Kosovo – war da was? Ist da was?

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Von Eckart Spoo. Erschienen in DISS-Journal 19 (2010)

Nahezu 100.000 Bundeswehr-Soldaten waren in den vergangenen elf Jahren im Kosovo eingesetzt, jeweils für einige Monate. Was wissen wir darüber? Die Medien berichten fast nichts. In der „tageszeitung“ war einmal zu lesen: „Gefahr und Langeweile: so läßt sich die Realität im Camp am kürzesten umschreiben. Die Bundeswehr bietet den Soldaten Abwechslung, damit die Zahl der Selbstmorde in der Truppe nicht noch weiter steigt.“ Interessant. Aber die „taz“- LeserInnen erfuhren nur indirekt davon, denn der Artikel war kein Bericht aus dem Kosovo, sondern handelte von einem dort gedrehten Film ohne Breitenwirkung.

Ende März 2010 wurde das deutsche Medienpublikum ein wenig an diesen Bundeswehreinsatz erinnert, als Minister zu Guttenberg der Truppe im Kosovo einen Kurzbesuch abstattete und sich dabei von Journalisten begleiten ließ. Er nannte den Einsatz „eine Erfolgsgeschichte“. Der Erfolg reicht aber offenbar noch längst nicht aus, um den Einsatz zu beenden. Guttenberg kündigte lediglich an, daß er sich im Herbst mit dem Gedanken befassen will, das deutsche Kontingent der „Kosovo-Force“ (KFOR) zu verkleinern. Die „erfolgreiche Mission“ soll noch jahrelang fortgeführt werden. Deutschland ist der größte Truppensteller der KFOR.

Auf der Internet-Seite „Bundeswehr im Einsatz > Aktuelle Einsätze > Balkan-Einsätze > Kosovo (KFOR)“ stellt die Bundeswehr ihre Aufgabe so dar: Am 10. Juni 1999 habe der UN-Sicherheitsrat den Einsatz der NATOTruppe Kosovo-Force in der Weise geregelt, daß diese „als erste Aufgabe den Abzug der jugoslawischen Truppen und die Entmilitarisierung des Kosovo überwachen sollte“. Das heißt also: Die Provinz Kosovo des jugoslawischen Bundeslandes Serbien sollte, nachdem die NATO mit 78tägigen Bombardements die blockfreie Bundesrepublik Jugoslawien besiegt hatte, von jugoslawischen (multiethnischen) Truppen geräumt werden, die militärische Macht sollte auf die NATO übergehen, und dieser Wechsel sollte „Entmilitarisierung“ genannt werden. Unerwähnt läßt die Bundeswehr in diesem Zusammenhang die UCK, eine von der NATO vor ihrem Bombenkrieg hochgerüstete Truppe einer separatistischen Organisation der albanischen Bevölkerungsgruppe im Kosovo.

Weiter liest man auf der Propagandaseite der Bundeswehr: „Nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo am 17. Februar 2008 hat die NATO beschlossen, daß KFOR im Land bleiben soll.“ Hierzu ist anzumerken: Mit Rückendeckung der KFOR, also der NATO, ging nach dem Krieg die Vertreibung nichtalbanischer Bevölkerungsgruppen durch die albanischen Separatisten weiter, bis in den meisten Gebieten des Kosovo keine Serben, Roma, Türken, Ägypter und Juden mehr lebten. Die systematische Zerstörung der territorialen Integrität und Souveränität Jugoslawiens und Serbiens – schwerlich vereinbar mit dem Völkerrecht, namentlich mit der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) – führte zu einer Unabhängigkeitserklärung, die von den meisten Mitgliedsstaaten der UN, darunter Rußland und China, und sogar von einigen NATOMitgliedsstaaten bis heute nicht anerkannt ist.

