rassistisch, militaristisch, verlogen, ehrabschneiderisch, rechtsextremistisch etc. äußern. Finden Sie das richtig? In Art. 3 des GG heißt es doch: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Prinzipiell finde ich es richtig, die Presse- und Meinungsfreiheit so weit wie individuell und gesellschaftlich irgendwie erträglich auszulegen. Eine freie Gesellschaft muss auch das Polemische, das Peinliche, die Propaganda ertragen. Vor allem: Wer zieht die Grenze? Welche Institution definiert, was unerträglich ist? Der Ethikrat? Das Landgericht? Die Reichsschrifttumskammer? Zudem finden sich neben der Leugnung des Holocaust (§ 130 StGB, Abs. 3) im Strafgesetzbuch viele weitere medienrelevante Tatbestände. Etwa das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86), die Öffentliche Aufforderung zu Straftaten (§ 111), die Gewaltverherrlichung (§ 131), die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166). Hinzu kommt der Komplex Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung und die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 185, 186, 187 und 189). Im schon zitierten Volksverhetzung-Paragrafen 130 steht auch geschrieben, dass es strafbar ist Schriften herzustellen, zu verbreiten und sogar zu beziehen, „die zum Hass gegen Teile der Bevölkerung oder gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe aufstacheln, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie aufordern oder die Menschenwürde anderer dadurch angreifen, dass Teile der Bevölkerung oder eine vorbezeichnete Gruppe beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden…“ Das sind jede Menge Paragrafen, die – bei allzu strikter, obrigkeitsstaatlicher Anwendung – auch eine Menge Unheil anrichten könnten.

Das Hauptproblem ist meiner Ansicht nicht, dass jeder sagen und schreiben kann, was er will. Ein solcher Zustand ist erst einmal erstrebenswert. Die stete Frage hingegen ist, wie es eine demokratische Öffentlichkeit schafft, ihre Bandbreite und Vielfalt zu erhalten und dabei ihre Ideale hochzuhalten. Wie verhindert werden kann, dass talentierte Lautsprecher den Fokus der öffentlichen Debatte abdrängen von den Kernwerten der Grund- und Menschenrechte. Just hat uns die „Sarrazin-Debatte“ gezeigt, wie stark eine populistische, Emotionen anstachelnde Kampagne wirken kann, wenn „Leitmedien“ wie Bild, Spiegel und der Talkshow- Zirkus sie transportieren.

Der Karikaturenstreit um die Person Mohammeds, der von der rechtslastigen dänischen Zeitung Jyllands Posten bewusst und hartnäkkig provoziert worden ist, hat ein weltweites Echo gefunden. Unter Hinweis auf die Meinungs- und Pressefreiheit wurde der Abdruck mehrheitlich begrüßt und viele der Karikaturen wurden zigfach wieder abgedruckt. Die Folgen waren, dass sich einerseits die Muslime beleidigt sahen und teilweise mit Gewalttaten reagierten, zugleich provozierte dieser Streit rassistische Reaktionen in den Bevölkerungen besonders des Westens. Ich finde, dass in diesem Fall, den ich als exemplarisch einschätze, journalistische Verantwortung und journalistische Ethik zutiefst verletzt worden sind. Wie sehen Sie diesen Fall und / oder auch ähnlich gelagerte Fälle?

Komplizierter Fall. Sicher ist der „Karikaturenstreit“ vor fünf Jahren international hochgespielt worden. Aber eben nicht nur von Jyllands-Posten, nicht nur von den vielen Medien in über 50 Ländern, die diese übrigens grottenschlechten Karikaturen im Namen der Meinungsfreiheit nachdruckten. Sondern auch von aufgestachelten Gruppen in etlichen islamischen Ländern, die von ihren Predigern und Medien hörten, dass diese albernen dänischen Zeichnungen eine furchtbare Attacke des ungläubigen Westens auf sie und ihre Religion darstelle. Und daraufhin fundamental beleidigt waren, Fahnen verbrannten und Botschaften bedrängten.