Weiter im Bundeswehr-Text: „Im Juni 2008 einigte sich die NATO auf neue Aufgaben. Sie wird zukünftig die Entwicklung von professionellen, demokratischen und multiethnischen Sicherheitsstrukturen überwachen.“ Zur Erläuterung: Die unter Anleitung und Kontrolle der NATO entwickelten Militärstrukturen des Mini-Landes, die im wesentlichen auf die Bürgerkriegstruppe UCK zurückgehen, sind alles andere als multiethnisch. Die militärische Hauptmacht im Lande bleibt aber die NATO. Die riesige US-Basis Camp Bondsteel, die wie für die Ewigkeit gebaut zu sein scheint, hat Kapazitäten, die weit über die Beherrschung des Amselfeldes (Kosovo) hinausreichen. Englisch ist eine der drei Amtssprachen – neben Albanisch und Serbisch; letztere ist weitgehend verdrängt.

Das Desinteresse der deutschen Medien am Kosovo und an den dort eingesetzten deutschen Soldaten ist die logische Fortsetzung der Desinformation über den Angriffskrieg der NATO 1999 und dessen Vorgeschichte. Die Zerschlagung Jugoslawiens war schon seit langem erkennbares Ziel deutscher Außenpolitik gewesen. Der frühere Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz zum Beispiel hatte Jugoslawien als künstliches Gebilde bezeichnet, das als Ergebnis des Ersten Weltkrieges auf Dauer keinen Bestand haben werde. In diesem Sinne hatte dann Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher Slowenien und Kroatien als unabhängige Staaten anerkannt – entgegen massiven Warnungen des damaligen UN-Generalsekretärs und der westeuropäischen Verbündeten.

Letztlich entscheidend und das Schicksal Jugoslawiens besiegelnd waren die Bombenangriffe im Frühjahr 1999. Zu ihrer Rechtfertigung wurden Lügen von der Art gebraucht, wie sie jedem Krieg vorangehen: angebliche serbische Massaker in der Provinz Kosovo, ein angeblicher Plan zur Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo, ein angebliches KZ im Stadion der Kosovo- Hauptstadt Pristina und so weiter. Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping verbreitete immer gräßlichere Details, die ebenfalls allesamt frei erfunden waren. Die Medien übernahmen fast unterschiedslos die Propaganda des Ministers und des damaligen NATO-Sprechers in Brüssel, Jamie Shea. Belogen wurde die Öffentlichkeit auch über die angeblich fehlende Bereitschaft des jugoslawischen und serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic zu einer friedlichen Konfliktlösung (Geheimverhandlungen in Rambouillet).

Während des Bombenkriegs reiste ich mit einer Gruppe von Gewerkschaftskollegen unter dem Motto „Dialog von unten, statt Bomben von oben“ zu serbischen Kollegen in Novi Sad, Belgrad, Kragujevac, Nis und anderen Städten. Was wir sahen und miterlebten, unterschied sich wie Tag und Nacht von dem, was die deutschen Medien fast unisono „berichteten“. Wir trafen in Belgrad auch den damaligen ARD-Korrespondenten Klaus Below. Er war ausgerechnet während des Krieges kaum auf deutschen Bildschirmen zu sehen – aus dem einfachen Grunde, weil das, was er wahrheitsgemäß berichten konnte und wollte, der NATO-Propaganda und den Erwartungen der „Tagesschau“-Redaktion widersprach. Er erzählte uns das voller Empörung. Von den tatsächlichen Gründen und Zielen des Krieges, dem Verlauf und den Ergebnissen, den Opfern und Kosten erfuhr das deutsche Publikum nahezu nichts. Das serbische Fernsehen, das einen Eindruck von den Zerstörungen in weiten Teilen Serbiens und viele andere Informationen hätte vermitteln können, wurde auf Veranlassung des deutschen Außenministeriums von der Eutelsat-Zentrale in London abgeschaltet.

Bevor unsere Gruppe nach Serbien reiste, hatten wir unsere Absichten auf einer Pressekonferenz unter Mitwirkung von Inge und Walter Jens und anderen Prominenten mitgeteilt; es erschien kaum eine Zeile darüber. Zu einer Pressekonferenz nach unserer Rückkehr kamen mehr als 50 Journalisten, aber die meisten konnten bei den Blättern oder Sendern, für die sie arbeiteten, nichts unterbringen. Ein umfassender Bericht erschien in der Zweiwochenschrift „Ossietzky“, deren Mitherausgeber ich bin. Noch übler als uns erging es dem Schriftsteller Peter Handke, einem exzellenten Kenner des Balkans, der sich ebenfalls während des Krieges in Serbien umsah und wegen seiner zutreffenden Darstellungen wütend beschimpft wurde.

Durch diese Erfahrungen herausgefordert unternahmen mein Gewerkschaftskollege Rolf Becker, ein bekannter Schauspieler, und ich – er noch viel häufiger als ich – nach dem Krieg weitere Reisen, auch ins Kosovo, um Kriegsopfern zu helfen, vor allem aber um uns über ihre Lage zu informieren und um dann darüber in Deutsch land zumindest in Veranstaltungen berichten zu können.

Der Krieg hieß NATO-offiziell von Anfang an „Kosovo-Krieg“ – verfälschend und verharmlosend, weil damit von den immensen Bombenschäden in anderen Teilen Serbiens abgelenkt wurde. Aber selbstverständlich interessierten wir uns auch für die speziellen Kriegsfolgen im Kosovo. Gemeinsam mit Peter Handke hofften wir 2007, acht Jahre nach dem Krieg, endlich Aufmerksamkeit und Anteilnahme wecken zu können. Aktueller Anlaß für unser Engagement war das Geschrei, das sich im Düsseldorfer Stadtrat erhob, nachdem eine unabhängige Jury Handke den mit 50.000 Euro dotierten Heinrich-Heine-Preis der Stadt zugesprochen hatte. Er verzichtete unter diesen Umständen auf den Preis. Daraufhin vereinbarte ich mit Freunden, für einen alternativen Heinrich-Heine-Preis zu sammeln. In dem Aufruf (unterzeichnet u.a. von Rolf Becker, Esther Bejerano, Daniela Dahn, Arno Klönne, Otto Köhler, Werner Mittenzwei, Claus Peymann, Käthe Reichel, Karl-Heinz Roth, Peter Urban, Gerhard und Ingrid Zwerenz) hieß es: „Keiner der Verantwortlichen wurde für die Manipulationen und die Kriegspropaganda zur Rechenschaft gezogen, noch gab es jemals eine öffentliche Debatte darüber (auch nicht nach der verdienstvollen WDR-Sendung ‚Es begann mit einer Lüge‘ anderthalb Jahre nach dem Beginn der NATO-Bombenangriffe auf Jugoslawien), aber über den Heinrich-Heine-Preis an Peter Handke ereifern sich Medien und Politiker, die verbergen wollen, was er aufzudecken bemüht ist.“ Und wir zitierten Handke:

„Was weiß man, wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)Sehbeteiligung ist? Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jenes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann? Was weiß der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt oder, wie in den Fernsehnachrichten, ein Kürzel von einem Bild oder, wie in der Netzwelt, ein Kürzel von einem Kürzel?“

Handke schrieb uns:

„Ich bin berührt von Ihrer Geste, zugleich möchte ich aber beiseitestehen und sie, die Geste, vorbeilassen für etwas anderes, für ein Zeichengeben über mich hinaus. Warum also nicht ein Preisgeld, wenn es zustandekäme, an die serbischen Enklaven, die letzten, im Kosovo, übermitteln, an Dörfer, die, allseits umzingelt, im Elendstrichter von Europa vegetieren müssen, beschützt und bewacht von jenen Staaten, den westeuropäischen, die ihnen mit Bombengewalt den eigenen Staat = Jugoslawien geraubt, geraubschatzt haben?“

Es gelang uns, die 50.000 Euro (die er in Düsseldorf hätte bekommen sollen) zu sammeln, wozu viele Hunderte Spender beitrugen, teilweise mit kleinsten Beträgen. Handke entschied sich für die Ortschaft Velika Hoca. Rolf Becker, die Schauspielerin Käthe Reichel, der Intendant Claus Peymann, der viele Handke-Stücke inszeniert hatte, und ich reisten mit Peter Handke dorthin. Wir übergaben ihm am Ostermorgen 2007 das Preisgeld, er reichte es an die Verantwortlichen des Ortes weiter: eines rings von NATO-Stacheldraht umgebenen Serben-Dorfes, dessen Bewohner seit Jahren von vielen ihrer Felder und Weinberge abgeschnitten waren und in ständiger Angst vor Vertreibung lebten. Die meisten Jugendlichen sahen in ihrem Heimatort unter diesen Bedingungen keine Zukunft für sich, gingen für immer fort.