Dieses enorme beidseitige Hysteriepotential ist beunruhigend. Und wohl nur auf dem Hintergrund des „Clash-of-cultures“- Diskurses seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 zu verstehen. Ein Diskurs, der vor allem auf das Überzeichnen von Feindbildern abzielt. Hier werden Glaubenskriege geführt (und auch ganz reale Kriege), die zu einer Verrohung der öffentlichen Debatte geführt haben. Ich habe mich oft gefragt: Hätte ich die Karikaturen nachgedruckt? Ich vermute: Ja. Zusammen mit vielen Berichten und einer Analyse der Entgleisung der globalen Öffentlichkeit. Eingebettet in die großen Fragen: Worum geht es hier wem wirklich? Woher rührt die ungeheure emotionale Sprengkraft? ((Die Debatte ist auf Wikipedia übrigens ganz gut dokumentiert: http://en.wikipedia.org/wiki/Jyllands-Posten_ Muhammad_cartoons_controvers))

Kurz zu Sarrazin! Seine unsäglichen Thesen zu Einwanderinnen und armen Leuten sind in den Medien millionenfach nachgebetet worden: in der BILD-Zeitung, im SPIEGEL, aber auch schon im letzten Jahr in der als ‚BILD für Intellektuelle‘ bezeichnete Zeitschrift Lettre International. Sie entbehren nicht nur wissenschaftlicher Begründung, sondern haben zugleich große Resonanz in breiten Kreisen der Bevölkerung bis in die große Politik hinein gefunden. Das ist ein gefundenes Fressen für Rassisten und machtbesessene Partei-Strategen. Auch in dieser Hinsicht vermisse ich die demokratische Verantwortung der Medien. Wie beurteilen Sie das?

Sarrazin provozierte eine lehrreiche Eruption des Rechtspopulismus in Deutschland. Der Wirbel um „Deutschland schafft sich ab“ ist ein Paradefall für eine geil gewordene Publizistik, die nur noch fette Säue durchs Dorf jagt, alle Ressourcen darauf konzentriert, beim „Aufreger“ der Woche dabei zu sein. Und dafür auch bereit ist, auch den niedersten Instinkt noch zu wecken, diese durchaus profitable Erregung anzuheizen mit erbbiologischem Unfug und absurden Verdrehungen, in der schon dadaistisch anmutenden Schlagzeile mündend: „Bild kämpft für Meinungsfreiheit!“

Besonders unschön: Neben offener Verachtung für eine vermeintlich dumme, aber umso vermehrungsfreudigere Unterschicht bricht sich hier etwas Bahn, was ich als Kern rechtspopulistischer Rhetorik betrachte: Die Verachtung der Politik an sich. „Die Politiker“, so klingt seit Monaten der postdemokratische Refrain, der auch jetzt wieder laut angestimmt wird, „die Politiker“ taugen ja sowieso alle gar nichts. ((Ich habe dazu ein keines Radiostück montiert: http://www.swr.de/blog/swr2_dokublog/site/index.php?page=Artikel_lesen&id=150&PlayerLoad=1278))

In Ihrem Buch zitieren Sie Richard Sennett mit den Worten: „Die Massenmedien befestigen das Schweigen der Menge.“ Aber die Menge wehrt sich, wie Stuttgart 21, die Massenproteste gegen die Heraufsetzung der Altersgrenze oder die Proteste gegen die Verlängerung der Atomkraft-Laufzeiten zeigen. Haben die Medien aufgehört, die „Vierte Gewalt“ zu sein und wenn ja, woran liegt das Ihres Erachtens?

Medien fungieren nur so lange als „vierte Gewalt“, wie sie sich als kritische, unabhängige Stimme in der Gesellschaft verstehen. Viele Medienmacher haben dieses Selbstverständnis aufgesteckt, füllen irgendwie ihre Seiten und Sendungen, möglichst schnell, billig und bunt, mit Entertainment, „Infotainment“, mit entpolitisierten „Geschichten“ aller Art. Doch das ist kein linearer Prozess. Es gibt immer wieder Gegenbewegungen. Und sei es der Streit um einen Kopfbahnhof im Südwesten, der eskaliert zu einer Grundsatzdebatte um Mitsprache und Teilhabe in der Demokratie. Ich glaube, wir gehen Zeiten entgegen, in denen die Medien wieder politischer werden. Und sei es nur, weil den Machern klar wird, dass ihr Publikum mehr Futter will und von der Sinnleere des derzeit gängigen Stofs allmählich angeödet ist.

Tom Schimmeck arbeitet als freier Autor für die Süddeutsche Zeitung, die Zeit, den Deutschlandfunk, den NDR und vielen anderen Medien (www.schimmeck.de) Er war Mitbegründer der taz und Redakteur und Reporter bei Tempo, Spiegel, profil und Woche. 2007 erhielt er den Otto- Brenner-Preis, 2008 den Ernst-Schneider- Preis und 2009 den Deutschen Sozialpreis. Er lebt im Wendland. Das Buch „Am besten nichts Neues“ erschien 2009 im Westend- Verlag (Frankfurt).