Serbische Medien berichteten ausführlich, auch in Österreich erschienen informative Artikel, in Deutschland brachte die „Zeit“ eine anschauliche Reportage, ansonsten waren hauptsächlich Gehässigkeiten mit geringem Wahrheitsbezug zu lesen. Wir mußten uns also eingestehen, daß wir gegen die Kriegsherrschaftspropaganda der weitgehend monopolisierten deutschen Medien nicht ankamen. Aber wir dokumentierten unsere Reise in einem „Ossietzky“-Sonderheft (Heft 15, vom 28.7.2007) Darin schilderten wir auch einen Besuch in Prizren, der Hauptstadt der deutschen Besatzungszone im Süden des Kosovo. Dort hatte es ein serbisches Wohnviertel gegeben. Wir wollten es besichtigen. Es war ebenfalls mit NATO-Stacheldraht umgeben, der aber nichts mehr schützte. Das ganze Viertel war niedergebrannt, ausgestorben.

Auf einer Hügelkuppe oberhalb des Viertels stand eine Kirche, die dem deutschen Militär als Geschützstand diente. Wir stiegen hinauf, sprachen mit den diensthabenden Soldaten. An dieser Stelle hatten sich in früheren Jahren führende deutsche Politiker gern filmen lassen und große Worte über die „humanitäre Mission“ der Bundeswehr in die Mikrofone gesprochen. Von hier aus überblickte man die ganze Stadt und vor allem das nahe Serbenviertel, dessen Bewohner vor Überfällen albanischer Separatisten geschützt werden sollten. Dennoch war das Viertel eines Nachts in Brand gesetzt worden, und die einzige Hilfe der Bundeswehr bestand in der Bereitschaft, die obdachlos gewordenen Serben wegzubringen, weg vom Kosovo in andere Teile Serbiens, wo sie seitdem als Flüchtlinge leben. Eine ethnische Säuberung unter Aufsicht des deutschen Militärs. Seitdem, so sagten uns die Soldaten, sei in Prizren und Umgebung alles ruhig. Die Gegend sei „serbenfrei“.

Dem Pogrom war, wie die Bundeswehr inzwischen in einer Chronik zusammenfaßte, Folgendes vorausgegangen: Im Norden des Kosovo, in der Stadt Kosovska Mitrovica, die südlich des Flusses Ibar von Albanern, nördlich größtenteils von Serben bewohnt ist, sei „es zu Unruhen und gewalttätigen Ausschreitungen gekommen“, die sich schnell über das ganze Kosovo ausbreiteten. Auslöser sei „der durch Verbreitung eines Gerüchtes entstandene Zorn gegen die serbische Minderheit“ gewesen. „Es wurde behauptet und verbreitet, Serben hätten albanische Kinder in den Fluß getrieben und diese wären in Folge dessen ums Leben gekommen. Eine von der UN-Mission im Kosovo eingesetzte Kommission kommt nach Abschluß der Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die serbische Bevölkerungsgruppe nicht für den Tod der Kinder verantwortlich ist.“

Aber in Deutschland hielt sich das Feindbild „die Serben“ – bis heute. Dreimal innerhalb eines Jahrhunderts (1914, 1941 und 1999) war Deutschland an Aggressionskriegen gegen Serbien beteiligt. Die dort im Zweiten Weltkrieg begangenen Kriegsverbrechen waren so ungeheuerlich, daß die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ sich ganz auf dieses Land und Weißrußland konzentrierte. Das größte Massaker auf dem Balkan war das in der serbischen Industriestadt Kragujevac, wo deutsche Soldaten an einem Oktobertag 1941 innerhalb weniger Stunden mehr als 7.000 Menschen erschossen. Ganze Schulklassen mußten mit ihren Lehrern antreten, um erschossen zu werden. Bei einem der schweren NATO-Bombenangriffe 1999 wurde auch die Gedenkstätte getroffen, die an dieses Massaker erinnerte. In Deutschland kennt kaum jemand den Namen Kragujevac, fast jeder aber den Namen Srebrenica, freilich ohne Kenntnis dessen, was in den 1990er Jahren tatsächlich in dieser bosnischen Stadt geschah, denn darüber haben die tonangebenden deutschen Medien einseitige, falsche Darstellungen verbreitet – bis heute. Mit Kosovo hat Srebrenica nicht das Geringste zu tun, außer daß es angeblich beweist, wie verbrecherisch die Serben sind, vor denen deswegen nun die Albaner geschützt werden müssen.

Beteiligt an den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg war die aus Kosovo-Albanern rekrutierte SS-Division „Skanderbeg“. Ich erwähne sie als eine der vielen schweren historischen Belastungen des Verhältnisses zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen. Es war eine große politische Leistung unter Tito und auch noch unter Milosevic, daß zwischen den Ethnien jahrzehntelang Ruhe und Frieden herrschte. Um so infamer war es, daß Deutschland in der 1990er Jahren wieder eine antiserbische Truppe von Kosovo-Albanern ausrüstete, die UCK, die die im Zweiten Weltkrieg eingeleitete gewaltsame Vertreibung von Serben und anderen Nichtalbanern aus dem Kosovo fortsetzte. Daß umgekehrt die rund 100.000 Albaner in der serbischen Metropole Belgrad immer unbehelligt blieben, ist eine der Tatsachen, die die antiserbische Propaganda in Deutschland niemals registrierte. Das Feindbild blieb, obwohl Serbien seit dem Sieg der NATO-Luftstreitkräfte fast alle geforderten Unterwerfungsakte leistete. Inzwischen ist der WAZ-Konzern, der Pressemonopolist im Ruhrgebiet sowie im östlichen Niedersachsen und in Thüringen, auch Meinungsführer in Serbien geworden. Die Sieger brauchen dieses Feindbild und all die Lügen, aus denen es zusammengesetzt ist, noch immer, um sich ihrer Schuld nicht stellen zu müssen. Das gilt in Deutschland nicht zuletzt für viele Sozialdemokraten und Grüne, deren Koalition unter Gerhard Schröder und Joseph Fischer Deutschland in den dritten antiserbischen Krieg geführt hat. Nicht zufällig empörten sich auch im Düsseldorfer Stadtrat vor allem Sozialdemokraten und Grüne über die Zuerkennung des Preises an Handke: Sie wünschten sich, daß nicht wahr sei, was er aus Jugoslawien zu berichten hatte. Noch nach dem Krieg setzten albanische Terroristen im Kosovo immer wieder serbische Kirchen und Klöster in Brand. Fast alle mittelalterlichen Heiligtümer der serbischorthodoxen Kirche standen hier, auf dem Amselfeld. Ein großer Teil von ihnen wurde niedergebrannt. Die Bewachung der restlichen ist jetzt eine Hauptaufgabe der KFOR; Dutzende Bundeswehr-Soldaten sind für den Schutz eines einzigen Klosters eingesetzt. Nachrichten von weiterer Zerstörung des dortigen christlichen Kulturerbes wären politisch unerwünscht.

Hat sich der Krieg, hat sich die militärische Besetzung des Kosovo für die albanische Bevölkerungsgruppe gelohnt? Ja – für die Kriminellen, die sich zurückgebliebenes Gut vertriebener Serben aneigneten. Ja auch für viele Zehntausende Albaner aus dem extrem armen Nachbarland Albanien, die sich inzwischen im Kosovo angesiedelt haben. Ja für alle insofern, als sie jetzt unabhängig von multiethnischen Institutionen in Belgrad sind. Aber nein: Herren im eigenen Land sind sie nicht geworden. Bisher ist das Kosovo faktisch ein Protektorat der NATO, der USA und der EU. Wirtschaftlich und sozial liegt das Ländchen am Boden, und nichts deutet darauf hin, daß es sich in absehbarer Zeit aufrichten könnte. Nahezu die Hälfte der Bevölkerung ist erwerbslos.

Bezeichnend: Die Bundeswehr berichtet auf Ihrer Website unter der Überschrift

„Wie werden die KFOR-Soldaten versorgt: (…) die Güter des täglichen Bedarfs einschließlich Lebensmittel werden hauptsächlich auf dem Landweg ins Kosovo gebracht. (…) Obst, Gemüse und Wasser in Trinkflaschen werden direkt aus den Erzeugerländern Mazedonien und Griechenland eingekauft.“

Früher lieferte Kosovo Lebensmittel in andere Teile Jugoslawiens. Und die riesigen Bodenschätze im Raum Kosovska Mitrovica waren Grundlage einer staatlich (mit starken Mitwirkungsrechten der Beschäftigten) betriebenen Industrie, die seit dem Krieg größtenteils stillgelegt ist. Über 90 Prozent der Waren, die in den Geschäften ausliegen, sind importiert.

Die „Deutsche Welle“ teilte im Februar 2010 in einem der seltenen Berichte aus dem Kosovo mit: „Im Kosovo gelten zwar europäischer Lebensstandard und europäische Preise, das Einkommen liegt dagegen auf einem afrikanischen Niveau.“ Der primitive Nationalismus, der in der Vergangenheit immer aufs Neue von außen angestachelt wurde, macht die Menschen auf Dauer nicht satt.

Was auf dem Balkan nottut, ist enge wirtschaftliche Kooperation der benachbarten Länder – eine Kooperation, wie sie einst in Jugoslawien nicht perfekt, aber einigermaßen funktionierte, aber durch den Krieg, durch die planmäßige Zerstückelung vorerst unmöglich gemacht wurde.

„Die erfolgreiche Mission auf dem Balkan macht zu Guttenberg deutlich mehr Freude als der Einsatz in Afghanistan – trotz des fehlenden Interesses in Deutschland. Aus dem Kosovo gibt es momentan nichts Negatives über die Bundeswehr zu berichten. Zwar blühen dort Korruption, Arbeitslosigkeit und Kriminalität, doch dafür trägt der deutsche Verteidigungsminister keine Verantwortung“,

meinte „Die Zeit“ im März 2010 nach dem Ministerbesuch in Prizren. Aber wer trägt Verantwortung wenn nicht hauptsächlich die deutsche Politik – bis heute?

Die KFOR, in der Deutschland gemeinsam mit den USA die führende Rolle spielt, ist und bleibt in Kosovo – aus geostrategischen Gründen, aber auch zur Verhinderung neuer Unruhen, die man jetzt nicht mehr brauchen kann. Mit Sorge denkt man an das für Herbst dieses Jahres zu erwartende Urteil des Internationalen Gerichtshofs über die Klage Serbiens gegen die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Das Urteil könnte entweder die Albaner oder die Serben oder beide enttäuschen und in Rage bringen. In diesem Jahr stehen auch noch große Feierlichkeiten der serbisch-orthodoxen Kirche im Kosovo bevor, von denen sich, wie man in der KFOR fürchtet, die muslimischen Albaner provoziert fühlen (oder auf die sie mit Provokationen reagieren) könnten. Gern würde die deutsche Politik noch ein weiteres Problem los, das ebenfalls eine Folge des von ihr angestachelten ethnischen Gegeneinanders im Kosovo ist: Rund 10.000 Roma aus dem Kosovo leben als lediglich geduldete Flüchtlinge in Deutschland, ständig von Abschiebung bedroht. Die Fraktion der Partei Die Linke im Bundestag fordert in einem aktuellen Antrag eine „dauerhafte Bleiberechtsregelung“ und erklärte zur Begründung:

„Keine andere Minderheit wird in Europa derart umfassend und massiv ausgegrenzt, verfolgt und diskriminiert wie die Roma, und nirgendwo ist die soziale, ökonomische und politische Situation der Roma derart verzweifelt und hoffnungslos wie in der Region Kosovo.“

Pro Asyl und andere Menschenrechtsgruppen wiesen jüngst in einem gemeinsamen Appell vor allem auf die in Deutschland geborenen oder aufgewachsenen Kinder hin, die hier ihre Heimat haben und für die Abschiebung Vertreibung bedeutet: Ihnen und ihren Familien müsse Deutschland „endlich einen rechtmäßigen Aufenthalt aus humanitären Gründen“ gewähren und sie von ihrer Angst befreien.